Die Rechtsgeschichte steht, wie schon ihr Name zu erkennen gibt, zwischen den Rechts- und den Geschichtswissenschaften. Was aber, wenn eine der beiden »Mutterdisziplinen« nur geringes Interesse an ihren Erkenntnissen zeigt? Mit dieser Frage befasste sich im vergangenen Jahr Dieter Grimm. Er hatte seine Karriere vor über einem halben Jahrhundert am damaligen Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte begonnen, ehe er Professor in Bielefeld, Richter am Bundesverfassungsgericht und schließlich Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin wurde. In seinem vielbeachteten Buch »Die Historiker und die Verfassung« zeigte er nun, dass die maßgeblichen geschichtswissenschaftlichen Gesamtdarstellungen den Beitrag des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichts zur Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg nur höchst selektiv diskutieren. Für diesen Band der Rechtsgeschichte – Legal History hat er seine Kritik noch einmal in englischer Sprache und für eine internationale Leserschaft zusammengefasst und zu einem Plädoyer für eine Integration der Verfassungsgeschichte in die allgemeinen Geschichtswissenschaften zugespitzt. Reaktionen einer Reihe von renommierten Geschichts-, Rechts-, Politik- und Sozialwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen auf Grimms Thesen, die im Februar dieses Jahres auf einem Workshop am Institut diskutiert wurden, sind mitsamt seiner Replik im Forum dieser Ausgabe abgedruckt.
Im Recherche-Teil wird ein weiteres Thema im Spannungsfeld zwischen Rechts- und Geschichtswissenschaften angesprochen. Jan Thiessen erörtert, wie das Archivrecht und die Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht in Deutschland die zeitgeschichtliche Forschung behindern. Dies betrifft, wie Thiessen zeigt, zahlreiche tagespolitisch brisante Fragen, etwa die nach einer Entschädigung für die Verbrechen an den Völkern der Herero und Nama in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Die Rechtsprechung der deutschen Höchstgerichte im Hinblick auf diese und andere deutsche Kolonien um 1900 steht im Mittelpunkt des folgenden Beitrags. Jakob Zollmann untersucht, wie insbesondere das Reichsgericht Rechtsstreitigkeiten abschließend entschied, die in den lokalen kolonialen Gerichtsbarkeiten begonnen hatten. Der Recherche-Teil wird abgerundet durch zwei Beiträge, die uns nach Mittel- und Osteuropa führen. József Szabadfalvi gibt einen Überblick über die Entstehung einer eigenständigen ungarischen Rechtsterminologie, die sich nach Überwindung des Lateinischen als Juristensprache nur mühsam im Widerstand gegen die deutsche Rechtssprache des Habsburgerreichs durchsetzen konnte. Stefan Christian Ionescu wiederum zeigt, wie rumänische Beamte, die sich während des Zweiten Weltkriegs aktiv an der »Arisierung« jüdischen Eigentums beteiligt hatten, ihre Karrieren in der Nachkriegszeit zunächst weitgehend unbehelligt fortsetzen konnten.
Der von David Rex Galindo verantwortete Fokus befasst sich mit neueren Ansätzen der Erforschung indigener Zwangsarbeit in Grenzgebieten des spanischen Imperiums vom Spätmittelalter bis zum Verlust der letzten spanischen Kolonien (1898). Nicht alle Erscheinungsformen dieses Phänomens lassen sich mit dem Begriff der Sklaverei zutreffend erfassen, wie die vier Aufsätze unter Berücksichtigung rechts-, sozial- und kirchengeschichtlicher Methoden verdeutlichen. Sie beschreiben diverse Institutionen und Rechtsformen, die die Ausbeutung indigener Arbeitskraft in so unterschiedlichen Territorien wie Granada und den kanarischen Inseln, Chile und New Mexico sowie den Philippinen ermöglichten. Diese Beiträge zur frühneuzeitlichen Arbeitsrechtsgeschichte in globaler Perspektive entstanden im Rahmen einer Max-Planck-Partnergruppe an der Universidad Adolfo Ibáñez in Santiago de Chile.
Angelehnt an den Fokus ist die Bildstrecke der gedruckten Ausgabe unserer Zeitschrift: historische Karten, Stadtansichten und Illustrationen vom 16. bis 19. Jahrhundert, die einige der dort behandelten Regionen und Schauplätze zeigen. Sie stammen aus bedeutenden digitalen Sammlungen der Nationalbibliotheken in Madrid und Santiago de Chile, der John Carter Brown Library (Providence) und der California State University, Monterey Bay.
Der ausführliche Rezensionsteil bietet unter der Überschrift Kritik 40 Buchbesprechungen, in denen sich die Vielfalt der Rechtsgeschichte und der am Frankfurter Institut betriebenen Forschung widerspiegelt. Abgerundet wird dieser Band durch eine Marginalie von Thomas Duve, die sich mit dem Werk Paolo Grossis auseinandersetzt. Der im Juli 2022 verstorbene italienische Rechtshistoriker, in dessen Schriften die mittelalterliche europäische »Rechtsordnung« eine zentrale Stellung einnahm, war dem Institut über viele Jahre eng verbunden. Wie der vier Jahre jüngere Grimm führte ihn seine Karriere übrigens als Richter an das nationale Verfassungsgericht, wenn auch in Rom und nicht in Karlsruhe. Aus dem eingangs beschriebenen Spannungsfeld zwischen Rechts- und Geschichtswissenschaften scheinen also Persönlichkeiten hervorzugehen, die über die Rechtsgeschichte hinaus für das Rechtsleben prägend sind. Für eine Disziplin, die sich dezidiert der Grundlagenforschung widmet, ist das durchaus bemerkenswert.
Recherche – research
18 – Dieter Grimm Constitutional History as an Integral Part of General History: The German Case
32 – Jan Thiessen Behindert das (deutsche) Recht die zeithistorische Forschung ?
52 – Jakob Zollmann Recht sprechen über »besondere Gebilde« – die koloniale Gerichtsbarkeit und das Reichsgericht
77 – József Szabadfalvi A Short History of the Formation of Hungarian Legal Terminology
92 – Stefan Cristian Ionescu Aryanization Bureaucrats in Post-Holocaust Romania
Fokus – focus
Indigenous Labor on the Frontiers of the Spanish Empire
112 – David Rex Galindo Studying Indigenous Labor and Coercion on the Frontiers of the Spanish Empire: An Introduction
118 – Mirko Suzarte Škarica Slaves and Captives Between Castile, Granada, and the Canary Islands: Frontier and Judicial Dynamics in the 15th and 16th Centuries
132 – Constanza López Lamerain Ecclesiastics and Indigenous Slavery on the Frontier: The Case of Chile in the 16th and 17th Centuries
164 – David Rex Galindo Forms of Indigenous Labor on New Spain’s Northern Frontiers: The Cases of New Mexico and California (17th –18th Centuries)
161 – Carolina Hiribarren Cardoen Abuse or Slavery ? A Look at Practices of Debt Peonage from the 19th-Century Philippines
Forum – forum
Dieter Grimm, Die Historiker und die Verfassung
176 – Birgit Aschmann Die sozialliberalen Reformen auf dem Prüfstand: zur Abtreibungsfrage
179 – Pascale Cancik Welche »Wirklichkeit«?
182 – Eckart Conze Verfassungswandel durch Grundgesetzänderungen
185 – Verena Frick Die Konstitutionalisierung der Politik. Auch eine Politisierung der Verfassung?
188 – Ingrid Gilcher-Holtey Integration der Rechts- und Verfassungsgeschichte in die Allgemeingeschichte? Die Perspektive der Historischen Soziologie
191 – Anna-Bettina Kaiser Sperrig, aber nicht unlesbar? Zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
194 – Jürgen Kocka Herausforderung und Anregung
197 – Christoph Schönberger Das Bundesverfassungsgericht als Deus ex Machina der Geschichte der Bundesrepublik?
200 – Hans Vorländer Wie sich die Geschichte des Grundgesetzes mit einer Rekonzeptualisierung des Verfassungsbegriffs schreiben lässt
203 – Rainer Wahl Der schwierige Zugang zum Richterrecht des Bundesverfassungsgerichts
207 – Christian Waldhoff Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes
210 – Dieter Grimm Ein Rückblick auf »Die Historiker und die Verfassung« anhand der Frankfurter Kommentare
Kritik – critique
218 – Daniel Damle Cicerone der Regeln Lorraine Daston, Rules. A Short History of What We Live By
2020 – Stefan Vogenauer Roman Law Reloaded Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (eds.), Handbuch des Römischen Privatrechts
221 – Cosima Möller Diversity bei den römischen Juristen – Geschichtlichkeit und die Rolle der Dogmatik Fara Nasti, Aldo Schiavone (Hg.), Jurists and Legal Science in the History of Roman Law
224 – Damian Augusto Gonzales Escudero Performance as a New Direction for Legal History Julie Stone Peters, Law as Performance
226 – Caspar Ehlers Honi soit qui mal y pense Björn Weiler, Paths to Kingship in Medieval Latin Europe
229 – Christoph H. F. Meyer References in the Vineyard of the Legal Text Sabine Griese, Claudine Moulin (Hg.), Verweiskulturen des Mittelalters
232 – Toomas Kotkas What’s the Point in Quantifying Legal Codifications? Fredrik Charpentier Ljungqvist, Quantitative Approaches to Medieval Swedish Law
234 – Rômulo da Silva Ehalt The Multilayered World of Medieval Japanese Legal History Matsuzono Junichirō, The World of Muromachi and Sengoku Law
236 – Caspar Ehlers Zettels Raum Larry May, Medieval Legal and Political Thought
237 – Kyriaco Nikias Legal Sources from the Venetian East Nikos E. Karapidakis (ed.), Libro d’ordini del Consiglio della magnifica Città di Corfù, 1422 –1797
240 – Camilla de Freitas Macedo El bosque en foco: posibilidades transdisciplinares de estudio Alessandra Dattero (ed.), Il bosco
242 – Alina Rodríguez Sánchez Historia ambiental e historia del derecho Richard M. Conway, Islands in the Lake
244 – Andrea Cicerchia Giustizia divina e giustizia terrena Guido Dall’Olio, Nella valle di Giosafat
246 – Lorenzo Maniscalco Teoria e pratica giuridica nei tractatus e consilia di Francisco Suárez Dominique Bauer, Randall C. H. Lesaffer (eds.), History, Casuistry and Custom in the Legal Thought of Francisco Suárez
248 – Pilar Mejía El arte sacro como agente de normatividad Chiara Franceschini (ed.), Sacred Images and Normativity Giuseppe Capriotti, Sabina Pavone, Pierre-Antoine Fabre (eds.), Eloquent Images
251 – Manuel Bastias Saavedra El imperio portugués y las raíces profundas de Goa Ângela Barreto Xavier, Religion and Empire in Portuguese India
254 – Paulien Broens A Deep Dive into England’s Early Africa Companies Julie Mo Svalastog, Mastering the Worst of Trades
255 – Winner Ijeoma Rule of Law im kolonialen Africa? Michael Lobban, Imperial Incarceration
257 – Matilde Cazzola Guardie, ladri e la giurisprudenza dell’anticipazione Sal Nicolazzo, Vagrant Figures
259 – Victoria Hooton Pauper Agency and Negotiation Under the Old Poor Law Peter Jones, Steven King (eds.), Navigating the Old English Poor Law
261 – Emily Kadens Commerce Between Law and Practice Ross Cranston, Making Commercial Law Through Practice
264 – Uponita Mukherjee Insanity, Crime and Responsibility Cases: A View of Common Law from the British Empire Catherine L. Evans, Unsound Empire
267 – Fabian Klose Zur Ambivalenz humanitären Handelns im British Empire Zoë Laidlaw, Protecting the Empire’s Humanity
269 – Erica Kim Ollikainen-Read Exploring the Power of Victorian Narratives Leila Neti, Colonial Law in India and the Victorian Imagination
271 – Karla L. Escobar H. Desentrañando el poder colonial: emociones, sentimientos y resistencia para una nueva historia del derecho Tanya Agathocleous, Disaffected: Emotion, Sedition, and Colonial Law in the Anglosphere
273 – José M. Portillo La modernidad política en el Otro Occidente María Teresa Calderón, Aquella república necesaria e imposible
275 – Nina Cozzi The Drafting of the Post-War Constitutions in France and Italy. Differences and Similarities Sandro Guerrieri, Costituzioni allo specchio
277 – Bernardo Sordi Il diritto internazionale visto dal problematico State building della penisola italiana Giulio Bartolini, A History of International Law in Italy
280 – Karl Härter Limitierte positivistische Kriminologie und Herausforderungen der Strafrechtsreform Michele Pifferi (ed.), The Limits of Criminological Positivism
283 – Christoph Resch Rätsellösende Rechtsvergleicher:innen ? Balázs Fekete, Paradigms in Modern European Comparative Law
285 – Marietta Auer Der Mann ohne Eigenschaften Thomas Olechowski, Hans Kelsen
291 – Matthew H. Kramer Hohfeld and Some Missed Opportunities Shyamkrishna Balganesh, Ted Sichelman, Henry Smith (eds.), Wesley Hohfeld a Century Later
293 – Sara Dezalay Capitalizing on International Law’s Fragmentation Kathryn Greenman, State Responsibility and Rebels
295 – Nina Cozzi Neue Erkenntnisse zur Nichteinhaltung von EU-Recht Tanja A. Börzel, Why Noncompliance
297 – Anna Quadflieg Drei Dimensionen der Gleichheit im Europarecht Giovanni Zaccaroni, Equality and Non-Discrimination in the EU
298 – Victoria Hooton Three Cheers to Interdisciplinary Research of European Union Law Albertina Albors-Llorens, Catherine Barnard, Brigitte Leucht (eds.), Cassis de Dijon
301 – Jan-Henrik Meyer European Union Constitution Making and the Media. Lessons from Maastricht Manuel Müller, Ein verpasster Verfassungsmoment
303 – Shlomi Balaban Taking the Ambivalent Road Rotem Giladi, Jews, Sovereignty, and International Law
305 – Fabian Steinhauer Voraussitzungen Christoph Schönberger, Auf der Bank. Die Inszenierung der Regierung im Staatstheater des Parlamentes
308 – Thomas Duve Erzählen statt prozessieren? Wolfgang Knöbl, Die Soziologie vor der Geschichte
Marginalien – marginalia
314 – Thomas Duve Rechtsgeschichte und Ordnungsdenken. Zum rechtshistorischen Werk von Paolo Grossi