Zu diesem Heft
Rezensionsaufsätze
Angesichts der gegenwärtigen Zeitläufte – vor allem aber angesichts des katastrophalen 20. Jahrhunderts, das zeigt, dass die heutige “Unvernunft“ nicht singulär ist -kommt der Frage nach „Vernunft und Rationalität“ aus ganz verschiedenen Perspektiven eine besondere Bedeutung zu. Gerhard Döring rekonstruiert in einem großformatigen und weitgreifenden Vorgehen den Inhalt einer großen Studie zum Thema, entfaltet deren Leitmotive und wesentliche Argumentationsfiguren auf kritische Weise, diskutiert entscheidende Ergebnisse und erweitert dies durch eigene konzeptionelle Überlegungen. Dabei vermittelt er Problemstellungen der Thematik in historischer und systematischer Weise, legt besonderen Nachdruck auf Fragen nach dem Zusammenhang von Gesellschaftsformation und Weltsicht (dabei kommt der Betonung der Bedeutung Griechenlands und außereuropäischer Kulturen ein besonderes Gewicht zu). Fragen von Vernunft und Unvernunft in historischer wie systematischer Absicht spielen auch eine wesentliche Rolle im Text von Hartmut Rübner, der neuere Veröffentlichungen zu den disziplinär wie gesellschaftsanalytisch bedeutsamen politischen Psychologen Peter Brückner und Wilhelm Reich vorstellt. Thematisch wird hier die immer wieder herausfordernde Frage nach möglichen Zusammenhängen zwischen individueller Befreiung und gesellschaftlicher Emanzipation in einer – gesamtgesellschaftlich betrachtet – unvernünftigen Gesellschaftsformation, dem Kapitalismus. In der Vermittlung von Marxismus und Psychologie haben beide Autoren eine Antwort gesucht und haben beide Antworten der gesellschaftlich herrschenden Kräfte erlitten.
Mit einer, wenn man so will, „Spezialthematik“ im Kontext der Frage von Gesellschaft, Lebensführung und Vernunft ist der Beitrag von Claus Ehrhardt befasst, wenn er die Ergebnisse eines Bandes über „Sprache der Generationen“ diskutiert. Hier interessiert die Frage, ob und wie linguistische Konzepte und Methoden sinnvoll für ein besseres Verständnis der Differenzen zwischen Generationen, dem Prozess der Konstitution von Generationen und der Kreation neuer generationaler Identitäten eingesetzt werden können. Der sprachwissenschaftliche Beitrag, so zeigt sich, zu dieser Diskussion sollte nicht unterschätzt werden.
Peter Dudek zeigt die Bedeutung der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft Ost“ als Beitrag zur „sozialen Mission im dunklen Berlin 1911 – 1933“ auf, die in ihrem Selbstverständnis und Ertrag eine besondere Symbiose von bildungsbürgerlichen Elitedenken und protestantische Missionseifer verkörpert, was denn auch ihre pädagogische Praxis einer aufsuchenden Jugendarbeit bestimmte und angeleitete. Deutlich wird, wie die Protagonisten dieser Arbeitsgemeinschaft an einer Brücke zwischen den „Gebildeten“ und ihrem „Volk“ bauen wollten. In der Rekonstruktion von Praxis und Idee werden für die Soziale Arbeit insgesamt wichtige Einblicke vermittelt – nicht nur in Bezug auf die Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums und ihrer Funktion im Kontext Sozialarbeit.
Dem Sozialen auf der Spur ist auch Klaus Kraimer, wenn er sich mit der neuesten Publikation zum sozialpädagogischen Verstehen auseinandersetzt. Als Verteidigung von Sozialpädagogik gedacht, geht es um eine Weiterentwicklung einer Methodologie von Fallverstehen, die angesichts politischer, psychologischer und soziologischer Übergriffe auf den Gegenstandbereich der Pädagogik als dringlich erscheint.
Sammelbesprechung
„Unvernunft“ in einer besonders widerwärtigen Form, die dann auch noch in einem technischen Sinne besonders „rational“, weil Zweck-Mittel bezogen, scheint, erfahren wir – meistens nur randständig, also als Zuschauer – in dem, was „Folter“ als besondere Form von Gewalt genannt wird. Dies nicht nur, weil gegenwärtig im Nahen Osten offensichtlich auf allen Seiten davon Gebrauch gemacht wird und der US-Imperialismus mit seinem Vorgehen dorten wie auch in Guantanamo sein „hässliches Gesicht“ besonders eindringlich zeigt, so dass Fragen politischer Moral – als ein möglicher Ausdruck von „Vernunft“ – auf der Strecke bleiben. Jochem Kotthaus nimmt das Erscheinen einiger Bücher zum Thema „Folter im politischen Film“ zum Anlass, uns mit diesem Problem zu konfrontieren.
Forschungsbericht
Die Alternative zur Herrschaft der Unvernunft bzw. deren stetiger Reproduktion könnte in der Durchsetzung von „Kinderrechten“ liegen, wenn denn die Betonung der Bedeutung von Kinderrechten sich nicht als rhetorischer Trick in Alltagsleben und Politik erweist sondern als real und wirksam für die Qualität von individuellem und gesellschaftlichem Leben der nachwachsenden Generation. Sabina Schutter stellt den Ertrag wesentlicher Forschungsbeiträge zur Frage nach Kinderrechten unter den Titel „von rhetorischer Wirksamkeit zur Wirkungsmessung“ und vermittelt damit erste Einsichten in die verschiedenen Elemente eines Diskurses, in dem tatsächlich unter anderem im Kontext eines Indikatoren-Ansatzes die Verbesserung des Lebens der Kinder weltweit – im Anschluss an die Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention vor 25 Jahren – thematisch wird. Deutlich wird dabei, dass es allen guten Absichten zum Trotz immer noch an dieser Verallgemeinerung, die eine Politik mit allen Kindern und für das Wohlergehen aller Kinder impliziert, mangelt.
Essays
Es könnte sein, dass – wie Etienne de La Boétie geschrieben hat – die Entschlossenheit des Willens zur Knechtschaft, zur freiwilligen Unterwerfung unmittelbar mit der häufig anzutreffenden Herrschaft der Unvernunft in der Geschichte verknüpft ist. Von daher ist der Text, den Ljiljana Filipovic über diesen Autor und sein Hauptwerk hier vorstellt, von großer Aktualität. Nicht nur erstaunt diese unglaubliche Synchronität von La Boétie’s Verständnis der das Denken lähmenden Konformität des 16. Jahrhunderts und unserer Zeit, in welcher sie durch den medialen Missbrauch eines machtvollen Mediums der politischen Manipulation noch gesteigert wurde, sondern dass trotz solcher Einsichten sehr selten dagegen dagegen rebelliert wird. Die (vor)herrschende Leere des allgemeinen Lebens wird noch nicht einmal als Knechtschaft wahrgenommen oder als wichtig erachtet; geschuldet ist dies wohl dem, was wir Konsum Kapitalismus nennen. Einem anderen „großen“ Aufständischen gegen Knechtschaft – ob freiwillig oder gezwungen – gilt die Erinnerung von Sebastian Voigt. Am Beispiel von Jakob Moneta, einem für die gesamte deutsche Arbeiterbewegung bedeutenden jüdischen Gewerkschaftler, entfaltet er das Leben – in seinen vielfachen Bewegungen – eines Gewerkschafters, dessen Hauptinteresse der Emanzipation aller Menschen galt. Da er vor kurzem 100 Jahre alt geworden wäre (gestorben ist er im Alter von 97 Jahren 2012), bietet es sich an, seine Wege von Ostgalizien nach Köln, von Palästina zurück nach Köln, von Paris zurück nach Deutschland zu verfolgen und in die großen politischen Kontexte und diversen Auseinandersetzungen um Gewerkschaftspolitik – gerade auch weil er lange Jahre wichtige Funktionen in der IG-Metall übernommen hat – einzubetten wie auf seine Bedeutung für heutige Diskussionen hin zu befragen.