Nicht nur als radikalster Gegenentwurf zur bürgerlichen Kultur, sondern auch als ein Hauptmerkmal expressionistischer Ästhetik an sich kann die Thematisierung von psychischen Extremzuständen und ‚Geisteskrankheit‘ angesehen werden. Nachdem um die Jahrhundertwende die Psychoanalyse Gesellschaft, Individuum und Sexualität unter gänzlich neuen Prämissen dachte, beschäftigte sich der nur wenig später aufkommende Expressionismus in Kunst, Literatur und besonders dem neuen Medium Film mit psychischen Vorgängen, sexueller Motivik, Traum- und Rauschzuständen. Aber auch der ‚Irre‘ und seine scheinbar unverstellte und nicht genormte Wahrnehmung von Welt und Subjekt sowie sein Außenseiterstatus sind besonders häufig vorkommende Bilder und Konzepte.
Von dem bewusst zugespitzten Stichwort ‚Wahnsinn‘ ausgehend möchte die sechste Ausgabe von Expressionismus nicht nur die Darstellung und Funktion psychischer Krankheiten in der expressionistischen Kunst behandeln, sondern auch die Frage stellen, welche Theorien für die Diskussion leitend sind. Die Beiträge analysieren einerseits die Darstellung und Funktion von Wahnsinn und ‚Geisteskrankheit‘ in Literatur, bildender Kunst und Film. Sie werfen andererseits den Blick auf medizindiskursgeschichtliche Aspekte wie Schizophrenie und Psychosomatik und gehen den expressionistischen Spuren in der therapeutischen Kunstproduktion von Laien in psychiatrischen Heilanstalten nach.
Mit Beiträgen von Michael Ansel, Anna Sophie Brasch, Larissa Kikol, Cornelius Mitterer, Carsten Rast, Thomas Röske, Klaus Schenk, Christiane Schmidt, Panagiota Varvitsioti und Sophie Witt.
Inhalt
Editorial*
Psychologische Diskurse in expressionistischer Zeit
Sophie Witt Psychosomatik. Diskurs und Poetik im Expressionismus
Klaus Schenk Melancholische Schizophrenie. Dissoziation als Dispositiv in expressionistischer Lyrik
Wahnsinn und Gesellschaft
Anna S. Brasch Verortungen des ‚Irren‘. Raumkonzeption, Wahnsinnsthematik und Zeitkritik in Literatur und visuellen Künsten des Expressionismus
Larissa Kikol Wahnsinn im expressionistischen Film. Psychotherapie statt deutscher Macht-Sehnsucht
Künstler in der Psychiatrie
Thomas Röske Paul Goesch – ein Expressionist in der Psychiatrie
Christiane Schmidt Fritz Schaefler – Im Garten der Irrsinnigen
Künstlerischer Ausdruck und poetische Strategien
Cornelius Mitterer/Carsten Rast Wahnwitz. Poetische Strategie und Auflehnung bei Elsa Asenijeff und Albert Ehrenstein
Michael Ansel Abnorme Metrik. Zur Versstruktur und Rhythmik von Walter Hasenclevers Die Verheißung VI und Johannes R. Bechers Die Irren
Panagiota Varvitsioti Hugo von Hofmannsthals und Richard Strauss’ Klytämnestra. Die gewaltige Steigerung des literarischen Ausdrucks durch die hinzutretende Vertonung
Abbildungsverzeichnis Call for Papers: Berlin