Rechtsgeschichte – Legal History 31 (2023)

Titel der Ausgabe 
Rechtsgeschichte – Legal History 31 (2023)

Erschienen
Frankfurt am Main 2023: Vittorio Klostermann
Erscheint 
jährlich
ISBN
978-3-465-04614-1
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 49,00

 

Kontakt

Institution
Rechtsgeschichte – Legal History
Land
Deutschland
Ort
Frankfurt am Main
c/o
Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte Redaktion Rechtsgeschichte Hansaallee 41 60323 Frankfurt am Main Tel. ++49-69.78978-200 Fax ++49-69-78978-210 Anregungen und Manuskripte unter: rg@rg.mpg.de
Von
Kerstin Willburth, Redaktion, Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie

Die Rechtsgeschichte steht, wie schon ihr Name zu erkennen gibt, zwischen den Rechts- und den Geschichtswissenschaften. Was aber, wenn eine der beiden »Mutterdisziplinen« nur geringes Interesse an ihren Erkenntnissen zeigt? Mit dieser Frage befasste sich im vergangenen Jahr Dieter Grimm. Er hatte seine Karriere vor über einem halben Jahrhundert am damaligen Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte begonnen, ehe er Professor in Bielefeld, Richter am Bundesverfassungsgericht und schließlich Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin wurde. In seinem vielbeachteten Buch »Die Historiker und die Verfassung« zeigte er nun, dass die maßgeblichen geschichtswissenschaftlichen Gesamtdarstellungen den Beitrag des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichts zur Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg nur höchst selektiv diskutieren. Für diesen Band der Rechtsgeschichte – Legal History hat er seine Kritik noch einmal in englischer Sprache und für eine internationale Leserschaft zusammengefasst und zu einem Plädoyer für eine Integration der Verfassungsgeschichte in die allgemeinen Geschichtswissenschaften zugespitzt. Reaktionen einer Reihe von renommierten Geschichts-, Rechts-, Politik- und Sozialwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen auf Grimms Thesen, die im Februar dieses Jahres auf einem Workshop am Institut diskutiert wurden, sind mitsamt seiner Replik im Forum dieser Ausgabe abgedruckt.

Im Recherche-Teil wird ein weiteres Thema im Spannungsfeld zwischen Rechts- und Geschichtswissenschaften angesprochen. Jan Thiessen erörtert, wie das Archivrecht und die Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht in Deutschland die zeitgeschichtliche Forschung behindern. Dies betrifft, wie Thiessen zeigt, zahlreiche tagespolitisch brisante Fragen, etwa die nach einer Entschädigung für die Verbrechen an den Völkern der Herero und Nama in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Die Rechtsprechung der deutschen Höchstgerichte im Hinblick auf diese und andere deutsche Kolonien um 1900 steht im Mittelpunkt des folgenden Beitrags. Jakob Zollmann untersucht, wie insbesondere das Reichsgericht Rechtsstreitigkeiten abschließend entschied, die in den lokalen kolonialen Gerichtsbarkeiten begonnen hatten. Der Recherche-Teil wird abgerundet durch zwei Beiträge, die uns nach Mittel- und Osteuropa führen. József Szabadfalvi gibt einen Überblick über die Entstehung einer eigenständigen ungarischen Rechtsterminologie, die sich nach Überwindung des Lateinischen als Juristensprache nur mühsam im Widerstand gegen die deutsche Rechtssprache des Habsburgerreichs durchsetzen konnte. Stefan Christian Ionescu wiederum zeigt, wie rumänische Beamte, die sich während des Zweiten Weltkriegs aktiv an der »Arisierung« jüdischen Eigentums beteiligt hatten, ihre Karrieren in der Nachkriegszeit zunächst weitgehend unbehelligt fortsetzen konnten.

Der von David Rex Galindo verantwortete Fokus befasst sich mit neueren Ansätzen der Erforschung indigener Zwangsarbeit in Grenzgebieten des spanischen Imperiums vom Spätmittelalter bis zum Verlust der letzten spanischen Kolonien (1898). Nicht alle Erscheinungsformen dieses Phänomens lassen sich mit dem Begriff der Sklaverei zutreffend erfassen, wie die vier Aufsätze unter Berücksichtigung rechts-, sozial- und kirchengeschichtlicher Methoden verdeutlichen. Sie beschreiben diverse Institutionen und Rechtsformen, die die Ausbeutung indigener Arbeitskraft in so unterschiedlichen Territorien wie Granada und den kanarischen Inseln, Chile und New Mexico sowie den Philippinen ermöglichten. Diese Beiträge zur frühneuzeitlichen Arbeitsrechtsgeschichte in globaler Perspektive entstanden im Rahmen einer Max-Planck-Partnergruppe an der Universidad Adolfo Ibáñez in Santiago de Chile.

Angelehnt an den Fokus ist die Bildstrecke der gedruckten Ausgabe unserer Zeitschrift: historische Karten, Stadtansichten und Illustrationen vom 16. bis 19. Jahrhundert, die einige der dort behandelten Regionen und Schauplätze zeigen. Sie stammen aus bedeutenden digitalen Sammlungen der Nationalbibliotheken in Madrid und Santiago de Chile, der John Carter Brown Library (Providence) und der California State University, Monterey Bay.

Der ausführliche Rezensionsteil bietet unter der Überschrift Kritik 40 Buchbesprechungen, in denen sich die Vielfalt der Rechtsgeschichte und der am Frankfurter Institut betriebenen Forschung widerspiegelt. Abgerundet wird dieser Band durch eine Marginalie von Thomas Duve, die sich mit dem Werk Paolo Grossis auseinandersetzt. Der im Juli 2022 verstorbene italienische Rechtshistoriker, in dessen Schriften die mittelalterliche europäische »Rechtsordnung« eine zentrale Stellung einnahm, war dem Institut über viele Jahre eng verbunden. Wie der vier Jahre jüngere Grimm führte ihn seine Karriere übrigens als Richter an das nationale Verfassungsgericht, wenn auch in Rom und nicht in Karlsruhe. Aus dem eingangs beschriebenen Spannungsfeld zwischen Rechts- und Geschichtswissenschaften scheinen also Persönlichkeiten hervorzugehen, die über die Rechtsgeschichte hinaus für das Rechtsleben prägend sind. Für eine Disziplin, die sich dezidiert der Grundlagenforschung widmet, ist das durchaus bemerkenswert.

Inhaltsverzeichnis

Recherche – research

18 – Dieter Grimm
Constitutional History as an Integral Part of General History: The German Case

32 – Jan Thiessen
Behindert das (deutsche) Recht die zeithistorische Forschung ?

52 – Jakob Zollmann
Recht sprechen über »besondere Gebilde« – die koloniale Gerichtsbarkeit und das Reichsgericht

77 – József Szabadfalvi
A Short History of the Formation of Hungarian Legal Terminology

92 – Stefan Cristian Ionescu
Aryanization Bureaucrats in Post-Holocaust Romania

Fokus – focus

Indigenous Labor on the Frontiers of the Spanish Empire

112 – David Rex Galindo
Studying Indigenous Labor and Coercion on the Frontiers of the Spanish Empire: An Introduction

118 – Mirko Suzarte Škarica
Slaves and Captives Between Castile, Granada, and the Canary Islands: Frontier and Judicial Dynamics in the 15th and 16th Centuries

132 – Constanza López Lamerain
Ecclesiastics and Indigenous Slavery on the Frontier: The Case of Chile in the 16th and 17th Centuries

164 – David Rex Galindo
Forms of Indigenous Labor on New Spain’s Northern Frontiers: The Cases of New Mexico and California (17th –18th Centuries)

161 – Carolina Hiribarren Cardoen
Abuse or Slavery ? A Look at Practices of Debt Peonage from the 19th-Century Philippines

Forum – forum

Dieter Grimm, Die Historiker und die Verfassung

176 – Birgit Aschmann
Die sozialliberalen Reformen auf dem Prüfstand: zur Abtreibungsfrage

179 – Pascale Cancik
Welche »Wirklichkeit«?

182 – Eckart Conze
Verfassungswandel durch Grundgesetzänderungen

185 – Verena Frick
Die Konstitutionalisierung der Politik. Auch eine Politisierung der Verfassung?

188 – Ingrid Gilcher-Holtey
Integration der Rechts- und Verfassungsgeschichte in die Allgemeingeschichte? Die Perspektive der Historischen Soziologie

191 – Anna-Bettina Kaiser
Sperrig, aber nicht unlesbar? Zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

194 – Jürgen Kocka
Herausforderung und Anregung

197 – Christoph Schönberger
Das Bundesverfassungsgericht als Deus ex Machina der Geschichte der Bundesrepublik?

200 – Hans Vorländer
Wie sich die Geschichte des Grundgesetzes mit einer Rekonzeptualisierung des Verfassungsbegriffs schreiben lässt

203 – Rainer Wahl
Der schwierige Zugang zum Richterrecht des Bundesverfassungsgerichts

207 – Christian Waldhoff
Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes

210 – Dieter Grimm
Ein Rückblick auf »Die Historiker und die Verfassung« anhand der Frankfurter Kommentare

Kritik – critique

218 – Daniel Damle
Cicerone der Regeln
Lorraine Daston, Rules. A Short History of What We Live By

2020 – Stefan Vogenauer
Roman Law Reloaded
Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (eds.), Handbuch des Römischen Privatrechts

221 – Cosima Möller
Diversity bei den römischen Juristen – Geschichtlichkeit und die Rolle der Dogmatik
Fara Nasti, Aldo Schiavone (Hg.), Jurists and Legal Science in the History of Roman Law

224 – Damian Augusto Gonzales Escudero
Performance as a New Direction for Legal History
Julie Stone Peters, Law as Performance

226 – Caspar Ehlers
Honi soit qui mal y pense
Björn Weiler, Paths to Kingship in Medieval Latin Europe

229 – Christoph H. F. Meyer
References in the Vineyard of the Legal Text
Sabine Griese, Claudine Moulin (Hg.), Verweiskulturen des Mittelalters

232 – Toomas Kotkas
What’s the Point in Quantifying Legal Codifications?
Fredrik Charpentier Ljungqvist, Quantitative Approaches to Medieval Swedish Law

234 – Rômulo da Silva Ehalt
The Multilayered World of Medieval Japanese Legal History
Matsuzono Junichirō, The World of Muromachi and Sengoku Law

236 – Caspar Ehlers
Zettels Raum
Larry May, Medieval Legal and Political Thought

237 – Kyriaco Nikias
Legal Sources from the Venetian East
Nikos E. Karapidakis (ed.), Libro d’ordini del Consiglio della magnifica Città di Corfù, 1422 –1797

240 – Camilla de Freitas Macedo
El bosque en foco: posibilidades transdisciplinares de estudio
Alessandra Dattero (ed.), Il bosco

242 – Alina Rodríguez Sánchez
Historia ambiental e historia del derecho
Richard M. Conway, Islands in the Lake

244 – Andrea Cicerchia
Giustizia divina e giustizia terrena
Guido Dall’Olio, Nella valle di Giosafat

246 – Lorenzo Maniscalco
Teoria e pratica giuridica nei tractatus e consilia di Francisco Suárez
Dominique Bauer, Randall C. H. Lesaffer (eds.), History, Casuistry and Custom in the Legal Thought of Francisco Suárez

248 – Pilar Mejía
El arte sacro como agente de normatividad
Chiara Franceschini (ed.), Sacred Images and Normativity
Giuseppe Capriotti, Sabina Pavone, Pierre-Antoine Fabre (eds.), Eloquent Images

251 – Manuel Bastias Saavedra
El imperio portugués y las raíces profundas de Goa
Ângela Barreto Xavier, Religion and Empire in Portuguese India

254 – Paulien Broens
A Deep Dive into England’s Early Africa Companies
Julie Mo Svalastog, Mastering the Worst of Trades

255 – Winner Ijeoma
Rule of Law im kolonialen Africa?
Michael Lobban, Imperial Incarceration

257 – Matilde Cazzola
Guardie, ladri e la giurisprudenza dell’anticipazione
Sal Nicolazzo, Vagrant Figures

259 – Victoria Hooton
Pauper Agency and Negotiation Under the Old Poor Law
Peter Jones, Steven King (eds.), Navigating the Old English Poor Law

261 – Emily Kadens
Commerce Between Law and Practice
Ross Cranston, Making Commercial Law Through Practice

264 – Uponita Mukherjee
Insanity, Crime and Responsibility Cases: A View of Common Law from the British Empire
Catherine L. Evans, Unsound Empire

267 – Fabian Klose
Zur Ambivalenz humanitären Handelns im British Empire
Zoë Laidlaw, Protecting the Empire’s Humanity

269 – Erica Kim Ollikainen-Read
Exploring the Power of Victorian Narratives
Leila Neti, Colonial Law in India and the Victorian Imagination

271 – Karla L. Escobar H.
Desentrañando el poder colonial: emociones, sentimientos y resistencia para una nueva historia del derecho
Tanya Agathocleous, Disaffected: Emotion, Sedition, and Colonial Law in the Anglosphere

273 – José M. Portillo
La modernidad política en el Otro Occidente
María Teresa Calderón, Aquella república necesaria e imposible

275 – Nina Cozzi
The Drafting of the Post-War Constitutions in France and Italy. Differences and Similarities
Sandro Guerrieri, Costituzioni allo specchio

277 – Bernardo Sordi
Il diritto internazionale visto dal problematico State building della penisola italiana
Giulio Bartolini, A History of International Law in Italy

280 – Karl Härter
Limitierte positivistische Kriminologie und Herausforderungen der Strafrechtsreform
Michele Pifferi (ed.), The Limits of Criminological Positivism

283 – Christoph Resch
Rätsellösende Rechtsvergleicher:innen ?
Balázs Fekete, Paradigms in Modern European Comparative Law

285 – Marietta Auer
Der Mann ohne Eigenschaften
Thomas Olechowski, Hans Kelsen

291 – Matthew H. Kramer
Hohfeld and Some Missed Opportunities
Shyamkrishna Balganesh, Ted Sichelman, Henry Smith (eds.), Wesley Hohfeld a Century Later

293 – Sara Dezalay
Capitalizing on International Law’s Fragmentation
Kathryn Greenman, State Responsibility and Rebels

295 – Nina Cozzi
Neue Erkenntnisse zur Nichteinhaltung von EU-Recht
Tanja A. Börzel, Why Noncompliance

297 – Anna Quadflieg
Drei Dimensionen der Gleichheit im Europarecht
Giovanni Zaccaroni, Equality and Non-Discrimination in the EU

298 – Victoria Hooton
Three Cheers to Interdisciplinary Research of European Union Law
Albertina Albors-Llorens, Catherine Barnard, Brigitte Leucht (eds.), Cassis de Dijon

301 – Jan-Henrik Meyer
European Union Constitution Making and the Media. Lessons from Maastricht
Manuel Müller, Ein verpasster Verfassungsmoment

303 – Shlomi Balaban
Taking the Ambivalent Road
Rotem Giladi, Jews, Sovereignty, and International Law

305 – Fabian Steinhauer
Voraussitzungen
Christoph Schönberger, Auf der Bank. Die Inszenierung der Regierung im Staatstheater des Parlamentes

308 – Thomas Duve
Erzählen statt prozessieren?
Wolfgang Knöbl, Die Soziologie vor der Geschichte

Marginalien – marginalia

314 – Thomas Duve
Rechtsgeschichte und Ordnungsdenken. Zum rechtshistorischen Werk von Paolo Grossi

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