Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 75 (2024), 7/8

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 75 (2024), 7/8

Erschienen

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Michael Sauer, Didaktik der Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Schon in den 1980er-Jahren gab es Versuche, Umweltgeschichte als Thema des Geschichtsunterrichts zu etablieren. Betrachtet man heutige Curricula und Schulbücher, so kann man zu unterschiedlichen Befunden gelangen. Einerseits sind einschlägige konzeptionelle Stichworte wie „Umweltgeschichte“, „Ökologie“ oder „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) in den Curricula breit vertreten. Andererseits beschränkt sich die konkrete Umsetzung in vielen Fällen darauf, dass klassische Unterrichtsthemen wie die „Neolithische Revolution“, die Landwirtschaft am Nil im alten Ägypten oder (und dies sicherlich am stärksten) die Industrialisierung auch unter Umweltgesichtspunkten betrachtet und gewissermaßen entsprechend gelabelt werden. Von einem längeren und konsistenten umweltgeschichtlichen Narrativ kann keine Rede sein und unterschiedliche Ansätze und Fragestellungen von Umweltgeschichte dürften im Unterricht ebenso wenig explizit zum Tragen kommen. Insofern lässt sich die Situation wahlweise als eher befriedigend oder eher defizitär beschreiben.

Freilich ist zugleich zu fragen, was das (im günstigsten Fall) Zweistundenfach Geschichte, das sein Augenmerk vor allem auf die Entwicklung von historischem Denken und fachspezifischen Kompetenzen richten soll, an thematischen Erweiterungen überhaupt leisten kann. Zugespitzt formuliert: Ist nicht vielleicht sogar eine thematische Reduzierung notwendige Bedingung für eine vertiefte Förderung von Kompetenzentwicklung, die exemplarisch an besonders geeigneten Themen stattfinden sollte? Wobei wiederum zu diskutieren wäre, welche Themen dies sein könnten und ob nicht auch andere als die des klassischen Kanons dafür in Frage kämen.

Jenseits solcher allgemeiner Überlegungen scheint es jedenfalls einen curricularen Konsens darüber zu geben, dass Umweltgeschichte wichtig ist. Schulbücher folgen dem mit den oben beschriebenen Limitationen. Wie Umweltgeschichte didaktisch konzeptionell gefasst werden kann, wie Lehrkräfte sie denken (können) und welche geeigneten Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stehen, damit befassen sich die Beiträge des vorliegenden Heftes. Indre Döpcke hat Lehrkräfte zum Thema Umweltgeschichte interviewt. Ausgehend von deren Fragen und Denkmustern entwickelt sie ein Modell zur Didaktik der Umweltgeschichte. Auf der Basis theoretischer Vorüberlegungen zur Resilienzförderung und einer themenbezogenen Analyse von Curricula und Schulbüchern macht Alexander Denzin drei Vorschläge für eine umweltgeschichtliche Akzentuierung des Geschichtsunterrichts: Er plädiert für eine Reflexion sozioökologischer Schlüsselbegriffe; für eine stärkere multikausale Betrachtung natürlicher und menschlicher Akteure, die Umweltfaktoren nicht nur als passive Rahmenbedingungen auffasst; für eine plurale Urteilsbildung zu (auch kontroversen) Ökologiethemen. Bernd-Stefan Grewe stellt im Internet verfügbare Materialien (Open Educational Resources) zum Thema Umweltgeschichte vor und überprüft sie im Hinblick auf geschichtsdidaktische Gütekriterien. Diese drei didaktischen Beiträge werden ergänzt durch einen historischen Abriss zur Geschichte des Schlüsselbegriffs „Nachhaltigkeit“. Ursprünglich entstanden im Kontext des frühneuzeitlichen Bergbaus und verbunden mit dem Namen des sächsischen Forstbeamten Hans Carl von Carlowitz ist er in einem breiteren sozioökologischen Verständnis als Übertragung des englischen Begriffs „sustainable (development)“ ins Deutsche reimportiert worden.

Didaktische Konzepte, curriculare Vorgaben und Angebote von Schulbüchern sind das eine, die Realität des Geschichtsunterrichts ist das andere. Was an Umweltgeschichte dort tatsächlich praktiziert wird, entzieht sich unserer Kenntnis. Wie bei so vielen Themen könnte nur eine breitere empirische Unterrichtsforschung darüber Auskunft geben, ob und wie dies geschieht.

Michael Sauer

Inhaltsverzeichnis

Abstracts (S. 370)
Editorial (S. 372)

BEITRÄGE

Indre Döpcke
Thematisierung von Mensch-Umwelt-Beziehungen im Geschichtsunterricht
Ein Modell zur Didaktik der Umweltgeschichte (S. 373)

Alexander Denzin
Resilienzförderung und transformatives Lernen mit Umweltgeschichte in der Polykrise (S. 393)

Bernd-Stefan Grewe
Umweltgeschichte als offene Geschichte unterrichten (S. 409)

Karl Bachsleitner/Franziska Conrad
„Nachhaltigkeit“ – die Geschichte eines Schlüsselbegriffs (S. 419)

Wolfgang Kruse
Was bedeutet „Identitätsstiftung der Überlebenden“?
Zur Perspektive der modernen politischen Totenkultforschung in Deutschland (S. 436)

BERICHTE UND KOMMENTARE

Ulrich Wyrwa
„Der Holocaust als europäisches Ereignis“
Zur Abschlusskonferenz über das Editionsprojekt „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“ (S. 451)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Alessandra Sorbello Staub
Feudalismus einfach erklärt
Videoangebote über Feudalismus und Lehnswesen (S. 460)

LITERATURBERICHT

Dietmar von Reeken
Geschichtsdidaktik Teil II (S. 463)

NACHRICHTEN (S. 485)

AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 488)

Abstracts

Indre Döpcke
Thematisierung von Mensch-Umwelt-Beziehungen im Geschichtsunterricht
Ein Modell zur Didaktik der Umweltgeschichte
GWU 75, 2024, H. 7/8, S. 373 – 392
Was macht die „Marke“ Umweltgeschichte aus? Wie didaktisiert man ein Thema so, dass es der Dimension gerecht wird? Diese Fragen äußerten Geschichtslehrer:innen im Rahmen einer Interviewstudie. Das Erkenntnisinteresse der Studie liegt darin, Einsicht in Denkmuster von Geschichtslehrkräften zum Thema ‚Umweltgeschichte unterrichten‘ zu erhalten und im Vergleich mit der fachlichen Diskussion zur Umweltgeschichte die bislang gewonnenen Erkenntnisse auszudifferenzieren. Die relevanten Ergebnisse sind in einem ‚Modell zur Didaktik der Umweltgeschichte‘ zusammengefasst worden.

Alexander Denzin
Resilienzförderung und transformatives Lernen mit Umweltgeschichte in der Polykrise
GWU 75, 2024, H. 7/8, S. 393 – 408
Dieser Beitrag plädiert für umwelthistorischen Geschichtsunterricht zur Förderung von Resilienz und transformativem Lernen in der Polykrise. Dazu werden theoretische Überlegungen für umwelthistorische Sinnbildung zur Resilienzförderung bei Lernenden und ein Modell eines zweidimensionalen Wertungsraums zum Mensch-Natur-Verhältnis für die Reflexion einseitiger Natur- und Menschenbilder vorgestellt. Anschließend gibt eine Lehrplansynopse Einblicke in die curriculare Verankerung von Umweltgeschichte in den sechzehn Bundesländern und es werden in drei Postulaten pragmatische Vorschläge zum umwelthistorischen Umdenken für einen resilierenden und transformativen Geschichtsunterricht präsentiert.

Bernd-Stefan Grewe
Umweltgeschichte als offene Geschichte unterrichten
GWU 75, 2024, H. 7/8, S. 409 – 418
Umweltgeschichte ist als Thema in den Schulcurricula endlich fest etabliert. In diesem Beitrag werden fünf geschichtsdidaktische Gütekriterien für ein gelungenes umwelthistorisches Lernen entwickelt: (1) eine kritische Auseinandersetzung mit umwelthistorischen Narrativen und entsprechende Themenwahl, (2) kontingente, offene historische Situationen, (3) kritische Quellenarbeit, (4) offene Aufgaben, die alternative Sach- und Werturteile ermöglichen und (5) ein spannendes Lehrmaterial. Weil viele Geschichtsschulbücher vor allem auktorial strukturiertes Unterrichtsmaterial anbieten, werden hier fünf im Netz frei verfügbare Materialien (OER) im Hinblick auf diese Kriterien untersucht und bewertet.

Karl Bachsleitner/Franziska Conrad
„Nachhaltigkeit“ – die Geschichte eines Schlüsselbegriffs
GWU 75, 2024, H. 7/8, S. 419 – 435
Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist gegenwärtig in aller Munde. Manche befürchten, er sei zu einem bedeutungsleeren Modewort geworden. Der Artikel stellt, ausgehend von der Wortschöpfung des sächsischen Forstbeamten Hans Carl von Carlowitz (Sylvicultura oeconomica, 1713), den Entstehungszusammenhang des Begriffs im frühneuzeitlichen Bergbau und seine Entwicklung bis zur Gegenwart dar. Dabei geht es um eine Bedeutungsverschiebung von einem forstwirtschaftlichen Fachbegriff zu dem zentralen sozioökologischen Leitbild der nachhaltigen Entwicklung (sustainable development), das in der UN-Deklaration von Rio (1992) und weiteren UN-Konferenzen festgehalten ist. Abschließend werden aktuelle Nachhaltigkeitsmodelle im Spannungsfeld von Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft vorgestellt.

Wolfgang Kruse
Was bedeutet „Identitätsstiftung der Überlebenden“?
Zur Perspektive der modernen politischen Totenkultforschung in Deutschland
GWU 75, 2024, H. 7/8, S. 436 – 450
Wenn wir Kriegerdenkmäler mit Reinhart Koselleck als „Identitätsstiftungen der Überlebenden“ begreifen, ist die Rolle der Stifter klar: Es geht um die Initiatoren und Träger des monumentalen Gefallenengedenkens. Nicht so eindeutig verhält es sich mit der Frage, um wessen Identität es hier eigentlich geht. Während die Forschung sich bisher wie selbstverständlich auf die Identitätszuweisungen der Überlebenden an die Toten konzentriert hat, schlägt der vorliegende Aufsatz eine Verschiebung der Perspektive vor: Er versucht am Beispiel der Entwicklung des deutschen Gefallenengedenkens darzulegen, dass im Medium der Denkmäler und der mit ihnen verbundenen Erinnerungskulturen tatsächlich vor allem die Identität ihrer Stifter und Träger zum Ausdruck kommt.

Ulrich Wyrwa
„Der Holocaust als europäisches Ereignis“
Zur Abschlusskonferenz über das Editionsprojekt
„Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945
GWU 75, 2024, H. 7/8, S. 451 – 459
2004 ist das von Ulrich Herbert und Götz Aly initiierte und in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte und dem Bundesarchiv durchgeführte Projekt einer die europäischen Dimensionen einbeziehenden Quellenedition zur Judenverfolgung durch das nationalsozialistische Deutschland begonnen worden. 2008 erschien der erste Band, 2021 lag die Edition in 16 Bänden vollständig vor. Eine Abschlusskonferenz konnte seinerzeit pandemiebedingt nicht stattfinden, sie wurde im Mai 2023 unter dem Titel „Der Holocaust als europäisches Ereignis“ nachgeholt. In dem Beitrag soll zunächst die Vorgeschichte des Editionsprojektes umrissen werden, um daraufhin die Abschlusskonferenz kritisch zusammenzufassen. In der abschließenden Betrachtung werden drei der behandelten Fragen aufgegriffen und diskutiert.

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