Wo beginnt Zensur und wo wird sie mit dem Schutz von Grund- und Menschenrechten oder der Anwendung des Strafrechts verwechselt? Die komplexen Debatten um die Phänomene Identitätspolitik, kulturelle Aneignung und eine sogenannte Cancel Culture haben gezeigt, wie dünn die gegenseitige Toleranz oftmals ausgebildet ist und wo die demokratische Diskussionskultur an ihre Grenzen stößt. Ehemals ein Herrschaftsinstrument, um Widerspruch und abweichende Meinungen mundtot zu machen, richtet sich der Zensurvorwurf inzwischen – meist pauschal – gegen alle und jeden. Passend dazu behaupten ganze Gruppen: „Das ist ja wie in der DDR!“, um sich gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu wehren oder die Berichterstattung „der Medien“ insgesamt zu ächten. Gefährlich und schief sind solche Vergleichsmaßstäbe nicht zuletzt, weil damit das tatsächliche Ausmaß von SED-Unrecht verharmlost und die gesellschaftliche Sehschärfe gegenüber Extremismus gemindert werden. Im Themenschwerpunkt Zensur der aktuellen „Gerbergasse 18“ werden historische Fälle geschildert, die aber auch den Blick auf die Gegenwart schärfen möchten. Inhaltlich geht es beispielsweise um die Erforschung der Textsorte Gutachten im Druckgenehmigungsverfahren, das jedes in der DDR erschienene Buch zu durchlaufen hatte. Ein anderer Beitrag schildert, wie der jahrzehntelang tabuisierte Roman „1984“ von George Orwell fast noch in einem DDR-Verlag erschienen wäre. Weitere Zensur-Einblicke folgen, etwa wie „heiße Marken“ im Kalten Krieg die alltägliche Systemkonkurrenz prägten, wie diffizil die Zensurmechanismen im „Leseland DDR“ funktionierten oder wie ambivalent mit dem Erbe des Philosophen Friedrich Nietzsche bis 1990 umgegangen wurde. Dass der Deutungskampf um die Geschichte aggressiv fortwirkt, beschreibt ein Text über die staatliche Einflussnahme auf die Lagergedenkstätte Perm-36 in Russland. In einem Interview bilanziert Roland Jahn seine zehnjährige Arbeit im Amt des Bundesbeauftragten: „Die Stasi-Unterlagen sind ein Teil des Gedächtnisses unserer Nation, ihre Nutzung und Erforschung ein Baustein unserer Demokratie.“ Dass die Akten, die am 17. Juni 2021 formell in den Bestand des Bundesarchivs eingegliedert wurden, weiterhin offen bleiben und auch für zukünftige Fragen an die SED-Diktatur und ihre Geheimpolizei bereitstehen, sei eine wichtige Voraussetzung für den Dialog der Generationen, denn jede Form der Aufarbeitung benötigt Aufklärung und fundiertes Wissen über das Geschehene.
Titelthema: Zensur
S. 03 Siegfried Lokatis – Der Argusblick des Zensors. Zur Begutachtungspraxis im „Leseland DDR“
S. 08 Wolfgang Both – „1984“ und die DDR. Wie George Orwells Roman fast im Verlag Volk & Welt erschienen wäre
S. 16 Jan Heijs – Heiße Briefmarken im Kalten Krieg. Postalische Zeitzeugnisse aus Ost und West
S. 21 Reinhard Buthmann – Kein Zaungast im Wiener Café. Oder: vom Zangengriff der Zensur
S. 28 Matthias Steinbach – Nietzsche „unter Röcken“. Der Antisozialist, die Pfarrer und sozialistische Überhennen
S. 37 Anke Giesen – Die Verstaatlichung der Lagergedenkstätte Perm-36. Wie in Russland heute Zensur ausgeübt wird
ZEITGESCHICHTE
S. 43 Sebastian Stude/Manolo Acktories – Namen in der Wand. Spurensuche in der Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam
S. 48 Karl Heinrich Schäfer – Strafvollzug im „Übergang“. Der Ausschuss zur Überprüfung von Bediensteten des Justizvollzugsdienstes in Thüringen
ZEITGESCHEHEN / DISKUSSION
S. 55 Angelika Censebrunn-Benz – Heimerziehung in Spezialheimen. Eine Studie zum DDR-Erziehungssystem und dessen Bewältigung
S. 61 „Die Stasi-Unterlagen sind ein Teil des Gedächtnisses unserer Nation, ihre Nutzung und Erforschung ein Baustein unserer Demokratie.“ Roland Jahn über zehn Jahre im Amt des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen
REZENSIONEN
S. 67 Alexander Steder – Propaganda und Waffen gegen Israel. Zwei Studien untersuchen die antiisraelische Nahostpolitik der DDR
S. 70 Daniel Börner – Von Lenin bis Leipzig. Zwei Bücher über Parteiliteratur und Parteijournalismus