Editorial
Ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit am 3. Oktober 1990 die Deutsche Demokratische Republik ihren Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes vollzog – ein Staat verschwand von der Landkarte. Ein neuer Rechtsraum entstand.
Markiert die Wiedervereinigung aber auch eine Zäsur in der Rechtswissenschaftsgeschichte? Wie hat sich die Rechtswissenschaft in Deutschland in diesen 25 Jahren entwickelt: in Jahrzehnten, die zugleich von einer dynamischen Globalisierung, vor allem aber durch Digitalisierung und Ökonomisierung des Rechts- wie auch des Wissenschaftssystems gekennzeichnet sind? – Am Max-Planck-Institut haben wir uns mit dieser Frage seit einigen Monaten im Gespräch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichen juristischen Teildisziplinen beschäftigt. In diesem Zusammenhang ist auch der Beitrag von Julian Krüper entstanden, in dem er einleitend die Frage nach der Möglichkeit einer Zeitgeschichte der Verfassungsrechtswissenschaft stellt, einen weiten Überblick über die Debatten gibt und diese nicht zuletzt auf den Begriff des ›Abschieds vom Interim‹ bringt.
Im Fokus dieses Hefts geht es ebenfalls um die Veränderung von Rechtsräumen: im ersten Jahrtausend und im 19. und 20. Jahrhundert. Die zehn Beiträge stammen aus unterschiedlichen Kontexten. Sie verbindet das Nachdenken über ›Rechtsräume‹ – einen von vier Forschungsschwerpunkten am Max-Planck-Institut. In den ersten sieben Aufsätzen stehen »Ausprägungen von Zentralität in Spätantike und frühem Mittelalter – Normative und räumliche Dimensionen« im Mittelpunkt; so lautete auch das Thema einer Tagung, zu der Hartmut Leppin vom Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Goethe-Universität und Wolfram Brandes und Caspar Ehlers, die im Forschungsfeld ›Recht als Zivilisationsfaktor im ersten Jahrtausend‹ am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte zusammenarbeiten, im Jahr 2012 eingeladen hatten. Da die Spätantike und das frühe Mittelalter allgemein als Epochen der Dezentralisierung oder gar Regionalisierung gelten und gerade in den letzten Jahren viele Arbeiten sich mit Peripherien beschäftigten, sollte es besonders um Ausprägungen von Zentralität gehen. Denn während über das Konzept der Peripherie viel debattiert und die Bedeutung von Entwicklungen an den Peripherien hervorgehoben wurde, hat der komplementäre Begriff der Zentralität weitaus weniger Beachtung gefunden. Die Fragestellung der Tagung richtete sich dabei nicht allein auf politische Strukturen, sondern auf verschiedene Formen von Zentralität, wobei sowohl im weitesten Sinne (›faktisch‹ existierende) Hierarchien als auch (auf die Zukunft gerichtete) Intentionen zum Tragen kommen sollten. Die Beiträge können das weite Feld natürlich nicht erschließen. Sie sollen aber Denkanstöße geben, um die Transformation der Mittelmeerwelt nicht allein von der Dezentralisierung her zu denken, die die Auflösung eines großen Reiches mit sich brachte, sondern auch aus der Perspektive der neuen Zentren und der Bandbreite ihrer spezifischen Funktionen.
Die folgenden drei Aufsätze stammen aus der atlantischen Welt. Zu einem panel ›La Formación de Espacios Jurídicos Iberoamericanos (S. XVI–XIX): Actores, Artefactos e Ideas‹ im Rahmen der AHILA Tagung ›Entre espacios: La historia latinoamericana en el contexto global‹ und einer dem gleichen Thema gewidmeten anschließenden Tagung im September 2014 hatten Benedetta Albani und Thomas Duve vom Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte zusammen mit Samuel Barbosa (USP, Brasilien) eingeladen. Es sollte darum gehen, wie sich Rechtsräume in der Kommunikation zwischen Alter und Neuer Welt ausgeprägt haben. Der größte Teil der Beiträge wird in einem Dossier im Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas – Anuario de Historia de América Latina 52 (2015) publiziert. Drei repräsentative Beiträge zum 19. und 20. Jahrhundert haben wir in diesen Fokus aufgenommen: aus dem portugiesisch-brasilianischem Imperium, aus dem nach den Unabhängigkeiten keineswegs unverbundenen hispano-amerikanischen Rechtsraum, aus dem kirchlichen Rechtsraum, in dessen Zentrum Rom lag. Der Fokus wird abgeschlossen mit einigen Reflexionen zu Rechtsräumen von Massimo Meccarelli (Università di Macerata, Italien).
Die Debatte schließlich nimmt ebenfalls ein Thema auf, das im Jahr 2014 diskutiert oder vielmehr: nicht diskutiert wurde. Peter Oestmann (Universität Münster, Deutschland) hatte auf dem 40. Deutschen Rechtshistorikertag in Tübingen zu einem Gespräch aufgefordert, was wir eigentlich in unserer Forschung unter ›Theorie‹ und ›Praxis‹ verstehen. Die an seinen Vortrag anschließende Diskussion folgte allerdings der Logik vieler großer Tagungen: Wer sich zu Wort meldete, sprach vor allem von sich oder anderen Einzelheiten. Eine Debatte zur vom Vortragenden aufgeworfenen übergeordneten Fragestellung blieb aus. Auf unsere Einladung, diese schriftlich nachzuholen, gingen einige interessante Antworten ein.
Dass es andernorts vielleicht noch lebendiger zugeht, etwa in Frankreich, zeigt sich an mancher Rezension in der Kritik. Einen Einblick in eine ganz andere Welt gibt schließlich die Marginalie: In ihr wird ein Prozess gegen Würmer geschildert und transkribiert, der 1653 in Mexiko stattfand. Jorge Traslosheros (UNAM, Mexiko D.F.) weist zu Recht darauf hin, dass es sich hier um mehr als ein Kuriosum handelt – nicht nur, weil auch heute wieder vermehrt über den status von Menschen und Tieren im Recht diskutiert wird.
A quarter century has passed since the German Democratic Republic joined the Federal Republic of Germany on 3 October 1990 in accordance with article 23 of the German Basic Law (GG). A nation disappeared from the world map and a new legal space emerged.
Did the reunification, however, also mark a turning point in the history of legal scholarship? How has legal scholarship in Germany developed over the course of the last 25 years: during a time characterised by a dynamic globalisation, but also particularly via the digitisation and economisation of legal and scientific systems? We, at the Max Planck Institute, have been pursuing this question via discussions with other scientists and researchers from various legal sub-disciplines over the course of the past several months. These exchanges and discussions served as the impetus for Julian Krüper’s contribution, in which he broaches the topic and considers the question concerning the possibility of a contemporary history of constitutional legal science, provides a broad overview of the current debate and, finally, applies the idea of a »farewell to the interim« to this debate.
The Focus section of this issue also deals with changing legal spaces: during the first millennium as well as during the 19th and 20th centuries. Although the eleven contributions all come from different contexts, they are connected in their reflection of ›legal spaces‹ – one of the four research focus areas at the Max Planck Institute. The thematic emphasis of the first seven contributions involves the »Forms of centrality in Late Antiquity and Early Middle Ages – normative and spatial dimensions«. This was also the topic of a conference in 2012 organised by Hartmut Leppin (Professor for Ancient History at the Goethe University), Wolfram Brandes and Caspar Ehlers (Research Field »Law as a civilising factor in the first millennium« at the Max Planck Institute for European Legal History). Given that Late Antiquity and the Early Middle Ages are generally considered to be periods of decentralisation or even regionalisation, and especially since so many projects and analyses have dealt with the peripheries, it seemed appropriate to focus here on forms of centrality. For while the concept of periphery has been the subject of much debate and the meaning of the developments at the peripheries emphasised, the complimentary concept of centrality has received a great deal less attention. The central question posed in the context of the conference was directed not only at political structures, but also at various form of centrality, whereby in the broadest sense (›actual‹ existing) hierarchies as well as (future-oriented) intentions are considered. Of course, the contributions cannot cover every aspect of such a broad field. Instead, they are meant to serve as impulses in order to reflect upon the transformation of the Mediterranean world not solely in terms of a decentralisation brought about by the dissolution of a great empire, but rather from the perspective of the new centres and the wide spectrum of their different functions.
The following three articles originate from the Atlantic world. Samuel Barbosa (USP, Brazil), Benedetta Albani and Thomas Duve (Max Planck Institute for European Legal History) organised a panel entitled, ›La Formación de Espacios Jurídicos Iberoamericanos (S. XVI–XIX): Actores, Artefactos e Ideas‹ within the context of the AHILA conference ›Entre espacios: La historia latinoamericana en el contexto global‹, which also served as the same theme for the subsequent conference held in September of 2014. The aim of this conference was to ask about how legal spaces were formed in the communication between the New and Old Worlds. A large number of the contributions will appear in the Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas – Anuario de Historia de América Latina 52 (2015) in the form of a dossier. Three representative contributions dealing with the 19th and 20th centuries have been selected to appear in the Focus section: from the Portuguese-Brazilian Empire; from the post-independence Hispano-American legal space; and, finally, from the ecclesiastic legal space with its centre in Rome. A contribution by Massimo Meccarelli (University of Macerata, Italy) rounds out the Focus with several reflections about legal spaces.
Debates also takes up a topic discussed in 2014 – or, in this instance, a topic that was not discussed. Peter Oestmann (University of Münster, Germany) called for a discussion at the 40thDeutschen Rechtshistorikertag in Tübingen about what it is we mean by ›theory‹ and ›praxis‹ in the context of our research. The discussion that ensued after his talk, admittedly, developed in a manner typical of many larger conferences: everyone who had something to say, felt the need to talk about his or her own work and about this or that specific detail. A debate about the actual issue posed by the speaker did not take place. In response to our invitation to follow this up in written form, we received several interesting contributions.
That things elsewhere are perhaps somewhat livelier, for instance, in France, is demonstrated by a few reviews in Critique. A glimpse into a completely different world is offered in Marginalia: in this section a description and transcription is provided of the trial conducted in Mexico in 1653 against worms. Jorge Traslosheros (UNAM, Mexico D.F.) rightly points out that we are dealing with more than just a historical curiosity here – and not only because discussions involving the legal status of humans and animals are again on the rise.
Inhalt
Recherche – research
16 – Julian Krüper Die Verfassung der Berliner Republik. Verfassungsrecht und Verfassungsrechtswissenschaft in zeitgeschichtlicher Perspektive
Fokus – focus
54 – Salvatore Cosentino Ravenna from imperial residence to episcopal city: processes of centrality across empires
68 – Miriam Czock Zentralität in der Peripherie: Kirchengebäude als Orte des »Sonderfriedens« in den frühmittelalterlichen leges
83 – Luca Loschiavo Was Rome still a Centre of Legal Culture between the 6th and 8th Centuries? Chasing the Manuscripts
110 – Roman Deutinger Recht und Raum in den Anfängen der karolingischen Reform. Zu den fränkischen Synoden 742–762
120 – Wolfram Brandes Apostel Andreas vs. Apostel Petrus? Rechtsräume und Apostolizität
151 – Caspar Ehlers Jihad oder Parusieverzögerung? Zur heilsgeschichtlichen Bedeutung eines Raumes außerhalb des Römischen Reiches
174 – Wilfried Hartmann Synoden schaffen Räume: Metropolen, Diözesen und Pfarreien in den Synodalkanones des 9. Jahrhunderts
187 – Cristina Nogueira da Silva A dimensão imperial do espaço jurídico português. Formas de imaginar a pluralidade nos espaços ultramarinos, séculos XIX e XX
207 – Carlos Salinas Araneda La formación de un espacio jurídico transnacional en el siglo XIX a partir del patronato indiano
222 – Julia Solla Sastre Ultramar excepcional. La construcción de un espacio jurídico para España y sus colonias, 1837–1898
241 – Massimo Meccarelli The Assumed Space: Pre-reflective Spatiality and Doctrinal Configurations in Juridical Experience
Debatte – debate
255 – Thomas Duve, Peter Oestmann Normengeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Praxisgeschichte. Drei Blickwinkel auf das Recht der Vergangenheit
256 – Wolfgang Ernst Zur Epistemologie rechtsgeschichtlicher Forschung
260 – Inge Kroppenberg, Nikolaus Linder »Textwort und Träger«. Eine Replik auf Peter Oestmann
263 – Kenichi Moriya Rechtsgeschichte provoziert Jurisprudenz
266 – Heikki Pihlajamäki How Much Context Can We Afford? A Comment on Peter Oestmann
268 – Tilman Repgen »Nur schildern, wie es war«
270 – Andreas Thier Zwischen Kultur, Herrschaftsordnung und Dogmatik: Erkenntnisdimensionen rechtshistorischer Forschung
274 – Sandro Wiggerich Rechtsgeschichte und Bedeutung
277 – Jakob Zollmann »Rechtshistoriker als Revisionsrichter«? Über die Frage nach der Moral im Blick auf das Recht der jüngeren Vergangenheit
Kritik – critique
284 – Kathrin Brunozzi Dreitausend Jahre Rechtsgeschichte Robert Heuser, Grundriss der Geschichte und Modernisierung des chinesischen Rechts
286 – Michael Stolleis Juristen und »Juristen« James Gordley, The Jurists. A Critical History
290 – Michael Stolleis Heerschau der Rechtsgeschichte in Frankreich Jacques Krynen, Bernard d’Alteroche (dir.), L’Histoire du droit en France. Nouvelles tendances, nouveaux territoires
292 – Achim Landwehr Im Metafeld der Macht Pierre Bourdieu, Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992
294 – Agustín Casagrande El otro, el mismo. Inquisiciones sobre un mundo de conceptos Pierre Legendre (dir.), Tour du monde des concepts
297 – Hendrik Simon Unendliche Geschichte(n) Stephen C. Neff, Justice Among Nations
299 – Wolfram Brandes Toleranz und Repression John Victor Tolan et al. (eds.), Jews in Early Christian Law
301 – Carsten Fischer Deconstruction, reconstruction Karl-Heinz Spieß (ed.), Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert
305 – Harald Maihold Die theologischen Bezüge des menschlichen Gesetzes Francisco Suárez‚ De legibus ac Deo legislatore. Über die Gesetze und Gott den Gesetzgeber
307 – Thomas Duve Grenzenlose Räume Tamar Herzog, Frontiers of Possession. Spain and Portugal in Europe and the Americas
309 – Tomasz Giaro Russia and Roman Law Martin Avenarius, Fremde Traditionen des römischen Rechts
320 – Daniel Damler Bettgeschichten Gabriele Jancke, Gastfreundschaft in der frühneuzeitlichen Gesellschaft
322 – Claudia Curcuruto »Pecunia nervus rerum«: Justitia als Merkurs hörige Schwester Michael Ströhmer, Jurisdiktionsökonomie im Fürstbistum Paderborn
325 – Johannes Liebrecht Teile ohne Ganzes Claudia Lieb, Christoph Strosetzki (Hg.), Philologie als Literatur- und Rechtswissenschaft
329 – Santiago Legarre Fortalezas y debilidades en el estudio del constitucionalismo latinoamericano Roberto Gargarella, Latin American Constitutionalism, 1810–2010
331 – Laila Scheuch Unrecht der Ehe Karin Gottschalk (Hg.), Gender Difference in European Legal Cultures. Stephan Meder, Christoph-Eric Mecke (Hg.), Family Law in Early Women’s Rights Debates. Tim Stretton, Krista J. Kesselring (Hg.), Married Women and the Law
337 – Peter Collin Populäre Justiz – jetzt auch in der Rechtsgeschichte! Émilie Delivré, Emmanuel Berger (eds.), Popular Justice in Europe (18th – 19th Centuries)
341 – Ulrich Jan Schröder Haus ohne Fundament? David Sörgel, Die Implementation der Grundlagenfächer in der Juristenausbildung nach 1945
Marginalien – marginalia
347 – Jorge E. Traslosheros Proceso judicial eclesiástico, seguido en la Audiencia del Arzobispado de México, contra unos gusanos «negros y larguillos». Año de 1653. Nota introductoria y documento