Das Tarifvertragssystem in Deutschland steht unter Druck. Bereits seit den 1990er-Jahren ist ein Rückgang der Tarifbindung zu beobachten. Die Gewerkschaften wurden in den vergangenen dreißig Jahren schwächer und ihre gesellschaftliche Handlungs- und Gestaltungskraft nahm ab. Durch marktliberale Reformen in der Wirtschafts-, Arbeits-, und Sozialpolitik, aber auch durch strategische (Fehl-)Entscheidungen sind sie in die Defensive geraten. Zudem mindert der seit Jahrzehnten andauernde Mitgliederverlust ihre Durchsetzungskraft. Daneben haben sich die Strategien der Arbeitgeber seit den 1990er-Jahren verändert.
Die Schwäche der Gewerkschaften in vielen Sektoren und Regionen führt dazu, dass die tariflich vereinbarten Löhne und Arbeitsbedingungen die ökonomische Lage der Beschäftigten kaum verbessern. Insbesondere in Ostdeutschland und auch im Dienstleistungssektor wird die Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro eine Vielzahl von Tarifverträgen obsolet machen, da er deutlich über der dort festgelegten untersten Lohngruppe liegt. Allein dieser Umstand wirft die Frage nach der Legitimation der Tarifautonomie und ihr Verhältnis zur staatlichen Lohnpolitik auf.
Die PROKLA 211 greift verschiedene Themen rund um den Tarifvertrag auf: Das Verhältnis zwischen Tarifpolitik und Arbeitszeit, die tarifpolitischen Strategien der Gewerkschaften in Ostdeutschland, die Bedeutung der Mindestlohnerhöhung für die Tarifautonomie sowie die Tarifpolitik in der plattformvermittelten Lieferarbeit.
Martin Beckmann / Rudi Schmidt / Felix Syrovatka: Editorial S. 200-215
Hilde Wagner: Gewerkschaftliche Kämpfe um (Regulations-)Macht und Zeit. Tarifpolitik und Arbeitszeit am Beispiel der Metall- und Elektroindustrie S. 219-242
Ingrid Artus / Andreas Fischer / Judith Holland / Michael Whittall: Im Osten was Neues? Tarifpolitische Strategien der IG Metall in Ostdeutschland S. 219-242
Alexander Maschke: Die Bedeutung der Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro für die Tarifautonomie. Fallstudie am Beispiel der IG Metall in Mecklenburg-Vorpommern S. 245-266
Janis Ewen: Schluss mit ausgeliefert? Tarifpolitik in der plattformvermittelten Lieferarbeit S. 269-287
Einsprüche
Marvin Ester / Rhonda Koch: Für eine psychoanalytisch-sozialpsychologische Perspektive auf die Klimakrise S. 307-318
Frank Adler / Ulrich Schachtschneider: Sozial-ökologische Reduktion – unverzichtbar für linke Transformationsstrategien S. 319-329
Hans Rackwitz: Probleme der sozial-ökologischen Klassenanalyse und die Grenzen des Umweltbewusstseins S. 331-341
Jenseits des Schwerpunkts
Stefan Schoppengerd: Arbeit und sozial-ökologische Transformation. Eine kritische Rekonstruktion der Environmental Labour Studies S. 343-360
Dimitri Isabell Mader | Herrschaft und Handlungsfähigkeit im Kapitalismus. Bedeutung und Grenzen der »Macht des Kapitals« für eine Analyse von Macht und Herrschaft im Kapitalismus S. 361-381
Ulrich Brand / Christoph Görg: »Der Frankfurter Marxismus war immer anders.« Gespräch mit Joachim Hirsch S. 383-400