Das diesjährige Jahrbuch spiegelt gleich mehrere einschlägige Ereignisse am und für das Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) aus dem Jahr zuvor wider. Im Herbst 2022 wurde das 40-jährige Jubiläum mit einem Festakt begangen, auf dem Moshe Zimmermann, Professor emeritus der Hebräischen Universität Jerusalem, die Gründungsgeschichte des ZfAs beleuchtete, die weit in die 1970er Jahre zurückreicht. Zugleich nutzte er die Gelegenheit, einige kritische Anmerkungen zum allgemeinen Stand der Antisemitismusforschung zu machen, die in der Dokumentation seiner Rede nachgelesen werden können. Die Leiterin der Bibliothek des ZfA, Irmela Roschmann-Steltenkamp, zeichnet archivgestützt die Überlegungen beim Aufbau einer solchen Spezialbibliothek nach. Auch in in dieser Ausgabe werden zwei große, am ZfA angesiedelte Projekte vorgestellt. Zunächst schildern Matthias J. Becker und Marcus Schreiber das Pilotprojekt „Decoding Antisemitism“, das in Zusammenarbeit mit dem King‘s College in London durchgeführt wird. Der Fokus dieses in drei Ländern arbeitenden KI-basierten Projekts liegt auf der Entwicklung von monitoring tools, die es ermöglichen sollen, antijüdische Sprechakte im Internet auch dann zu identifizieren, wenn sie kodiert auftreten. Ein weiteres Großprojekt ist das am ZfA angesiedelte sogenannte Meta-Vorhaben des „Forschungsnetzwerks Antisemitismus im 21. Jahrhundert“ (FoNA21), das gemeinsam mit zehn Verbundprojekten im Rahmen der Förderlinie „Aktuelle Dynamiken und Herausforderungen des Antisemitismus“ vom BMBF finanziert wird. Das Meta-Vorhaben macht einerseits die Forschungsprozesse und Ergebnisse der Forschungsverbünde für die Praxis der Zivilgesellschaft bestmöglich nutzbar und bringt zugleich die verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze innerhalb des Netzwerks in einen konstruktiven Austausch. Helge-Fabien Hertz, Koordinator des Verbundprojekts „Net Olam – Jüdische Friedhofe im Fokus von Antisemitismus und Prävention“, erläutert in seinem Beitrag sowohl den Aufbau des gesamten Netzwerks als auch die Forschungsinhalte seines spezifischen Projekts. Auf die Verzahnung mit der Praxis auf unterschiedlichen Feldern der Antisemitismusprävention macht Kai E. Schubert aufmerksam und unterzieht hierfür die Bildungskonzepte zum Thema „Antisemitismus und Muslim:innen“ einer kritischen Überprüfung, während das FoNA21-Mitglied Jobst Paul die Probleme der schulischen Vermittlung am Beispiel der dort verwendeten Sprachbilder beleuchtet. Diese nicht zuletzt durch die Praxis immer wieder aufs Neue aufgeworfenen Fragen führen mit ebensolcher Regelmäßigkeit zu Forderungen nach klaren Definitionen und darauf aufbauenden „harten“, also in Zahlen ausgedrückten „Fakten“ zur Virulenz des Judenhasses. Thomas Haury rekapituliert in seinem Beitrag den Streit um die „richtige“ Definition von Antisemitismus vor dem Hintergrund der Politisierung des Feldes in den letzten Jahren, während Werner Bergmann Studien, die Einstellungen gegenüber Jüdinnen und Juden im europäischen Vergleich in den letzten fünf Jahren vermessen, einer umfassenden Analyse unterzieht. Das Ergebnis untermauert noch einmal den Eindruck einer offensichtlichen Diskrepanz zwischen einem Rückgang antisemitischer Einstellungen bei gleichzeitiger Zunahme von antisemitischen Vorfällen, bei einer steigenden medialen und politischen Aufmerksamkeit für das Thema. Im Zentrum dieser Aufmerksamkeit stand im Jahre 2022 zweifellos die Debatte um Antisemitismus auf der internationalen Kunstausstellung documenta 15 in Kassel. Ausgehend von der Beobachtung, dass dabei zwar viel über Indonesien geredet wurde, aber kaum fundiertes Wissen über das Land und schon gar nicht über indonesischen Antisemitismus vorhanden war, hat das ZfA im Januar 2023 ein Webinar zum Thema „Colonialism, Antisemitism and Dictatorship in Indonesia“ veranstaltet, zu dem fünf internationale Expert:innen eingeladen waren, die sich zu unterschiedlichen Aspekten der documenta-Debatte und indonesischer Geschichte äußerten. Die Beiträge des niederländischen Soziologen Martin van Bruinessen sowie des Südostasienexperten Timo Duile konnten für diese Ausgabe des Jahrbuchs gewonnen werden. Während Timo Duile einen Überblick über den indonesischen Antisemitismus gibt und seine Besonderheiten bzw. Unterschiede zu den europäischen Varianten herausarbeitet, stellt Martin van Bruinessen einschlägige antisemitische Publikationen des Landes unter besonderer Berücksichtigung ihrer Bildsprache in den Fokus seiner Ausführungen. Wie kompliziert die Interpretation antisemitischer Aussagen und Handlungen in einem anderen kulturellen Kontext sein können, zeigt auch Regine Erichsen konkret in ihrem Beitrag zur Perspektive deutsch-jüdischer Emigrant:innen auf die Realität und den Alltag im türkischen Exil. Kolja Buchmeier wiederum gelingt es auf der Grundlage von Personalkarten, die die Wehrmacht für jeden Kriegsgefangenen anlegen musste, die Handlungsspielräume sowjetischer Kriegsgefangener auszuloten. Den Abschluss bilden vier Beiträge, die auf einer internationalen Konferenz zum Erscheinen von Hannah Arendts "The Origins of Totalitarianism/Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft" im Kontext der von der DFG geförderten Kritischen Gesamtausgabe im Oktober 2022 an der FU gehalten wurden. Es ist uns eine besondere Freude, im Jahrbuch die Texte von Derek J. Penslar, Amir Engel, Helmut Walser Smith und Rebecca Wittmann präsentieren zu können. Gemeinsam entwerfen sie ein umfassendes, die historische Dynamik nachzeichnendes Panorama von Hannah Arendts Beschäftigung mit dem Thema Antisemitismus, das von ihrer sich wandelnden Haltung zum Zionismus ebenso zeugt wie von ihren kontroversen und auch in sich widersprüchlichen Einschätzungen des Eichmann-Prozesses.
STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM Vorwort
IN EIGENER SACHE
40 JAHRE ZENTRUM FÜR ANTISEMITISMUSFORSCHUNG
MOSHE ZIMMERMANN Altneuland: Forschungsobjekt Antisemitismus. Eine Festrede zum 40-jährigen Jubiläum des Zentrums für Antisemitismusforschung
IRMELA ROSCHMANN-STELTENKAMP „Es ist ein einziger großer Giftschrank voller Gemeinheiten, Gehässigkeiten und Brutalität.“ Vierzig Jahre Archiv und Bibliothek des Zentrums für Antisemitismusforschung
FORSCHUNGSPROJEKTE AM ZENTRUM FÜR ANTISEMITISMUSFORSCHUNG/FONA21
MATTHIAS J. BECKER/MARCUS SCHREIBER Decoding Antisemitism
HELGE-FABIEN HERTZ „Net Olam“. Antisemitismusforschung im Spiegel der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben
NATIONALSOZIALISMUS
REGINE ERICHSEN Antisemitismus am Fluchtort Türkei. Erinnerungen von Emigranten aus NS-Deutschland vor dem Hintergrund historischer Quellen
KOLJA BUCHMEIER Handlungsspielräume sowjetischer Kriegsgefangener im Stalag III D Berlin zwischen Kollaboration und Widerstand
HANNAH ARENDT’S THE ORIGINS OF TOTALITARIANISM
DEREK PENSLAR Arendt, Zionism, and Colonialism
AMIR ENGEL From a Jewish Army to Political Resignation Hannah Arendt's Evolving Conception of Antisemitism
HELMUT WALSER SMITH Hannah Arendt’s “Antisemitism-Book“ and the Shifting Vanishing Points of The Origins of Totalitarianism
REBECCA WITTMANN Arendt, Antisemitism, and Eichmann: Enduring Questions on Motivation
ANTISEMITISMUS IN INDONESIEN
TIMO DUILE Antisemitismus in Indonesien und die documenta fifteen -Kontroverse in Deutschland
MARTIN VAN BRUINESSEN Jews, Israel, Antisemitism and Islamic Populism in Indonesia
ANTISEMITISMUS DEFINIEREN UND MESSEN
THOMAS HAURY Das Einfache, das doch so schwer zu machen ist? Zum Streit um die Definition von Antisemitismus
WERNER BERGMANN Einstellungen gegenüber Juden im europäischen Vergleich 2017–2022
ANTISEMITISMUSPRÄVENTION
KAI E. SCHUBERT Bildungskonzepte zum Thema „Antisemitismus und Muslim*innen“. Merkmale, Lücken und Fallstricke
JOBST PAUL Die Binarismus-Analyse als Beitrag der Sprachwissenschaft zur Frage der Rassismus/Antisemitismus-Interferenz
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN