Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist nicht der „erste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“. Krieg mit unzähligen Toten, Massakern und Millionen von Flüchtlingen gab es bereits in den 1990er-Jahren in Europa im Zuge des Zerfalls von Jugoslawien. Der blutigste Teil war zweifellos der Bosnienkrieg, der im April 1992 begann und bis November 1995 dauerte.
Trotz des gewaltsamen Zerfalls existiert auch 30 Jahre später ein gemeinsamer postjugoslawischer Kulturraum. Insbesondere in Kunst und Kultur lassen sich Gemeinsamkeiten finden. Das Beispiel des NGO-Netzwerkes REKOM zeigt die Bemühungen um eine transnationale Aufarbeitung der Jugoslawienkriege auf, bei der die individuellen Geschichten der Leidtragenden im Zentrum stehen.
Zudem beleuchten wir die politischen Auswirkungen des russischen Angriffs auf die Wahlen in Serbien und Ungarn und die Zusammenarbeit der Russischen Orthodoxen Kirche mit Staat und Armee.
UNGARN
Péter Techet: Wahlen in Ungarn: ein anderes Ende der Geschichte Bei den Parlamentswahlen in Ungarn hat Viktor Orbán einmal mehr gesiegt, obwohl sich die Opposition erstmals auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten einigen konnte. Die seit zwölf Jahren verstärkten autoritären Strukturen, die fehlende Medienfreiheit und gefestigte Oligarchen-Netzwerke gehören zu den Grundpfeilern von Orbáns Macht. Die außenpolitische Isolierung Ungarns nimmt jedoch aufgrund von Orbáns russlandfreundlicher Politik rasant zu.
RUSSLAND
Regula Zwahlen: Krieg, Frieden und die Russische Kirche Das Moskauer Patriarchat rechtfertigt den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ideologisch. Einen nationalkonservativen Diskurs zur Verteidigung vaterländischer Werte pflegen viele Kirchenhierarchen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als sich die Russische Orthodoxe Kirche als Bewahrerin der historischen Einheit der „Heiligen Rus“ – Russland, Ukraine, Belarus und Moldova – anbot. In Zusammenarbeit mit Staat und Armee beteiligte sich die Kirchenleitung an der Entfaltung einer zivilen „Religion des Sieges“.
SÜDOSTEUROPA
Stefan Kube: Ein Weckruf. Die Kriege in Bosnien-Herzegowina und der Ukraine In Bosnien-Herzegowina stand das diesjährige Gedenken an den Beginn des Krieges vor 30 Jahren ganz im Zeichen des aktuellen Krieges in der Ukraine. Bei beiden Kriegen lassen sich ähnliche Muster hinsichtlich der Aggressionspolitik des Milošević- und Putin-Regimes sowie deren ideologischer Rechtfertigung ausmachen. Unterschiedlich fällt dagegen die Reaktion der westlichen Staatengemeinschaft aus. Kirchliche Verfolgungs- und Bedrohungsdiskurse trugen in beiden Fällen zur ideologischen Vorbereitung der Kriege bei.
Vedran Obućina: Verbindend oder trennend? Religion in Bosnien-Herzegowina Bosnien-Herzegowina ist weiterhin von den Wunden des Kriegs geprägt. Das mit dem Dayton-Abkommen geschaffene politische System des Landes hat die ethnische Polarisierung verstetigt. Aus den Religionsgemeinschaften erwachsen einerseits friedensfördernde Initiativen, die an typisch bosnische Nachbarschaftstraditionen anknüpfen, andererseits pflegen viele religiöse Führungsgestalten und Institutionen weiterhin ein konfliktträchtiges Gut gegen Böse-Narrativ.
Irena Ristić: Wahlen in Serbien: Ein klarer Sieg, der leicht trügt Die Präsidentschaftswahlen in Serbien hat der Amtsinhaber Aleksandar Vučić klar gewonnen. Bei den Parlamentswahlen musste die regierende Serbische Fortschrittspartei erstmals seit 2012 deutliche Verluste hinnehmen. Geprägt war der Wahlkampf von unfairen Bedingungen, insbesondere beim Medienzugang der Opposition, und von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Jacqueline Nießer: Der Krieg als gemeinsames Erbe – Transnationale Vergangenheitsaufarbeitung nach dem Zerfall Jugoslawiens Das Menschenrechts- und NGO-Netzwerk REKOM hat sich eine transnationale Vergangenheitsaufarbeitung der Jugoslawienkriege zum Ziel gesetzt, bei der die individuellen Leidtragenden im Mittelpunkt stehen. Zwar scheiterte die Einrichtung einer länderübergreifenden Wahrheitsfindungskommission, doch hat REKOM mit seiner Arbeit zur Verständigung über die Folgen der Jugoslawienkriege beigetragen.
Ana Petrov: (Jugo-)Nostalgie: Emotion, Ideologie und Produktion In den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens ist die Jugonostalgie ein verbreitets Phänomen, die sich insbesondere im musikalischen Bereich antreffen lässt. Sie demonstriert eine Sehnsucht nach einer besseren Zeit und verloren geglaubten Werten. Zugleich ist Jugonostalgie symptomatisch für eine Unzufriedenheit mit den aktuellen Lebensumständen der Menschen. Die nostalgische Kultur kann sowohl zur Kommerzialisierung verwendet werden als auch kritische Potentiale enthalten.
Uroš Čvoro: Transformationsästhetik: Kunst nach Jugoslawien Kunstschaffende aus dem früheren Jugoslawien greifen oft auf Elemente und Narrative des untergegangenen Staats zurück. Damit üben sie Kritik an den negativen Auswüchsen der wirtschaftlichen und politischen Transition sowie am allgegenwärtigen Nationalismus in der Region. Dennoch feiern sie Jugoslawien nicht unreflektiert als Ideal, sondern greifen auch traumatische Erinnerungen auf.