Heinrich Ammerer (Hg.)
Editorial
In der neuen Welt erinnert man sich mit weniger Sentimentalität und Schmerz an die Vergangenheit als hierzulande. In Manassas (Virginia) etwa liegt jenes Schlachtfeld, auf dem der amerikanische Bürgerkrieg begann. Befände sich dieser Ort in Europa, wäre er eine Weihestätte der kollektiven Erinnerung, in Virginia betonierte man darauf kurzerhand ein Einkaufszentrum. Anders als in Europa schleppt man auf der anderen Seite des Atlantiks weniger an der Last einer leidvollen, bisweilen unversöhnlichen Geschichte, man lebt weniger intensiv in und mit der Vergangenheit. „Amerika, du hast es besser“, wusste schon Goethe: „Dich stört nicht im Innern, zu lebendiger Zeit, unnützes Erinnern und vergeblicher Streit.“
Aber auch in der neuen Welt prägen schmerzvolle Erinnerungen Politik und Identität. So prangt seit beinahe 40 Jahren auf den Kennzeichen von Autos in Québec das offizielle Motto der kanadischen Provinz: Je me souviens („Ich erinnere mich“). Ein geheimnisvoller Wahlspruch, der offenlässt, woran genau sich die eigensinnigen Québécois erinnern: An die Glorie der französischen Exploration, die Besiedelung und Kulturschöpfung in der neuen Welt? An die großen Söhne und Töchter Neufrankreichs, an bedeutende Entdecker, eifrige Missionare, feurige Staatsmänner? An die gemeinsame erfolgreiche Geschichte verschiedener Kulturen im vereinten Kanada? Oder doch vor allem an die schmachvolle Niederlage im Siebenjährigen Krieg und an den Umstand, dass sie von Unterworfenen, von Abgetretenen abstammen, zwangsvereinigt mit anderen britischen Kolonien unter einer fremden Krone, in einem Staat mit anglophoner Dominanz, der die frankophone Identität bedroht? Die genaue Bedeutung des mysteriösen Mantras ist bis heute Gegenstand hitziger Debatten, aber zweifellos verbindet es die Provinz mit einer sinnstiftenden Geschichte, von der sie sich nicht lösen will.
Erinnerungskulturen und die sich ihrer bedienende Erinnerungspolitik formen unsere Identität und unser nationales bzw. soziales Selbstbild stärker, als den meisten von uns bewusst ist. Wir akzeptieren die gesellschaftliche Verpflichtung der Erinnerungsarbeit, wir gedenken aktiv und bewusst der Glanz- und Tiefpunkte unserer Geschichte, um daraus zu lernen – wer wir sind, wer wir sein wollen, wer wir sein sollen. Wir mahnen, trauern, feiern, beschweigen, verdrängen und suchen Orientierung in den vielen historischen Sinnstiftungsangeboten, die uns allerorts umschmeicheln. Geschichte wird für die Durchsetzung moralischer Normen instrumentalisiert, für die Ausbildung von nationalen Identitäten und zur historischen Begründung der Gegenwartspolitik.
Neben Museen und Denkmälern ist der Geschichtsunterricht ein zentraler Wirkort von Erinnerungskultur. Selten steht die funktionalisierte Vergangenheitsdeutung dabei selbst auf dem kritischen Prüfstand: Wie prägen die anerkannten Narrative eigentlich unser nationales Selbstverständnis? Wie verklärt ist unser Blick auf die Vergangenheit? Wie kann es sein, dass andere Nationen zu einer völlig anderen Bewertung von Geschichte kommen? Übernehmen wir nur die Narrative der historischen Sieger, nicht jedoch die Deutungen der Besiegten? Welche historische Verantwortung über das bewusste Erinnern haben wir überhaupt?
Bislang waren GeschichtelehrerInnen nicht in der Pflicht, ihre SchülerInnen zur kritischen Reflexion von Erinnerungskultur und -politik anzuleiten. Mit dem neuen GSK/PB-Unterstufenlehrplan ändert sich das, nunmehr wird das Schlaglicht auf die Metaebene curricular eingefordert: Die Analyse und De-Konstruktion von Denkmälern, Gedenkstätten, Zeitzeugenberichten und anderen Produkten der öffentlichen Erinnerungskulturen, die reflektierte Auseinandersetzung mit der Funktionalisierung von Geschichte und Erinnerung werden nun zum Unterrichtsgegenstand. Allerdings trifft diese Forderung in vielen Fällen noch auf unvorbereitete und auf dem Feld der kritischen Reflexion von Narrativen wenig geübte LehrerInnen, die zu allem Überfluss kaum auf unterrichtspraktische Lehrmaterialien zurückgreifen können.
Aus diesem Grund stellt das Themenheft die reflektierte Arbeit mit Erinnerungskulturen und Narrativen zu Nationalsozialismus und Holocaust in der achten Schulstufe in den Mittelpunkt. Der initiale Basisartikel von Heinrich Ammerer und Christoph Kühberger wirft ein Schlaglicht auf die deskriptive Ebene, insofern er sich anhand einer aktuellen Studie der Frage widmet, welches Verhältnis Salzburger PflichtschülerInnen dieser Altersgruppe überhaupt zu Nationalsozialismus, Schoah und Erinnerungskultur offenbaren. In einer repräsentativen SchülerInnnenbefragung zeigten sich dabei u. a. ausbaubare Wissensbestände zu Nationalsozialismus und Holocaust, eine starke Sympathie zum österreichischen Opfernarrativ und ein profundes Interesse am Holocaust und dem damit verbundenen Erinnerungsauftrag. Auch wie die PflichtschullehrerInnen zum Thema Holocaust stehen, wie sie damit im Unterricht umgehen – speziell mit Blick auf die Einbindung von Mahnmalen, von denen in Salzburg zuletzt einige von rechtsextremen Schändungen betroffen waren – und welche Beobachtungen sie dabei anstellten, wird in diesem empirischen Beitrag beleuchtet.
Als einer der Lehrplanautoren widmet sich Thomas Hellmuth im didaktischen Basisbeitrag für das historisch-politische Lernen der Bedeutung der Erinnerungskultur bzw. -politik, wie sie im neuen Curriculum der Sekundarstufe angesprochen wird. Er beleuchtet zunächst die Formen, in denen uns Erinnerungskultur im Geschichtsunterricht begegnet und weist im Anschluss eine Vielzahl von methodischen Wegen, die sich zu ihrer kritischen Erschließung anbieten. In praktischer Anknüpfung an diese didaktisch-methodische Einführung stellen drei Lehrende der Sekundarstufe konkrete Anwendungsszenarien des Lehrplanmoduls für die achte Schulstufe vor:
Elmar Mattle widmet sich in mehreren Unterrichtsbausteinen thematisch dem Umgang Österreichs mit der eigenen NS-Vergangenheit und der sich wandelnden Selbstwahrnehmung. Dabei fokussiert er methodisch vor allem auf die lernalteradäquate Interpretation von Texten, die als schriftliche Quellen zum Re-Konstruieren von Vergangenheit und als schriftliche Darstellungen zum De-Konstruieren von Vergangenheitsdeutungen genutzt werden können. Die von ihm verwendeten Dokumente spiegeln die Mühen einer historischen Selbstfindung der NS-Täternation Österreich.
Einer besonderen Herausforderung des Geschichtsunterrichts, dem Umgang mit Mahnmalen, begegnet Wolfgang Kirchmayr. Die mahnenden Verweise auf die dunklen Schatten unserer Geschichte begleiten uns in unserem Alltag, und in einem auf den Erwerb eines reflektierten und selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins hinarbeitenden Unterricht sollen sie – wie jede geschichtspolitisch wirksame Erzählung über die Vergangenheit – methodisch erschlossen, begriffen, kontextualisiert und einer kritischen Reflexion zugeführt werden. Und so nimmt uns der Autor mit auf einen Rundgang zu Salzburger Mahnmalen und zeigt Wege auf, mit diesen unterrichtspraktisch in der Sekundarstufe I zu arbeiten.
Simon Mörwald schließlich stellt die historische Bewertung von Verantwortlichkeiten im Unterricht und die vergleichende Dekonstruktion von Verantwortlichkeitszuschreibungen in verschiedenen Narrativen zum Holocaust in den Mittelpunkt seines Unterrichtsvorschlags – lässt sich die Schuld an kollektiven Verbrechen auf wenige Mächtige personalisieren oder gilt der Diktum von Hans Frank, der 1946 während seines Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses formulierte: „Wer die Ehren eines Regimes teilte, hat auch die Schuld dieses Regimes zu teilen.“?
Im abschließenden Teil hat Eduard Fuchs Literaturempfehlungen zu einigen Beiträgen dieses Hefts zusammengestellt.
Inhalt
Heinrich Ammerer Editorial S 2–3
Heinrich Ammerer/Christoph Kühberger Wie stehen Salzburger PflichtschülerInnen zu Nationalsozialismus, Holocaust, Erinnerungskultur und den Mahnmalen in der Stadt Salzburg? Ergebnisse einer empirischen Erhebung S 4–10
Thomas Hellmuth Erinnern und vergessen. Erinnerungskultur im neuen Lehrplan der Sekundarstufe I S 11–15
Elmar Mattle Vom ersten Opfer Hitlers zur MittäterInnennation. Der Umgang Österreichs mit der eigenen Rolle während der NS-Zeit S 16–26
Wolfgang Kirchmayr Der unterrichtspraktische Umgang mit Mahnmalen zu verschiedenen NS-Opfergruppen in der Stadt Salzburg S 27–34
Simon Mörwald Zwischen Alleintätermythos und Kollektivierung der Schuld an Holocaust und Nationalsozialismus S 35–42
Eduard Fuchs Literaturempfehlungen zum Thema S 43–48