Titel der Ausgabe 
nurinst 9 (2018)
Weiterer Titel 
Schwerpunktthema: Flucht, Vertreibung, neue Heimat

Erschienen
Nürnberg 2018: Antogo Verlag
Erscheint 
zweijährlich
ISBN
978-3-938286-52-4
Anzahl Seiten
171
Preis
14,00
ISSN

 

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Institution
Nurinst – Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts
Land
Deutschland
c/o
Nürnberger Institut Z. Hd. Jim Tobias Postfach 210312 90121 Nürnberg E-Mail: <jimtobias@nurinst.org>
Von
Tobias, Jim

Einleitung

Im Mai 2018 feierten wir den 70. Geburtstag des Staates Israel. Und im November 2018 jährt sich zum 80. Mal die Pogromnacht, der Auftakt eines bis dahin einzigartigen Staatsterrors, der zur industriemäßigen Ermordung von sechs Millionen Menschen führte und das europäische Judentum und seine Kultur nahezu vernichtete. Für die Mehrheit der wenigen überlebenden Juden war klar: Nur mit der Gründung eines eigenen Staates könne eine erneute Katastrophe verhindert und der Fortbestand des jüdischen Volkes gesichert werden. Die zionistische Vision einer nationalen jüdischen Heimstätte, in der die in Europa seit Jahrhunderten verfolgten und diskriminierten Juden Zuflucht finden würden, war bereits Jahrzehnte vor der Shoa entstanden. Doch »die nazistische Tragödie hatte die Idee eines Rettungsfloßes vertausendfacht«, beschrieb Primo Levi die Sehnsucht vieler der knapp dem Tod Entronnenen nach Freiheit und Sicherheit in einem jüdischen Staat. Die Überlebenden sahen sich als Träger einer historischen Mission, die ihre Pflicht gegenüber den Toten erfüllten. Nach der Niederschlagung des NS-Regimes konnte die Welt der Scheerit Haplejta, dem Rest der Geretteten, wie sich die Überlebenden nannten, eine nationale Heimstatt nicht mehr verwehren.

Im Fokus des 9. Jahrbuches steht die Zeit zwischen 1938 und 1948. In ihren Beiträgen beleuchten Historiker aus Deutschland, Israel und Österreich eine Dekade, die geprägt war von Flucht und Vertreibung, aber auch der Suche nach einer neuen Heimat.

Abstracts

Siegbert Wolf beschreibt in seinem Beitrag »Hier ist das Leben schwer, aber irgendwie sinnreicher als in Europa jetzt« Martin Bubers Leben in Jeru­salem nach seiner erzwungenen Emigration aus NS-Deutschland 1938. Neben seinen akademischen Verpflichtungen als Professor für Sozialphilosophie an der Hebräischen Universität engagierte er sich dort im Rahmen seiner dialogischen Lebensphilosophie vor allem für einen gesellschaft­lichen, binationalen Ausgleich zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung. Während des Zweiten Weltkrieges setzte sich der Philosoph zugleich für die Rettung möglichst vieler Juden ein. 1953 erhielt Buber den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Mit der Annahme der Auszeichnung setzte er ein Zeichen für Verständigungsbereitschaft und Aussöhnung. Nach Deutschland kehrte der Philosoph jedoch nur noch zu Besuchen zurück.

Der »Anschluss« Österreichs im Jahr 1938 bedeutete, anders als nach der sogenannten Machtergreifung 1933 im »Altreich«, den sofortigen Beginn der Entrechtung und Vertreibung der österreichischen Juden. Christoph Lind beschäftigt sich in seinem Text »Wo sie bleiben – interessiert nicht« mit dem nur wenig bekannten Schicksal der »Provinzjuden«. Er beschreibt die Zerstörung der jüdischen Landgemeinden sowie die Flucht der Menschen nach Wien. Lind skizziert dabei auch die Lebensumstände vor den großen Deportationen in die Vernichtung.

Monika Berthold-Hilpert dokumentiert in ihrem Aufsatz Die Judaica-Sammlung des Gottfried Stammler die Geschichte des Heimatmuseums Schnaittach und seiner Exponate. Bis heute gilt der Laien-Historiker Gottfried Stammler (1885–1959) vielen in Schnaittach fälschlicherweise als Held, der sich in der Pogromnacht 1938 mutig und ohne Rücksicht auf persönliche Konsequenzen der NS-Kreisleitung widersetzte und so die Zerstörung von Synagoge, Rabbiner- und Vorsängerhaus verhinderte. Der Aufsatz zeichnet die Entstehung der Judaica-Sammlung im Heimatmuseum nach und unterzieht Stammlers Rolle in der NS-Zeit, bei der Aneignung jüdischen Besitzes sowie seine Eigendarstellung in der Nachkriegszeit einer kritischen Würdigung.

Ohne seine starken Frauen ist die Geschichte des Staates Israel nicht zu denken. Wer erinnert sich nicht an Golda Meir, die als Ministerpräsidentin die politische Führung des Landes innehatte. Der Beitrag von ­Andrea Livnat »Aber größer als die Schuld der Jüdin am Niedergang ihres Volkes wird ihr Anteil an seiner Wiedergeburt sein« beleuchtet den Anteil der vielen Frauen an der Gestaltung und Umsetzung der zionistischen Idee vom Anfang an bis ins heutige Israel. Dabei zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen der formellen Gleichstellung, die Frauen bereits früh zuteilwurde, und den vorherrschenden Realitäten. Ihr Text stellt Biografien von Frauen vor, die in besonderer Weise engagiert waren, wie etwa die frühe zionistische Aktivistin Miriam Schach, die Ärztin Rahel Straus und die zur Pionierbewegung gehörende Rachel Janait.

In den Monaten zwischen November 1947 bis zum Mai 1948 überschlagen sich die Ereignisse in einem kleinen Teil der Welt, der ab Mai 1948 Israel heißen wird. Nicola Schlichting untersucht in ihrem Text »Von den Fesseln des Weißbuchs befreit!« Artikel und Kommentare aus den beiden wichtigsten zeitgenössischen Publikationen der deutschen Juden in den USA und in Israel: AUFBAU und Mitteilungsblatt. Dabei reflektiert sie die unterschiedlichsten Standpunkte und Meinungen zur Gründung des Staates Israel.

Das Stadtwaldlager Bocholt ist sicher eines der interessantesten Lager, die es auf dem späteren Gebiet der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat. Nacheinander und teilweise gleichzeitig beherbergte es eine SS-­Legion, die Wehrmacht, nichtdeutsche Kriegsgefangene und osteuropäische Zwangsarbeiter, Displaced Persons (DPs), Ungarn-Flüchtlinge und solche aus der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands. Weitgehend unbekannt ist jedoch, dass die Sammelunterkunft für jüdische DPs zeitweise das einzige Tor nach Palästina bildete, bevor der Staat Israel gegründet wurde. Der Beitrag von Marcus Velke »… endlich den Staub Deutschlands von ihren Füßen abschütteln« beleuchtet Abläufe, Institutionen und die Menschen, die diesen kurzen Abschnitt des Bocholter Stadtwaldlagers prägten.

Das DP-Camp Bergen-Belsen – seit 1946 mit bis zu 12.000 Bewohnern das größte jüdische DP-Camp im Nachkriegsdeutschland – spielt für die Geschichte der jüdischen Emigration aus Europa nach 1945 eine besondere Rolle. Durch seine Lage in der britischen Zone war die Emigration nach Palästina/Israel hier in besonderer Intensität Gegenstand politischer Kontroversen und Aktivitäten. Katja Seybold und Thomas Rahe skizzieren in ihrem Text Die Gründung des Staates Israel und die Auswanderung aus dem jüdischen DP-Camp Bergen-Belsen Verlauf und Bedingungsfaktoren der Emigration und stellen die Ergebnisse einer historisch-statistischen Auswertung der »Auswandererkartei« des Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone vor, das seinen Sitz im DP-Camp Bergen-Belsen hatte.

Zwischen 1945 und 1948 lebten rund 600 unbegleitete Minderjährige im International Children’s Center Aglasterhausen. Hier wurden jüdische und nichtjüdische Kinder und Jugendliche aus unterschiedlichsten Nationen auf ihren Weg zurück ins Leben vorbereitet. Für einige der Verschleppten begann der Neuanfang anschließend in ihrer alten Heimat: in Jugo­slawien, Frankreich, Belgien, Holland, Polen, Russland, Norwegen oder in der Tschechoslowakei. Die Mehrheit der Bewohner emigrierte jedoch in die USA, nach Kanada oder Australien und für viele jüdische Kinder kam natürlich ab Mai 1948 nur der Staat Israel infrage, wie Jim G. Tobias in seinem Beitrag »Die Kinder haben beachtliches Vertrauen entwickelt« heraus­gefunden hat.

Das Novemberpogrom 1938 verlief in Nürnberg besonders gewalttätig. Juristische Ermittlungen der Nachkriegszeit zeigen zwar einen mehr zufälligen Ausschnitt des Geschehens, bieten aber häufig einen detaillierten Blick auf die Organisation des Pogroms, das Handeln der Täter und die Reaktionen der Opfer. Alexander Schmidt hat sich die Akten angesehen. In seinem Beitrag »Allmächt, was ist jetzt das, ich habe ja die Hand voll Blut?« wird deutlich, dass weder langjährige Bekanntschaft oder gemeinsame Mitgliedschaft im Sportverein vor der Gewalt durch die SA-Trupps schützte, sondern im Gegenteil eine persönliche Verbindung Gewalt sogar begünstigen konnte. Die Ermittlungen zeigen zudem, wie unterschiedlich und willkürlich verschiedene SA-Trupps handelten und dass es tatsächlich von der Gewaltbereitschaft einzelner abhing, ob es zu Mord und schwerer Körperverletzung oder nur zu geringfügiger Sachbeschädigung kam. Obwohl letztlich kaum nennenswerte Strafen verhängt wurden, sind die Ermittlungsakten als Quelle und vor allem als Stimmen der Opfer wertvoll.

Abschließend stellen wir wie immer eine wissenschaftliche Institution vor: das Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken. Die Leiterin Rotraud Ries skizziert Geschichte und Konzeption der 1987 gegründeten Einrichtung. Der Auftrag des Zentrums war von Anfang an, die reiche jüdische Geschichte und Kultur der Region ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Dabei soll es nicht allein um die zwölf Jahre der NS-Herrschaft gehen, sondern um den gesamten Zeitraum der 900-jährigen Präsenz von Juden im Raum Unterfranken. Das Johanna-Stahl-Zen­trum versteht sich als Ort der Information, der Beratung und Vernetzung, der Forschung und einer zeitgemäßen Erinnerungsarbeit. Es setzt dabei auf eine Kooperation mit Ehrenamtlichen und steht in Kontakt mit ehemals hier lebenden Familien und ihren Nachkommen.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

„Hier ist das Leben schwer, aber irgendwie sinnreicher als in Europa jetzt“
Martin Bubers Alija 1938 und sein Wirken in Jerusalem bis zur Staatsgründung 1948
Von Siegbert Wolf

„Wo sie bleiben – interessiert nicht“
Österreichs „Provinzjuden“ nach dem „Anschluss“
Von Christoph Lind

Die Judaica-Sammlung des Gottfried Stammler
Geschichte einer Arisierung
Von Monika Berthold-Hilpert

„Aber größer als die Schuld der Jüdin am Niedergang ihres Volkes wird ihr Anteil an seiner Wiedergeburt sein“
Frauen und Zionismus – ein Überblick
Von Andrea Livnat

„Von den Fesseln des Weißbuchs befreit!“
Die Geburt des Staates Israel im Spiegel von Mitteilungsblatt und AUFBAU – November 1947 bis Mai 1948
Von Nicola Schlichting

„… endlich den Staub Deutschlands von ihren Füßen abschütteln“
Das Palestine Transit Camp im DP-Lager Bocholt 1946–1948
Von Marcus Velke

Die Gründung des Staates Israel und die Auswanderung aus dem jüdischen DP-Camp Bergen-Belsen
Von Thomas Rahe / Katja Seybold

„Die Kinder haben beachtliches Vertrauen entwickelt“
Das Internationale Kinderzentrum Aglasterhausen 1945–48
Von Jim G. Tobias

„Allmächt, was ist jetzt das, ich habe ja die Hand voll Blut?“
Das Novemberpogrom 1938 in Nürnberg im Spiegel von Ermittlungsakten der Nachkriegszeit
Von Alexander Schmidt

Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken 153
Ein Porträt
Von Rotraud Ries

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