Die heftigen Diskussionen rund um die Weltkunstschau „documenta fifteen“ in Kassel zeigen, wie eng die Fragen nach Kunstfreiheit, historischem Bewusstsein und gesellschaftlichen Machtverhältnissen miteinander verwoben sind. Dabei war Kunstgeschichte natürlich schon immer Streitgeschichte. Eine bis heute nachwirkende Debatte gilt der Unterscheidung zwischen subventionierter Staatskunst, schlicht als „DDR-Kunst“ etikettiert, und autonomer, unangepasster Kunst, vorsichtiger als Kunst „in“ oder „aus der DDR“ apostrophiert. Die Streitfrage lautet: Bleibt Kunst, entstanden in einer Diktatur, dennoch primär Kunst, oder ist sie „nur“ Teil der Kulturgeschichte?
Die Antworten – und die Rückfrage, ob eine klare Trennung überhaupt plausibel ist – spalten bis heute das Publikum, die Sammlungsbestände, das Zugehörigkeitsgefühl der Ausstellungsbesucher, die Auseinandersetzung um das künstlerische Erbe in Ost und West. Hinzu kam und kommt immer drängender die Frage: Was ist Kunst wert und wer kann oder will sie sich noch leisten? Die neue „Gerbergasse 18“ geht ganz unterschiedlichen Kunstspuren nach. Etwa der Motivgeschichte der Mauer-Bilder, der legendären Künstlergruppe Clara Mosch aus Karl-Marx-Stadt, dem Stellenwert ostdeutscher Malerei und der späten Aufklärung des Gothaer Kunstraubs von 1979, aber auch den Schwierigkeiten beim Ausstellen von Untergrund-Gegenkunst sowie dem „vergessenen Schatz“ eines brasilianischen Diplomaten, der in den 1980er-Jahren die größte Privatsammlung mit Gegenwartskunst aus der DDR anhäufte.
Das neue Heft bietet aber auch weitere spannende Beiträge. So räumt ein Kommentar des Stadthistorikers Rüdiger Stutz mit dem hartnäckigen Mythos auf, die in der NS-Zeit entstandene Schlegelsberg-Siedlung in Jena-Ost würde einen stilisierten Reichsadler nachbilden. Obwohl sich das Gerücht aufgrund der geschlängelten Straßenführung bis heute hält, gibt es dafür keinerlei Belege. In weiteren Artikeln werden vermeintliche Attentatspläne gegen den DDR-Staatschef Walter Ulbricht rekonstruiert sowie dargestellt, wie der US-Filmstar Steve McQueen 1964 – mitten im Kalten Krieg – an einem Motorradrennen in Thüringen teilnahm. Hinzu kommen Forschungsergebnisse zur Flucht von Heimkindern über die innerdeutsche Grenze. Lutz Rathenow, der Ende September 70 Jahre alt wird, steuert einen Geburtstagstext bei: Der letzte Besuch in der ersten Kommune. Besprechungen zum Buch „Zonenrandgebiet“ der Historikern Astrid Eckert und zum Film „Stasikomödie“ von Leander Haußmann ergänzen die aktuelle Ausgabe.
TITELTHEMA KUNST
S. 03 Bernd Lindner – Mauern malen. Kurze Geschichte eines Bildmotivs
S. 11 Burkhard Baltzer – Die Welt, das war schon einmal Chemnitz. Über die Künstlergruppe Clara Mosch
S. 15 Lutz Wohlrab – Verachtet, geliebt, versteckt und doch nicht vergessen. Malerei aus Ostdeutschland
S. 21 „Der Vergessene Schatz“. Ein Gespräch mit dem Journalisten und Filmemacher Tom Ehrhardt
S. 25 Reinhard Zabka – Interieur Underground. Die Kunst der Subkulturen in der DDR
S. 29 Birger Jesch – Straßenumbenennung 1976 in Dresden. Schablonen und Walzen als Vervielfältigungsmedien im Einsatz
S. 31 „Heimat ist ein Zustand von Sehnsucht“. Ein Gespräch mit dem Maler Hans-Hendrik Grimmling
S. 35 Sebastian Hollstein – Verlustgeschichte mit Happy End. Verlorene und wiederentdeckte Meisterwerke in Gotha
ZEITGESCHICHTE
S. 39 Rainer Erices – Mit Sprengstoff gegen Walter Ulbricht. Attentatsversuche auf den DDR-Staatschef im Spiegel der Akten S. 44 Anke Geier – „Unsicherheitsfaktor im Sperrgebiet“. Heimkinder auf der Flucht über die innerdeutsche Grenze
S. 52 Thomas Purschke – Der „King of Cool“ in Thüringen. Wie der US-Filmstar Steve McQueen in der DDR ein Motorradrennen verlor
ZEITGESCHEHEN / DISKUSSION
S. 56 Rebecca Hernandez Garcia/Christoph Stamm – „Die Solidarität mit der Bürgerrechtsbewegung im sowjetischen Imperium empfand ich als meine moralische Pflicht.“ Zum Tod von Manfred Wilke
S. 60 Lutz Rathenow – Der letzte Besuch in der ersten Kommune. Erinnerungen an Jena
S. 64 Rüdiger Stutz – Mit „Adlerblick“ auf die Schlegelsberg-Siedlung. Kommentar zu einer urbanen Legende in Jena
S. 66 Daniel Börner – „Sie haben ihn umkommen lassen.“ Erinnerung an Matthias Domaschk zum 65. Geburtstag
REZENSIONEN
S. 68 Christian Stöber – Westblick. Neue Perspektiven auf die Geschichte der innerdeutschen Grenze
S. 70 Marie Sophie Brühl – Stasi-Slapstick nonstop. Leander Haußmanns Klischee-Revue irrlichtert zwischen Verharmlosung und Klamauk