Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014)

Titel der Ausgabe 
Jahrbuch für Politik und Geschichte 5 (2014)
Weiterer Titel 
Schwerpunkt: 25 Jahre europäische Wende

Erschienen
Stuttgart 2014: Franz Steiner Verlag
Erscheint 
jährlich
ISBN
978-3-515-10912-3
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 52,00

 

Kontakt

Institution
Jahrbuch für Politik und Geschichte
Land
Deutschland
c/o
Redaktionsanschrift: Dr. Claudia Fröhlich Leibniz Universität Hannover Historisches Seminar Im Moore 11 30167 Hannover
Von
Franz, Albrecht

Themenschwerpunkt: 25 Jahre europäische Wende

Das moderne Europa hat gleich mehrere, große Teile des Kontinents und darüber hinaus prägende politische Umbrüche erlebt – und oft erlitten. Die Französische Revolution, der Aufstieg des modernen Verfassungsstaates, der Erste Weltkrieg inklusive die darin wurzelnden Revolutionen, Stalinismus, Nationalsozialismus, Faschismus, Vernichtungs- und Weltkrieg, Völkerverschiebungen, Teilung des Kontinents durch den Kalten Krieg, die Entwicklung zur westeuropäischen EG – und die Wende des Jahres 1989, die sich nun zum 25. Mal jährt, haben Europas Weg in die und aus der Moderne umfassend bestimmt. Derlei epochale Einschnitte wälzen das Soziale, Ökonomische, Politische und Kulturelle der betreffenden Gesellschaften um. Die Tiefe des Einschnitts in gesellschaftliche Strukturen war dabei stets auch ein Maß für die Prägung der Erinnerungen und Gedächtnisse.

So wie die Jahreszahlen 1789, 1914/17/18, 1933 und 1945 zu weltgeschichtlichen Symbolen geronnen sind, hat auch 1989 längst diesen Status angenommen. Aus der Sicht der unruhigen Jahre 2013 und 2014 muss freilich noch unklar bleiben, ob die verbreitete Deutung von 1989/91 als das Ende des Kalten Krieges und Sieg des westlichen Demokratie- und Gesellschaftsmodells nur dem großen historischen Moment geschuldet war oder womöglich zutreffender als eine Atempause mit anschließender Neudefinition westlicher und östlicher Machtsphären zu verstehen ist. Das von manchen als europäisches Wunder etikettierte Jahr 1989 haben jedenfalls die zuvor unterdrückten Länder des vormaligen sowjetischen Machtbereichs nahezu ungeteilt als Jahr der Wiederkehr der Freiheit begriffen. Gewiss, die Befreiung von sozialistischer Einheitsdiktatur, Geheimpolizei und sowjetischem Einfluss verlief in den einzelnen Gesellschaften unterschiedlich, aber am Ende stand die Abschüttelung staatlichen Terrors, der jahrzehntelangen politischen Verfolgung und Repression, persönlichen Bevormundung und ökonomischen Gängelung. Diese Emanzipationsgeschichte war in großen Teilen das Ergebnis mutigen öffentlichen Engagements und Aufbegehrens gegen die zuvor scheinbar allmächtige Staatsmacht. Conditio sine qua non freilich war die von Michail Gorbatschow negierte Breschnew-Doktrin und der innere, zumal ökonomische Zerfall der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten. Der Verzicht auf militärische Intervention, die bis dato alle Aufstände in Ost- und Ostmitteleuropa zunichte gemacht hatte, öffnete den Freiheitsbewegungen in Polen, der DDR, in Rumänien, Bulgarien, Ungarn der Tschechoslowakei und in den baltischen Staaten das entscheidende Tor. 1989 steht für die Wiedervereinigung Europas im Zeichen freiheitlich demokratischer, marktliberaler Gesellschaften. Aber es wäre Geschichtsklitterung, dieses Datum und vor allem die darauf folgenden Jahre nur positiv zu zeichnen. Die radikalen gesellschaftlichen Transformationen, die den demokratischen Freiheitsbewegungen folgten, haben nicht nur Diktaturen gestürzt und ihre Eliten – zumindest zeitweise – entmachtet, sondern auch Biografien entwurzelt, Lebensentwürfe zunichte gemacht, selbstverständlichen Orientierungen den Boden entzogen und soziale Spaltungen provoziert.

Diese so durchaus ambivalente Wende hat seither auch die europäische Gedächtnislandkarte durcheinandergewürfelt. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – Willy Brandts vielzitiertes Diktum vom November 1989 war auf Deutschland bezogen; doch weil mit dem Ende der deutschen Teilung auch die Teilung Europas an ihr Ende gekommen war, war damit auch der europäische und welthistorische Epochenbruch bezeichnet. Doch heute zeigt sich deutlicher als vor 25 Jahren: Was jahrzehntelang politisch-ideologisch getrennt und gespalten war, fügte sich erinnerungskulturell nicht einfach zusammen, sondern spiegelte die zentralen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in scharfen Kontrasten. Nationalsozialismus- und Holocaust-Fokussierung Westeuropas sahen sich konfrontiert mit der weitaus längeren und noch nahen Erfahrung von Stalinismus, Gulag und Geheimpolizei. Die osteuropäische Wende zu westlich geprägten Staats- und Gesellschaftsformationen begleitete ein zunächst eher untergründiger geschichts- und identitätspolitischer Gegensatz, der insbesondere nach der Osterweiterung der EU von 2004 in einem offenen Gedächtniskonflikt kulminierte.

Diese, von der Forschung inzwischen als clash of cultures of remembrance (Stefan Troebst) bezeichnete Auseinandersetzung schwelt seit 1989 und kam in den vergangenen Jahren bereits verschiedentlich zum Ausbruch. Auch das JPG hat das Thema aufgegriffen. Die 25. kalendarische Wiederkehr des europäischen Umbruchs ist nun Anlass genug, im Schwerpunkt diesem Geschichtsbild- und Gedächtniskonflikt nachzugehen. Fragen politisch-kultureller Zugehörigkeit, gebrochener Erinnerung und der Suche nach gemeinsamen historischen Wurzeln sowie nach tragfähigen Umgangsformen mit divergierenden historischen Identitäten bilden einen Fokus des Schwerpunkts.

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Seite 5–11
Claudia Fröhlich, Harald Schmid, Birgit Schwelling
Editorial

Seite 15–41
Stefan Troebst
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
Anläufe der Europäischen Union zur Stiftung einer erinnerungsbasierten Bürgeridentität

Seite 43–65
Arnd Bauerkämper
Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur?
Der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die stalinistischen Verbrechen im Gedächtnis der Europäer seit 1945

Seite 67–84
Harald Wydra
Europäische Hintergründe des Vergessens in Ost und West

Seite 85–106
Ljiljana Radonic
Postsozialistische Gedenkmuseen zwischen nationalen Opfernarrativen und der „Europäisierung der Erinnerung“

Seite 107–120
Bettina Greiner
Ohne „Schmerzensspur“
Stalinistische Verfolgung und Haft in Deutschland

Atelier & Galerie

Seite 123–142
Erika Doss
Transnational 9/11 Memorials
American Exceptionalism and Global Memories of Terrorism

Seite 143–172
Bianca Roitsch / Anette Blaschke
Ein fotografischer Blick auf die innerdeutsche Grenze
Der „Augensinn“ westdeutscher Zollbeamter zwischen den 1950er und 1980er-Jahren

Seite 173–187
Manuel Becker
„Geschichte als Argument“
Ein Stiefkind der neueren geschichtspolitischen Forschung

Aktuelles Forum

Seite 191–203
Peter Steinbach
Kein Abgesang!
Historische Grundlagen der Politik. Abschiedsvorlesung, gehalten an der Universität Mannheim am 18. September 2013

Seite 205–214
Uwe Bader
Die Rheinwiesenlager
Eine Herausforderung für die historisch-politische Bildungsarbeit in Rheinland-Pfalz

Fundstück

Seite 217–221
Harald Schmid
Einführung

Seite 223–243
Joe Perry
The Madonna of Stalingrad
Mastering the (Christmas) Past and West German National Identity after World War II.

Forschungsbericht

Seite 247–265
Volker Depkat
Autobiografie und Biografie im Zeichen des Cultural Turn

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