Themenschwerpunkt: 25 Jahre europäische Wende
Das moderne Europa hat gleich mehrere, große Teile des Kontinents und darüber hinaus prägende politische Umbrüche erlebt – und oft erlitten. Die Französische Revolution, der Aufstieg des modernen Verfassungsstaates, der Erste Weltkrieg inklusive die darin wurzelnden Revolutionen, Stalinismus, Nationalsozialismus, Faschismus, Vernichtungs- und Weltkrieg, Völkerverschiebungen, Teilung des Kontinents durch den Kalten Krieg, die Entwicklung zur westeuropäischen EG – und die Wende des Jahres 1989, die sich nun zum 25. Mal jährt, haben Europas Weg in die und aus der Moderne umfassend bestimmt. Derlei epochale Einschnitte wälzen das Soziale, Ökonomische, Politische und Kulturelle der betreffenden Gesellschaften um. Die Tiefe des Einschnitts in gesellschaftliche Strukturen war dabei stets auch ein Maß für die Prägung der Erinnerungen und Gedächtnisse.
So wie die Jahreszahlen 1789, 1914/17/18, 1933 und 1945 zu weltgeschichtlichen Symbolen geronnen sind, hat auch 1989 längst diesen Status angenommen. Aus der Sicht der unruhigen Jahre 2013 und 2014 muss freilich noch unklar bleiben, ob die verbreitete Deutung von 1989/91 als das Ende des Kalten Krieges und Sieg des westlichen Demokratie- und Gesellschaftsmodells nur dem großen historischen Moment geschuldet war oder womöglich zutreffender als eine Atempause mit anschließender Neudefinition westlicher und östlicher Machtsphären zu verstehen ist. Das von manchen als europäisches Wunder etikettierte Jahr 1989 haben jedenfalls die zuvor unterdrückten Länder des vormaligen sowjetischen Machtbereichs nahezu ungeteilt als Jahr der Wiederkehr der Freiheit begriffen. Gewiss, die Befreiung von sozialistischer Einheitsdiktatur, Geheimpolizei und sowjetischem Einfluss verlief in den einzelnen Gesellschaften unterschiedlich, aber am Ende stand die Abschüttelung staatlichen Terrors, der jahrzehntelangen politischen Verfolgung und Repression, persönlichen Bevormundung und ökonomischen Gängelung. Diese Emanzipationsgeschichte war in großen Teilen das Ergebnis mutigen öffentlichen Engagements und Aufbegehrens gegen die zuvor scheinbar allmächtige Staatsmacht. Conditio sine qua non freilich war die von Michail Gorbatschow negierte Breschnew-Doktrin und der innere, zumal ökonomische Zerfall der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten. Der Verzicht auf militärische Intervention, die bis dato alle Aufstände in Ost- und Ostmitteleuropa zunichte gemacht hatte, öffnete den Freiheitsbewegungen in Polen, der DDR, in Rumänien, Bulgarien, Ungarn der Tschechoslowakei und in den baltischen Staaten das entscheidende Tor. 1989 steht für die Wiedervereinigung Europas im Zeichen freiheitlich demokratischer, marktliberaler Gesellschaften. Aber es wäre Geschichtsklitterung, dieses Datum und vor allem die darauf folgenden Jahre nur positiv zu zeichnen. Die radikalen gesellschaftlichen Transformationen, die den demokratischen Freiheitsbewegungen folgten, haben nicht nur Diktaturen gestürzt und ihre Eliten – zumindest zeitweise – entmachtet, sondern auch Biografien entwurzelt, Lebensentwürfe zunichte gemacht, selbstverständlichen Orientierungen den Boden entzogen und soziale Spaltungen provoziert.
Diese so durchaus ambivalente Wende hat seither auch die europäische Gedächtnislandkarte durcheinandergewürfelt. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – Willy Brandts vielzitiertes Diktum vom November 1989 war auf Deutschland bezogen; doch weil mit dem Ende der deutschen Teilung auch die Teilung Europas an ihr Ende gekommen war, war damit auch der europäische und welthistorische Epochenbruch bezeichnet. Doch heute zeigt sich deutlicher als vor 25 Jahren: Was jahrzehntelang politisch-ideologisch getrennt und gespalten war, fügte sich erinnerungskulturell nicht einfach zusammen, sondern spiegelte die zentralen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in scharfen Kontrasten. Nationalsozialismus- und Holocaust-Fokussierung Westeuropas sahen sich konfrontiert mit der weitaus längeren und noch nahen Erfahrung von Stalinismus, Gulag und Geheimpolizei. Die osteuropäische Wende zu westlich geprägten Staats- und Gesellschaftsformationen begleitete ein zunächst eher untergründiger geschichts- und identitätspolitischer Gegensatz, der insbesondere nach der Osterweiterung der EU von 2004 in einem offenen Gedächtniskonflikt kulminierte.
Diese, von der Forschung inzwischen als clash of cultures of remembrance (Stefan Troebst) bezeichnete Auseinandersetzung schwelt seit 1989 und kam in den vergangenen Jahren bereits verschiedentlich zum Ausbruch. Auch das JPG hat das Thema aufgegriffen. Die 25. kalendarische Wiederkehr des europäischen Umbruchs ist nun Anlass genug, im Schwerpunkt diesem Geschichtsbild- und Gedächtniskonflikt nachzugehen. Fragen politisch-kultureller Zugehörigkeit, gebrochener Erinnerung und der Suche nach gemeinsamen historischen Wurzeln sowie nach tragfähigen Umgangsformen mit divergierenden historischen Identitäten bilden einen Fokus des Schwerpunkts.
INHALT
Seite 5–11 Claudia Fröhlich, Harald Schmid, Birgit Schwelling Editorial
Seite 15–41 Stefan Troebst Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik? Anläufe der Europäischen Union zur Stiftung einer erinnerungsbasierten Bürgeridentität
Seite 43–65 Arnd Bauerkämper Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur? Der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die stalinistischen Verbrechen im Gedächtnis der Europäer seit 1945
Seite 67–84 Harald Wydra Europäische Hintergründe des Vergessens in Ost und West
Seite 85–106 Ljiljana Radonic Postsozialistische Gedenkmuseen zwischen nationalen Opfernarrativen und der „Europäisierung der Erinnerung“
Seite 107–120 Bettina Greiner Ohne „Schmerzensspur“ Stalinistische Verfolgung und Haft in Deutschland
Atelier & Galerie
Seite 123–142 Erika Doss Transnational 9/11 Memorials American Exceptionalism and Global Memories of Terrorism
Seite 143–172 Bianca Roitsch / Anette Blaschke Ein fotografischer Blick auf die innerdeutsche Grenze Der „Augensinn“ westdeutscher Zollbeamter zwischen den 1950er und 1980er-Jahren
Seite 173–187 Manuel Becker „Geschichte als Argument“ Ein Stiefkind der neueren geschichtspolitischen Forschung
Aktuelles Forum
Seite 191–203 Peter Steinbach Kein Abgesang! Historische Grundlagen der Politik. Abschiedsvorlesung, gehalten an der Universität Mannheim am 18. September 2013
Seite 205–214 Uwe Bader Die Rheinwiesenlager Eine Herausforderung für die historisch-politische Bildungsarbeit in Rheinland-Pfalz
Fundstück
Seite 217–221 Harald Schmid Einführung
Seite 223–243 Joe Perry The Madonna of Stalingrad Mastering the (Christmas) Past and West German National Identity after World War II.
Forschungsbericht
Seite 247–265 Volker Depkat Autobiografie und Biografie im Zeichen des Cultural Turn