Der von Elisabeth Dietrich-Daum, Marina Hilber, Elisabeth Lobenwein und Carlos Watzka herausgegebene Band widmet sich der Geschichte der Impfung. Als präventive und gesundheitspolitische Maßnahme fand sie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zum Schutz vor Krankheiten Anwendung. Das Schwerpunktheft nimmt vor allem zwei als paradigmatisch erachtete Impfungen – jene gegen die Pocken (Blattern) und gegen die Poliomyelitis (Kinderlähmung) – näher in den Blick. Den Auftakt macht ein Impulsbeitrag von Malte Thießen, der Immunitiät als Kristallisationspunkt sozialer Zusammenhänge versteht und innovative Forschungsfelder eröffnet. Es folgen Beiträge zu Immunisierungswissen und Strategien zur Popularisierung der Impfung gegen die Pocken aus frühneuzeitlicher und objektgeschichtlicher Perspektive. Impfwiderstand und indirekter Zwang im Rahmen der Pockenschutzimpfung in der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert stehen ebenso im Fokus wie die Wissenschafts- und Institutionengeschichte der Impfstoffproduktion. Der zweite Themenschwerpunkt rückt die im 20. Jahrhundert virulent werdende Kinderlähmung und die unterschiedlichen Immunisierungsstrategien in Europa in den Fokus. An regionalen, nationalen und internationalen Beispielen werden die Einführung und Distribution der Injektionsimpfung nach Salk sowie der später entwickelten Schluckimpfung nach Sabin herausgearbeitet. Ein rechtswissenschaftlicher Beitrag zum Spannungsfeld von Grundrechten und Impfpflicht rundet den thematischen Teil dieses Bandes ab. Zwei Projektberichte präsentieren den Leser*innen aktuelle Forschungsprojekte und neun Rezensionen informieren abschließend über Neuerscheinungen aus dem Bereich der Medizingeschichte.
Sämtliche Beiträge sind Open Access verfügbar und können kostenfrei unter folgendem Link abgerufen werden: https://austriaca.at/VIRUS_collection?frames=yes
Inhalt
Elisabeth Dietrich-Daum / Marina Hilber / Elisabeth Lobenwein / Carlos Watzka Editorial
Impuls – Schwerpunkt: Kulturgeschichten des Impfens
Malte Thießen Kultur- und sozialgeschichtliche Perspektiven auf das Impfen im 19. und 20. Jahrhundert
Beiträge – Schwerpunkt: Kulturgeschichten des Impfens
Karel Černý Protection before Vaccination: “Buying of Pustules” in Early Modern Central Europe
Andreas Golob Die präventive Blatternbekämpfung im Spiegel des Wiener Zeitungswesens. Sondierungen von 1722 bis 1812
Maren C. Biederbick Medaillen als Mittel der Impfpopularisierung
Elke Hammer-Luza „Läßt nicht impfen.“ Widerstände gegen die Vakzination in der Steiermark in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Elena Taddei Aspekte von indirektem Impfzwang im Rahmen der Pockenschutzimpfung im Tirol des 19. Jahrhunderts
Alois Unterkircher Die Fotoserie aus der „Königlich Bayerischen Zentralimpfanstalt“ in München (ca. 1914): Potentiale einer visuellen „Kulturgeschichte des Impfens“
Carlos Watzka Pockensterblichkeit und Pockenimpfung in der Peripherie: Die Zurückdrängung der Blattern in der Bukowina während des 19. Jahrhunderts im Kontext der Gesundheitspolitik in der Habsburgermonarchie
Elisabeth Dietrich-Daum Impfen erzwingen: Mündige Bürger*innen und säumige Landespolitiker in der Vorarlberger Poliomyelitis-Epidemie von 1958
Annette Hinz-Wessels Entscheidungsprozesse der bundesdeutschen Gesundheitspolitik im Kalten Krieg – die Einführung der Schluckimpfung in der Bundesrepublik im Jahr des Mauerbaus
Marina Hilber Austrian Vaccine Diplomacy. A Cold War Mission against Poliomyelitis
María-Isabel Porras Gallo / María-Victoria Caballero Different Strategies of Vaccination against Poliomyelitis in the European Region of the World Health Organization
Teresa Weber Grundrechtliche Schranken einer Impfpflicht
Projektberichte
Josef Hlade Theodor Hahns (1824–1883) medizinischer Ratgeber gegen Cholera von 1849: Parallelen zur aktuellen alternativmedizinischen Debatte?
Sophia Bauer Von Lehrbüchern und Skalpellen. Die Geschichte des anatomischen Unterrichts an der Wiener Medizinischen Fakultät (1845–1945)
Rezensionen
Kay Peter JANKRIFT, Im Angesicht der „Pestilenz“. Seuchen in westfälischen und rheinischen Städten (1349–1600) (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beiheft 72, Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag) (Sabine Veits-Falk)
Michael STOLBERG, Gelehrte Medizin und ärztlicher Alltag in der Renaissance (Berlin–Boston 2021: DeGruyter Oldenbourg) (Elena Taddei)
Sabine SCHLEGELMILCH, Ärztliche Praxis und sozialer Raum im 17. Jahrhundert. Johannes Magirus (1615–1697) (Wien–Köln–Weimar: Böhlau 2018) (Irmtraut Sahmland)
Elke HAMMER-LUZA, Im Arrest. Zucht-, Arbeits- und Strafhäuser in Graz (1700–1850) (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Ergänzungsband 63, Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark Band 83, Wien–Köln–Weimar 2019: Böhlau) (Christina Vanja)
Christina VANJA / Heide WUNDER, Hg., Die Taunusbäder. Orte der Heilung und der Geselligkeit (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 181, Darmstadt und Marburg 2019: Selbstverlag der Hessischen Historischen Kommission Darmstadt und der Historischen Kommission für Hessen) (Elke Hammer-Luza)
Franz X. EDER, Eros, Wollust, Sünde. Sexualität in Europa von der Antike bis in die Frühe Neuzeit (Frankfurt a.M. 2018: Campus) (Carlos Watzka)
Birgit NEMEC, Norm und Reform. Anatomische Körperbilder im Wien um 1925 (Göttingen 2020: Wallstein Verlag) (Theresa Fehlner)
Felicitas SÖHNER / Thomas BECKER / Heiner FANGERAU, Hg., Psychiatrie-Enquete: mit Zeitzeugen verstehen. Eine Oral History der Psychiatriereform in der BRD (Köln 2020: Psychiatrie Verlag) (Uta Kanis-Seyfried)
Jürgen MARTSCHUKAT, Das Zeitalter der Fitness. Wie der Körper zum Zeichen für Erfolg und Leistung wurde (Frankfurt a.M. 2019: S. Fischer) (Christian Kaiser)
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