Liebe Leserinnen und Leser,
das neue Heft der „Zeithistorischen Forschungen“, herausgegeben von Nicolas Berg, Elisabeth Gallas und Aurélia Kalisky, bietet Forschungsergebnisse und Diskussionsimpulse zum Leitthema „Jüdische Sprachkritik nach dem Holocaust“ (https://zeithistorische-forschungen.de/2-2023).
Die Verknüpfungen von Sprache und Gewalt werden gegenwärtig aus vielen aktuellen Anlässen stark diskutiert. Vor diesem Hintergrund wird in den Beiträgen zurückgeschaut auf die Funktionalisierung der deutschen Sprache für die nationalsozialistische Herrschaftspraxis. Unmittelbar nach 1945 entstand in Reaktion auf die Erfahrungen der NS-Zeit ein regelrechtes Genre sprachkritisch angelegter Zeitdiagnosen. Diese fanden ihren Ausdruck in einem breiten Korpus von Studien, Wörterbüchern und Glossaren als spezifischer Form historischer Analyse. Sprache wurde hier als Tat, als Sprachhandlung verstanden. Gemeint war damit die Art und Weise, wie Sprache zum Bestandteil der Verbrechen werden konnte: durch Manipulationen an und mit ihr, durch Demagogie, Lüge, Missbrauch, sprachlich ausgeübte und sprachlich bedingte Gewalt. Diese Perspektive erforderte nach dem Holocaust besonders für jüdische Gelehrte eine Neubestimmung des hermeneutischen Blicks auf das Verhältnis von Ideologie und Wirklichkeit.
Die Beiträge des Themenheftes widmen sich Positionen von H.G. Adler, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Victor Klemperer und George Steiner sowie dem erfahrungsgeschichtlichen Zusammenhang, aus dem sie entstanden. Auch wenn es vorrangig um die deutsche Sprache und ihre engen Verbindungen mit der NS-Herrschaft geht, ist ein Leitthema des Heftes zugleich die Frage von Mehrsprachigkeit, Übersetzungen, sprachlichen Transfers und Überlagerungen (u.a. zwischen Deutsch, Jiddisch, Hebräisch, Polnisch). Teils werden markante einzelne Wörter und ihre Verwendungszusammenhänge betrachtet, teils die breitere Alltags- und Sozialgeschichte des Sprachgebrauchs vor und nach 1945. In den Diskussionen aus den frühen Nachkriegsjahren zeigt sich mindestens indirekt zudem eine Relevanz für heutige Debatten über Sprachgewalt und Hatespeech, auch über spezifisch jüdische Erfahrungen hinaus.
Besonders hervorzuheben ist schließlich, dass das vorliegende Heft den 100. Beitrag der Rubrik „Neu gelesen“ bietet: einen Text über Victor Klemperers Buch „LTI“ (Erstausgabe 1947 beim Aufbau-Verlag), einen vielzitierten und in viele Sprachen übersetzten Klassiker der deutsch-jüdischen Sprachkritik. Wir werden die bewährte Rubrik „Neu gelesen“ selbstverständlich weiter fortsetzen.
Beitragsideen und Manuskript-Einsendungen zum gesamten Spektrum der Zeitgeschichte sind für künftige Hefte jederzeit willkommen. Bitte beachten Sie die näheren Hinweise unter https://zeithistorische-forschungen.de/beitragen