Historische Sozialkunde 45 (2015), 1

Titel der Ausgabe 
Historische Sozialkunde 45 (2015), 1
Weiterer Titel 
Landgrabbing. Globale Kontexte und regionale Fallstudien

Erschienen
Erscheint 
vierteljährlich
Anzahl Seiten
48 S.
Preis
€ 6,-

 

Kontakt

Institution
Historische Sozialkunde: Geschichte, Fachdidaktik, politische Bildung
Land
Austria
c/o
Die Zeitschrift wurde Ende des Jahres 2018 eingestellt. Der "Verein für Geschichte und Sozialkunde" ist seit Juni 2019 aufgelöst. Ein Kontakt zu den ehemaligen Herausgebern ist nicht mehr möglich.
Von
Fuchs, Eduard

Landgrabbing – die großflächige, zumeist transnationale, Aneignung von Land durch private oder staatliche Akteure – hat in den vergangenen Jahren insbesondere vor dem Hintergrund der kapitalistischen Vielfachkrise von Ernährung, Klima, Energie und Finanzen, an Aktualität gewonnen. Konkret machte die Nichtregierungsorganisation GRAIN (Genetic Resources Action International) mit ihrem Report „Seized! The 2008 land grab for food and financial security“ auf das Phänomen aufmerksam, das seither sowohl in Medien und journalistischen Publikation, ebenso wie in akademischen Kreisen ein großes Maß an Aufmerksamkeit erfahren hat. Der englische Begriff Landgrabbing, der sich auch in der deutschsprachigen Literatur durchgesetzt hat, lässt sich zu Deutsch mit Landnahmen übersetzen.

Landnahmen sind allerdings keineswegs ein Phänomen der jüngeren Gegenwart, sondern in unterschiedlichsten Formen immer Teil historischer Prozesse gewesen. So kam es etwa im Rahmen von kolonialen Eroberungsprozessen in den Amerikas, Australien und Ozeanien, aber auch in Afrika, zu Landnahmen, in deren Zuge indigene Eigentumsrechte systematisch verneint wurden. Insbesondere in den Siedlerkolonien im Südlichen Afrika fanden Landenteignungen großen Ausmaßes statt, deren Vorgangsweise in mehrerlei Hinsicht an Landnamen der Gegenwart erinnern. Nicht selten wird Landgrabbing daher als Ausdruck einer neuen Form des Imperialismus gedeutet. Landnahmen wurden jedoch ebenso im Rahmen von postkolonialen Landreformen oder Protesten gegen deren Art der (Nicht)Durchführung vorgenommen. Der jeweilige politische Kontext scheint für das Auftreten von Landnahmen dabei nur wenig ausschlaggebend zu sein, wurde und wird Land doch sowohl unter autoritären Regimen als auch unter demokratisch legitimierten Regierungen enteignet. Auch sind die gegensätzlichen Prozesse von Verstaatlichung und Privatisierung beide vielerorts mit Landnahmen verbunden. In gewisser Hinsicht können beide Prozesse als Wegbereiter des aktuellen Landgrabbing betrachtet werden, da sie Land im Besitz von verschiedenen Bevölkerungsgruppen in staatliche Systeme integrieren und damit dem Zugriff des Staates, unterstellen. Dieser wiederum überträgt das Land anderen staatlichen oder privaten Akteuren, oftmals ohne auf die Rechte der ansässigen Bevölkerung Rücksicht zu nehmen, die häufig als Hindernis für eine effiziente und/oder ökologisch sinnvolle Nutzung des Bodens wahrgenommen wird. Dies gilt sowohl für die sozialistischen Regime in der Sowjetunion und China, wo die Ländereien von Kleinbauern und -bäuerinnen im Zuge der Kollektivierung eingenommen wurden, als auch für gegenwärtige Landenteignungen durch private Investoren und Regierungen (vgl. Englert/Gärber 2014: 7ff.).

Dieses Themenheft komplementiert den Band „Landgrabbing. Landnahmen in historischer und globaler Perspektive“, der 2014 in der Reihe Historische Sozialkunde / Internationale Entwicklung erschienen ist. Darin sind zahlreiche Fallstudien enthalten, deren AutorInnen aus unterschiedlichen Disziplinen kommend, verschiedene geographische und politische Kontexte sowie Akteure beleuchten und dabei mehrheitlich auch die historische Dimension von Landnahmen in den Blick nehmen. Das vorliegende Themenheft stellt hingegen vor allem die gegenwärtigen Entwicklungen in den Mittelpunkt der Analyse und ergänzt die Fallstudien des Bandes sowohl in regionaler als auch in thematischer Hinsicht.

Im ersten Beitrag diskutiert Philipp Salzmann „Landgrabbing im neoliberalen Nahrungsregime“ aus einer politökonomischen Perspektive. Ausgehend von einem Food-Regime Ansatz thematisiert er zunächst die Rahmenbedingungen der globalen Nahrungsmittelproduktion und veranschaulicht am Beispiel der Neoliberalisierung der Agrarpolitik Ugandas, wie sich diese in nationale Kontexte einschreiben und Landnahmen begünstigen. Anhand eines konkreten Fallbeispiels aus Zentral-Uganda verdeutlicht er außerdem die zahlreichen negativen Auswirkungen von Landgrabbing auf die Nahrungssicherheit der betroffenen Bevölkerung.

Der zweite Beitrag ist ebenfalls Uganda gewidmet, nimmt allerdings andere Kontexte sowie eine andere Region in den Blick. Konkret beschäftigt sich Barbara Gärber mit Landnahmen und Landkonflikten im Spannungsfeld von Naturschutz, Minenbau und Landwirtschaft in der nomadisch geprägten Region Karamoja im Nordosten des Landes. In ihrer Analyse berücksichtigt sie nicht nur die Rolle der Regierung und (inter-)nationaler Investoren, sondern geht insbesondere auch auf lokale und familiäre Kontexte ein und zeigt auf, inwiefern Landnahmen Frauen und Männer in unterschiedlicher Weise betreffen. Zahlreiche Ausschnitte aus Interviews sowie ein konkretes Fallbeispiel veranschaulichen die Ausführungen.

Dass beide Fallstudien zu Afrika sich auf dasselbe Land beziehen, unterstreicht einerseits die Heterogenität der meisten afrikanischen Staaten, und weist andererseits auf die unterschiedlichen Motive hinter Landnahmen hin. Zumeist werden wirtschaftliche Argumente zur Rechtfertigung von Landgrabbing herangezogen und Landnahmen als notwendige Entwicklungsmaßnahme präsentiert, wie dies auch im ersten Beitrag deutlich wurde. Die Fallstudie zu Karamoja veranschaulicht jedoch, dass Landnahmen ebenso aus Gründen des Naturschutzes durchgeführt werden – ein Aspekt, der in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich weniger präsent ist.
Wenig überraschend führt Landgrabbing vor allem auf der lokalen Ebene zu zahlreichen Konflikten zwischen der betroffenen Bevölkerung und den agierenden VertreterInnen von privaten Unternehmen aber auch Regierungen, die entweder selbst Landnahmen durchführen oder diese durch die Schaffung der Rahmenbedingungen begünstigen.

Landgrabbing kann jedoch auch bestehende Konflikte begünstigen, wie dies etwa in Kolumbien der Fall ist, wo Landnahmen maßgeblich zu einer Verschärfung des langjährigen Bürgerkriegs beigetragen haben und oftmals mit zahlreichen Menschenrechtsverletzungen einhergehen. Wie Mirjam Ohr in ihrem Beitrag „Landgrabbing im Kontext von Konflikten“ ausführt, vertrieben Paramilitärs in der Vergangenheit Millionen von Menschen von ihrem Land, um dieses für die Errichtung von Ölpalmenplantagen freizumachen, deren Erträge gewinnbringend am Weltmarkt veräußert werden und somit die fortwährende Finanzierung des Konflikts ermöglichen. Die Landnahmen bleiben jedoch nicht ohne Widerstand der Bevölkerung, die insbesondere von Nichtregierungsorganisationen in ihrem Kampf um Land unterstützt wird.

Entgegen weitverbreiteten Annahmen, ist Landgrabbing nicht ausschließlich in Ländern des globalen Südens anzutreffen, sondern auch in europäischen Kontexten aktuell, wie Christina Plank in ihrem Beitrag mit Fokus auf die Ukraine erörtert. Sie skizziert die Landnahmen durch ukrainische Oligarchen und internationale Investoren und zeigt auf, wie diese vor dem Hintergrund der Bodenreform und der damit verbundenen Privatisierung von Anbauflächen zunehmend die Kontrolle über die ukrainische Landwirtschaft übernehmen.

Abschließend diskutiert der Beitrag von Andreas Exner und Werner Zittel Landgrabbing vor dem Hintergrund der Vielfachkrise und zunehmenden Verknappung der fossilen Ressourcenbasis. Konkret erörtern die beiden Autoren die globalen Charakteristika der Vielfachkrise und zeigen auf, weshalb insbesondere angesichts der steigenden Bedeutung erneuerbarer Energieträger der Zugang zu Land immer stärker umkämpft ist.

Der Beitrag zur Fachdidaktik von Heinrich Ammerer widmet sich der Aufbereitung von Landgrabbing als Thema des Politikunterrichts. Anhand von zahlreichen Illustrationen, Textausschnitten und Arbeitsaufgaben werden die Schülerinnen und Schüler aufgefordert, sich unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektiven auf Landnahmen eine fundierte und differenzierte Meinung zu dem Phänomen zu erarbeiten. Die Abhaltung einer Podiumsdiskussion ermöglicht anschließend den Vergleich der verschiedenen Standpunkte und soll die gemeinsame Erarbeitung möglicher Lösungsansätze anregen.

Barbara Gärber / Birgit Englert

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Barbara Gärber / Birgit Englert
Editorial, S 2–3

Philipp Salzmann
Landgrabbing im neoliberalen Nahrungsregime und die Nahrungsunsicherheit von Kleinbauern/-bäuerinnen in Uganda, S 4–10

Barbara Gärber
Pastoralismus, sozialer Wandel und umkämpfte Landflächen in Karamoja, Uganda, S 11–18

Mirjam Ohr
Landgrabbing im Kontext von Konflikten. Das Beispiel Kolumbien,
S 19–25

Christina Plank
Landgrabbing in der Ukraine. Ukrainische Oligarchen und internationale Investoren, S 25–30

Andreas Exner/Werner Zittel
Landgrabbing und die Grenzen des fossilen Systems, S 31–36

Fachdidaktik

Heinrich Ammerer
Landgrabbing als Thema des Politikunterrichts. Wem gehört die Welt?
S 37–45

Weitere Hefte ⇓