Es ist ein typisch deutscher Begriff und kaum zu übersetzen: Aufarbeitung. Selbst die zwischen 1992 und 1994 tätige Enquete-Kommission zur „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ verzichtet in ihrer mehrbändigen Dokumentation auf eine operationalisierbare Begriffsbestimmung. Zur Unübersichtlichkeit trägt sicher auch die breite Anwendung in den Medien und im Alltag bei. So sprechen wir verschiedenartig von einer historischen, gesellschaftlichen, moralischen oder juristischen Aufarbeitung. Aktuell wird zudem eine politische Aufarbeitung der zurückliegenden Corona-Politik sowie eine ehrliche Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte gefordert.
Unbestritten ist, dass jede Form der Aufarbeitung sowohl eine gemeinschaftliche Dimension hat wie auch eine persönliche Ebene besitzt – beides bedeutet Arbeit. Der Aufarbeitungsprozess profitiert dabei von unterschiedlichen Impulsen. Während die wissenschaftliche Forschung Analysen und Wissen bereitstellt, sind es engagierte Akteure vor Ort, die hartnäckig ein Thema untersuchen und die Aufarbeitung zu ihrer Lebensaufgabe gemacht haben. Aufarbeitung als andauernde Auseinandersetzung kennt keine Ablauffrist. Immer wieder hat sich gezeigt, dass die Zeit allein keine Wunden heilt. Jeder Blick in die Vergangenheit führt zur Hinwendung in die Gegenwart. Konkrete Aufarbeitung heißt, aus Erkenntnissen auch Konsequenzen zu ziehen, um – pathetisch formuliert – aus der Geschichte zu lernen, ohne geschichtliche Vergleiche überzustrapazieren. Im besten Fall kann Aufarbeitung Vergangenes aufklären und aufdecken, Missbrauch und Unrecht benennen und dokumentieren sowie für die Zukunft sensibilisieren – man könnte auch sagen: wehrhaft machen.
Die aktuelle Ausgabe der „Gerbergasse 18“ (Heft 110) ist wie immer im lokalen Buchhandel oder direkt über die Geschichtswerkstatt Jena erhältlich.
TITELTHEMA: AUFARBEITUNG03 Christian Stöber – Zwischen Revolution, Aufarbeitung und Selbstjustiz Franz-Georg Pfitzenreuter und der frühe Umgang mit der Stasi-Vergangenheit im Eichsfeld
08 „Wir konnten nicht zaubern, aber wir konnten versuchen, Dinge aufzuklären, die für die Leute unklar waren.“ Ein Gespräch mit Jürgen Vogel über die Anfänge der Aufarbeitung im Landkreis Saalfeld
12 Anke Geier – Historisches Wissen hilft Ein Kommentar zu den Vertreibungsideen der Neuen Rechten
16 Christian Booß – An Scheidewegen Aufarbeitung eine Generation danach
21 Daniel Börner – Wissenslücken geschlossen? Forschung trifft Aufarbeitung
26 Christian Werkmeister – Wie kann Aufarbeitung im Jahr 2024 aussehen? Ein Praxisbericht aus dem Projekt „LOstdeutschland“
31 „Aufarbeitung als Forschung und Öffentlichkeit sollte es möglichst auf allen Ebenen geben.“ Ein Gespräch zum Stand der Aufarbeitung mit dem Historiker Stefan Wolle
ZEITGESCHICHTE35 Lutz Dettmann – Der „Amikäfer“ – ein Käfer im Klassenkampf Berufsverbot durch ein Insekt
37 Franziska Böhl – Die Freimaurerei in der SBZ und DDR Das Beispiel der ehemaligen sächsischen Logen
44 Lutz Wohlrab – 1984 in Greifswald Eine Plakataktion und andere Happenings im Orwell-Jahr
ZEITGESCHEHEN / DISKUSSION49 Dietmar Ebert – Eduard Rosenthal Das fragmentarische Bild gewinnt an Kontur
57 Lars Polten – Unbekannte Altablagerungen und Altlasten Gefahren und Chancen
62 Utz Rachowski – Einladung zu einer Tasse Jasmintee Dank und Erinnerung an Elisabeth Kunze
63 Matias Mieth – Nichts davon ist sicher Gedanken zu einer Stolpersteinverlegung in Jena
REZENSIONEN64 Anne Vaupel-Meier – Eindrückliche Biografien mit Potential Deutsch-deutsche Teilungsgeschichte neu erzählt
66 Philipp Schultheiß – Zwischen Anpassung und Auflehnung Teresa Tammers Buch über schwulen Aktivismus im geteilten Deutschland
68 Klaus-M. v. Keussler – „Ich will zu Dir gehen. Mach das möglich.“ Ein Jugendroman erzählt von den Tunnelfluchten im geteilten Berlin
70 Helmut Müller-Enbergs – Spionageabwehr im Verfassungsschutzverbund. Entzauberung mit Mängeln