Überschreitet Macht ihre legitimen Grenzen und schlägt in Gewalt um, artikuliert sich Widerstand. Häufig, wie jüngst in Hongkong, Belarus oder Myanmar, geschieht dies kollektiv und öffentlich: Menschen demonstrieren, setzen sich zur Wehr, blockieren Straßen und Plätze oder streiken. Diese Fälle wecken das Interesse der Nachrichten und der Forschung und sind in der Regel gut dokumentiert. Sehr viel weniger bekannt sind hingegen die zahlreichen Beispiele widerständigen Verhaltens, die sich jenseits der Öffentlichkeit oder unterhalb der Schwelle des offenen Protests vollziehen, die sich hinter Gefängnismauern, in Straflagern und in Folterkellern ereignen oder lediglich in Fotografien oder Aktennotizen eine Spur ihrer Existenz hinterlassen. Was bringt Menschen dazu, sich in ausweglosen Situationen der Gewalt entgegenzustellen, sich den Forderungen ihrer Peiniger zu entziehen oder unbemerkt von der Öffentlichkeit einen stummen Kampf um ihre Selbstbehauptung zu führen? Und welcher Mittel und Wege bedienen sie sich dafür?
Das Heft eröffnen Iris Därmann und Michael Wildt, die in ihrer »Einleitung« das Themenfeld abstecken und »Widerständige Praktiken« in ihrer ganzen Bandbreite zwischen exit und voice, zwischen Flucht und Protest vorstellen. »Die Botschaft der Schmetterlinge« entschlüsselt Georges Didi-Huberman, dessen Text sich mit der Rolle von Flugblättern im Kontext der Résistance auseinandersetzt und neben den Inhalten und ihren sprachlichen Formen auch die riskanten Herstellungs-, Reproduktions- und Verteilungsverfahren der fliegenden Blätter in den Blick nimmt. Anschließend untersucht Astrid Kusser Ferreira die Geschichte des Lynchens und der Lynchfotografie in den USA um 1900. Sie zeigt, wie die Mitglieder der schwarzen Bürgerrechtsbewegung »Die Bilder der Toten zum Sprechen bringen« und zu Mitteln in ihrem Kampf gegen Rassismus und für Gleichberechtigung umfunktionieren. Um radikale Formen widerständigen Verhaltens geht es in dem Aufsatz von Sebastian Köthe, der die hierzulande nur wenig beachteten »Hungerstreiks in Guantánamo Bay« untersucht und beschreibt, wie die mitunter jahrelang ohne Anklage und ohne Prozess inhaftierten Gefangenen sich unter den repressiven Bedingungen des Lagers zur Wehr setzten und Öffentlichkeit für ihren Protest zu organisieren suchten. Unter der Überschrift »I am a victor, not a victim!« erörtert Teresa Koloma Beck, warum Menschen, die Gewalt erfahren haben, die ihnen angetragene Opferrolle ablehnen. Dabei fragt sie nicht nur nach den persönlichen Motiven, sondern auch nach den theoretischen und methodischen Implikationen, die sich aus dieser Form von Selbstbehauptung durch Verweigerung für die Gewaltforschung ergeben. Einen besonderen Fall von Selbstbehauptung thematisiert Thomas Lindenberger, der beschreibt, »Wie sich ein Ingenieur dem SED-Staat undienlich machte« und nach dem Ende der DDR beharrlich seine Rehabilitation betrieb. Und Jan Philipp Reemtsma denkt »Über Zivilcourage« nach, fragt nach dem besonderen Charakter dieser Form von Widerständigkeit.