Wie viele Bindestrichdisziplinen ringt auch die Rechtssoziologie fortwährend um eine angemessene Verhältnisbestimmung zwischen Jurisprudenz und Soziologie. Wer den gegenwärtigen Diskussionsstand verstehen will, tut gut daran, frühere Abgrenzungsstreitigkeiten zwischen Rechtswissenschaft und (Rechts-)Soziologie genauer zu betrachten. Besonders interessant waren sie in den 1970er-Jahren der alten Bundesrepublik, als um die je eigenen Funktionen und Aufgaben, um Chancen und Probleme verschiedener Theorieprogramme und unterschiedlicher Formen der Institutionalisierung, um das Für und Wider beim Ziehen und Überschreiten disziplinärer Grenzen gerungen wurde. Unter der Überschrift „Reform, Revolte, Rechtssoziologie – zum Verhältnis von Sozialwissenschaft und Jurisprudenz während der langen 1970er-Jahre“ versammelt die aktuelle Ausgabe des Mittelweg 36 Aufsätze, die die damals geführten Debatten nachzeichnen, und Stimmen, die die Diskussionen jener Zeit kommentieren.
Rüdiger Lautmann identifiziert in seinem Beitrag „Reform, Fusion, Tradition?“ drei Diskurse und untersucht, wie sie sich jeweils institutionell niederschlugen, insbesondere in der versuchten Reform der Juristenausbildung. Inwiefern lassen sich sozialwissenschaftliche Herangehensweisen im Allgemeinen und soziologische Erkenntnisse im Besonderen für die juristische Fallbearbeitung fruchtbar machen, konkret: Wie lässt sich die „Soziologie im freien Fall“ unterbringen? Um diese Frage zu beantworten, untersucht Susanne Karoline Paas zivilrechtliche Lehrbücher der 1970er-Jahre. Unter der Überschrift „Abgrenzungen – aber welche Rechtswissenschaft von welcher Soziologie“ befasst sich Joachim Rückert mit der Umgestaltung der Juristenausbildung, wie sie in jenem Zeitraum an acht Universitäten modellweise stattfand. Am Paradebeispiel Hannover arbeitet Rückert heraus, dass man sich im Zuge dessen auch um eine stärkere Integration der Sozialwissenschaften bemühte.
Aber es profitierten nicht nur die juristischen Reformdebatten von soziologischen Perspektiven und Expertisen. Auch die (Rechts-)Soziologie bekam durch den Austausch mit der Jurisprudenz neue Impulse. Namhafte Soziologen wie Helmut Schelsky und Niklas Luhmann übten auf diesem Weg fachinterne Kritik, dies macht der Beitrag „Rechtssoziologie ohne Recht, ohne Soziologie – und mit ‚zu viel‘ Recht“ von Patrick Wöhrle deutlich. 1969 erschien Wolfgang Kaupens viel beachtete Studie Die Hüter von Recht und Ordnung, bis heute eine zentrale Referenz für die Rechts- und Justizsoziologie. Der gleichnamige Aufsatz von Berthold Vogel berichtet von einem aktuellen Forschungsprojekt, das den sozialen Hintergrund, die Haltungen und die Arbeitswirklichkeit von heutigen Richter:innen und Staatsanwält:innen untersucht.
Außerdem äußern sich in den persönlich gehaltenen „Zwischentönen“ Ulrike Schultz, Eva Kocher, Andreas Fischer-Lescano und Stefan Machura zu den im Heft behandelten Abgrenzungsstreitigkeiten. Insgesamt wird deutlich: Das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Soziologie war – und ist nach wie vor – Gegenstand von theoretischen, methodischen und institutionellen Aushandlungen.