Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 75 (2024), 9/10

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 75 (2024), 9/10
Weiterer Titel 
Mittelalterforschung

Erschienen

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Michael Sauer, Didaktik der Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Obwohl die Annahme einer distinkten Epoche „Mittelalter“ immer wieder in Frage gestellt worden ist, strukturiert die überkommene Dreiteilung zwischen alter, mittlerer und neuerer Geschichte bis heute den Lehrbetrieb an den Universitäten und Schulen des Landes. Vielerorts herrschen außerdem populäre „Mittelalterbilder“ vor, ungeachtet der Tatsache, dass die mediävistische Forschung der letzten Jahrzehnte nicht nur die Herrschaftsordnungen und das Sozialgefüge, sondern ebenso die Arbeits- und Lebensverhältnisse, darüber hinaus die kulturellen Deutungsmuster dieser Zeitspanne einer grundsätzlichen Prüfung unterzogen hat. Das Resultat hiervon war und ist ein „anderes Mittelalter“ (Jacques Le Goff).

Der Wandel geht zum einen auf die umfassende Historisierung von überkommenen Schlüsselkonzepten oder Meta- und Meistererzählungen über „das Mittelalter“ zurück. Darauf verweist nachdrücklich der Einführungsbeitrag des Aachener Mediävisten Florian Hartmann, der das vorliegende Themenheft zusammengetragen hat. Er verdeutlicht zudem, dass die Umdeutung von älteren Erklärungsmustern und Strukturbegriffen wie Ständegesellschaft, Lehnswesen oder Investiturstreit inzwischen sehr weit gediehen ist. Zum anderen führt er das Aufkommen neuer Fragestellungen auf die zunehmend interdisziplinäre Ausrichtung der Mediävästik zurück, wobei zuletzt namentlich der vergleichende Blick auf außereuropäische Kulturen davon zu profitieren wusste. Gleichzeitig sei eine umfassende Rückkehr zu grundwissenschaftlichen Projekten zu beobachten.

Die sich daran anschließenden Einzelbeiträge bieten Einblicke in ausgewählte Felder der aktuellen mediävistischen Forschung. Den Auftakt macht Christoph Dartmann mit einem Rückblick auf die Debatten um eine neue „Kulturgeschichte des Politischen im Mittelalter“. Zwar seien die Themen und Konzepte der Auseinandersetzungen darüber inzwischen weitgehend in den Kanon der Forschung integriert worden, doch aus seiner Sicht könnten sie weiterhin als ein Orientierungspunkt fungieren, um das Bewusstsein der Forschenden für die Revidierbarkeit vermeintlicher Selbstverständlichkeiten zu schärfen. Jenny Rahel Oesterle weitet sodann den Blick über das lateinisch-christliche Europa hinaus. Am Beispiel des Lebens und Wirkens eines Konvertiten aus dem frühen 16. Jahrhundert arbeitet sie die Begriffe, Prozesse und Methoden transkultureller Perspektiven heraus. Des Weiteren wird ersichtlich, wie durch die Erweiterung des Untersuchungsraumes zugleich herkömmliche Epochengrenzen in Frage gestellt werden. Dass eine solche Umorientierung ebenfalls bedeutsame institutionelle Rückwirkungen entfalten kann, zeigt der nachfolgende Beitrag von Étienne Doublier. Wurden die historischen Grundwissenschaften ab den 1980er Jahren weitgehend totgesagt, führte zuletzt das Aufkommen neuer medialer und epistemologischer Prämissen zu ihrer „phänomenalen Wiedergeburt“. Mittlerweile erfreut sich die Erschließungs- und Auswertungstätigkeit eines lange so kaum mehr für möglich gehaltenen Zuspruchs. Stärker inhaltlich argumentiert im Vergleich dazu der abschließende Aufsatz von Julia Bruch und Ulla Kypta. Darin heben die beiden Autorinnen darauf ab, dass die Theorien und Hypothesen einer erneuerten Wirtschaftsgeschichte einen Beitrag einer Neubewertung von ökonomischen und sozialen Verhältnissen im Mittelalter leisten könnten. Zur Verdeutlichung dieses Sachverhalts führen sie Untersuchungen zu geschlechtergeschichtliche Fragen sowie zur Kooperation unter Kaufleuten an.

In der Summe demonstrieren die Beiträge des Themenheftes die anhaltende Ausdifferenzierung und Vielfalt der gegenwärtigen mediävistischen Forschung. Sowohl an den Universitäten als auch an den Schulen gilt es, diese Dynamik stärker als bislang geschehen in das Bewusstsein der Beteiligten zu heben.

Christoph Cornelißen

Inhaltsverzeichnis

Abstracts (S. 370)
Editorial (S. 372)

BEITRÄGE

Florian Hartmann
Neue Tendenzen der Mittelalter-Forschung
Dekonstruktion, Interdisziplinarität und neue Perspektiven (S. 493)

Christoph Dartmann
Kulturgeschichte des Politischen im Mittelalter – ein Rückblick (S. 503)

Jenny Rahel Oesterle
Transkulturelle Mittelalterforschung
Themen – Herausforderungen – Perspektiven (S. 518)

Etienne Doublier
Vom Sorgenkind zum Sonnenkind
Die Historischen Grundwissenschaften nach der Krise (S. 533)

Julia Bruch/Ulla Kypta
Geschlechterrollen und Praktiken, Kooperationen und Institutionen
Die Renaissance der Wirtschaftsgeschichte (S. 544)

Helene Bergmann/Corinna Link
Adaptiver Geschichtsunterricht mit digitalen Lehr-/Lernmedien
Ein Einblick in die Entwicklungsfach spezifischen Lesefördermaterials am Beispiel des Digitalen Unterrichtsassistenten (S. 560)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Gregor Horstkemper
Forschungsdaten zur Vormoderne (S. 573)

LITERATURBERICHT

Dietmar von Reeken
Geschichtsdidaktik Teil III (S. 575)

NACHRICHTEN (S. 594)

AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 600)

Abstracts

Florian Hartmann
Neue Tendenzen der Mittelalter-Forschung
Dekonstruktion, Inderdisziplinaritat und neue Perspektiven
GWU 75, 2024, H. 9/10, S. 493 – 502
Wie die Wissenschaft insgesamt unterliegt auch die Forschung zur Geschichte des Mittelalters einem kontinuierlichen Wandel. So werden traditionelle Konzepte und Meistererzählungen dekonstruiert, während die Interdisziplinarität und die Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Themen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Damit rücken neue Forschungsfelder wie Rassismus, Inklusion und Umweltgeschichte in den Vordergrund. Gleichzeitig erlebt die Grundlagenforschung eine Renaissance, insbesondere durch digitale Editionsprojekte. Diese Entwicklungen fördern eine tiefere, diversifizierte Sicht auf das Mittelalter und betonen dessen Relevanz für gegenwärtige wissenschaftliche
gesellschaftliche Diskurse.

Christoph Dartmann
Kulturgeschichte des Politischen im Mittelalter – ein Rückblick
GWU 75, 2024, H. 9/10, S. 503 – 517
In den Jahrzehnten zwischen 1990 und 2010 ist heftig über das neue Paradigma einer ‚Kulturgeschichte des Politischen im Mittelalter‘ diskutiert worden. Der Beitrag blickt auf die konzeptionellen Implikationen dieser Debatten zurück und erörtert an zwei Beispielen, dem früh- und hochmittelalterlichen Ostfränkisch-deutschen Reich und der italienischen Stadtkommune, zentrale Themen und Konzepte kulturalistischer Ansätze zur Erforschung der Geschichte des Politischen in der Mediävistik. Abschließend plädiert er dafür, die theoretisch- konzeptionelle Neugier zu bewahren, die diese Arbeiten bestimmt hat.

Jenny Rahel Oesterle
Transkulturelle Mittelalterforschung
Themen – Herausforderungen – Perspektiven
GWU 75, 2024, H. 9/10, S. 518 – 532
Im vorliegenden Aufsatz werden Themen, Herausforderungen und Perspektiven transkultureller Mittelalterforschung in Forschung und universitärer Lehre umrissen. Am Beispiel des abenteuerlichen Lebens und Wirkens eines Konvertiten aus dem frühen 16. Jahrhundert werden transkulturell relevante Begriffe, Prozesse und Konstellationen herausgearbeitet sowie Methoden vorgestellt. Ein Schwerpunkt liegt auf Raum- und Zeitordnungen, insbesondere der Frage nach der Problematik von Epochengrenzen in transkultureller Perspektive sowie den Herausforderungen durch die Erweiterung von Untersuchungsräumen in der Mediävistik über die Geschichte des lateinisch-christlichen Europas hinaus.

Étienne Doublier
Vom Sorgenkind zum Sonnenkind
Die Historischen Grundwissenschaften nach der Krise
GWU 75, 2024, H. 9/10, S. 533 – 543
Der Beitrag befasst sich mit der Entwicklung der Historischen Grundwissenschaften im deutschsprachigen Raum in den letzten vier Jahrzehnten. Nachdem die grundwissenschaftlichen Disziplinen, vor allem die Paläographie und die Diplomatik, lange Zeit zum selbstverständlichen Kern der geschichtswissenschaftlichen Ausbildung gehörten, wurden sie ab den 1980er Jahren im Zuge der Etablierung neuer, vor allem kulturwissenschaftlicher Ansätze, aus den universitären Curricula verdrängt, und mehrere Lehrstühle wurden gestrichen. Dies führte zu einer intensiv geführten Debatte, die um 2015 eine breitere Öffentlichkeit er reichte. Im Vergleich zu den frühen 2000er Jahren diagnostiziert der Beitrag eine günstigere Lage für die Grundwissenschaften im Kontext einer allgemeinen Erneuerung der prinzipiellen Fachausrichtung: Selbst die Ansätze und Zugänge, die in einer früheren Phase scheinbar zur Marginalisierung der Historischen Grundwissenschaften geführt hatten, ermöglichen ihnen heute eine neue Existenz im Rahmen einer umfassenden, unter neuen medialen und epistemologischen Prämissen geführten Erschließungs- und Auswertungstätigkeit.

Julia Bruch/Ulla Kypta
Geschlechterrollen und Praktiken, Kooperationen und Institutionen
Die Renaissance der Wirtschaftsgeschichte
GWU 75, 2024, H. 9/10, S. 544 – 559
Die Erforschung wirtschaftlicher Zusammenhänge erhält zunehmend Relevanz in der mediävistischen Geschichtsforschung, wobei die neue Wirtschaftsgeschichte sich als Teil einer umfassenderen Gesellschaftsanalyse sieht. Unser Artikel stellt beispielhaft zwei aktuelle Forschungsschwerpunkte vor, die für die enge Verknüpfung wirtschaftshistorischer Aspekte mit Fragen der allgemeinen Geschichte stehen. Im Fokus stehen geschlechtergeschichtliche Ansätze und Forschungen zur Kooperation unter Kaufleuten. Beide Ansätze erlauben eine Neubewertung sozialer Beziehungen und der Grundlagen ökonomischer Entscheidungen.

Helene Bergmann/Corinna Link
Adaptiver Geschichtsunterricht mit digitalen Lehr-/Lernmedien
Ein Einblick in die Entwicklung fachspezifischen Lesefördermaterials am Beispiel
des Digitalen Unterrichtsassistenten
GWU 75, 2024, H. 9/10, S. 560 – 572
Geschichtsunterricht findet heute in heterogenen Klassen statt, Lernende verfügen teilweise über sehr unterschiedliche Lern- und Sprachfähigkeiten. Gleichzeitig müssen sie im Unterricht mit anspruchsvollen Fachtexten umgehen, seien es Quellen- oder Darstellungstexte, um historische Kompetenzen ausbilden zu können. Der vorliegende Beitrag thematisiert die Herausforderungen sprachlich anspruchsvoller Darstellungstexte und zeigt auf, wie fachspezifisches Lesefördermaterial unter Nutzung der speziellen Möglichkeiten digitaler Lehrmittel gestaltet werden kann. Am konkreten Beispiel der sprachlich differenzierenden Kopiervorlagen des Digitalen Unterrichtsassistenten, des digitalen Begleitwerks zum Geschichtslehrbuch Geschichte und Geschehen, wird gezeigt, wie linguistische Förderansätze (defensive Textaufbereitung, offensive Lesestrategievermittlung) für historisches Lernen genutzt werden können, um individuelle Texterschließungskompetenzen bei Schüler:innen mit unterschiedlichen fachsprachlichen Fähigkeiten schrittweise zu fördern.

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