Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 75 (2024), 11/12

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 75 (2024), 11/12
Weiterer Titel 
Bibliotheken

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Michael Sauer, Didaktik der Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Wir alle glauben zu wissen, was eine Bibliothek ist. Was aber, wenn wir um eine kurze Bestimmung gebeten würden? Unsere Antworten dürften unterschiedlich ausfallen. So fehlt es nicht an Bibliotheken, die als „Maker Spaces“ auftreten oder als „Learning Centers“ – und auch gar nicht mehr Bibliothek heißen wollen: nicht zuletzt als sogenannte „Dritte Orte“, die Bücher regelrecht exotisieren können. Hinzu kommen die technologischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, die dazu beigetragen haben, Bibliotheken in digitale Datenräume zu verwandeln. Was aber verbindet Bibliotheken? Obwohl die Beiträge des vorliegenden Heftes keineswegs versuchen, die verschiedenen Erscheinungsformen von Bibliothek in den Blick zu nehmen, zeigen sie doch, wie Bibliotheken darum bemüht waren und sind, dem Wissen ihrer Sammlungen gerecht zu werden, dieses Wissen zu vermehren und dieses Wissen zu vernetzen.

Am Anfang fragt Hole Rößler am Beispiel der herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel nach der Entstehung von Techniken zur Beschleunigung der Wissensproduktion im 17. und 18. Jahrhundert. Neben den Versuchen, die in Büchern gespeicherten „Informationen“ schneller auffindbar und damit auch schneller (und breiter) „konsumierbar“ zu machen und in „Wissen“ zu transformieren, geht der Beitrag auch auf die sozialen, finanziellen, politischen und kulturellen Bedingungen dieser Entwicklung ein. Besondere Aufmerksamkeit findet dabei die Anwendung von Wissenstechniken zur Bewältigung großer und immer größer werdenden Textmengen: von der Lektüre bis zu Praktiken des Bibliographierens, Aufschreibens, Ordnens, Katalogisierens, Indizierens und Vernetzens. Die entscheidende Neuerung des 18. Jahrhunderts, so Rößler, bestand darin, dass die Wissenstechniken nach und nach zur Aufgabe der Bibliothek wurden, wobei er auch das Verhältnis von Bibliothek und Aufklärung thematisiert.

Im Anschluss widmet sich Michael Knoche der Provenienzkultur und der Provenienzforschung in Bibliotheken, die hier lange Zeit kaum eine Rolle spielten. Erst als seit den 1980er Jahren Anfragen von Buchbesitzern bzw. deren Rechtsnachfolgern nach dem Verbleib unrechtmäßig entzogenen Buch-Eigentums häufiger wurden, gerieten auch die Bibliotheken unter Zugzwang, den die Restitutionsforderung der „Washingtoner Erklärung“ von 1998 noch erheblich vergrößerte. Obwohl die Umsetzung keineswegs abgeschlossen ist, steht die Notwendigkeit der Identifizierung und Restituierung von NS-Raubgut in Bibliotheken längst außer Frage. Hinzu kommt, dass auch Bücher, die als Folge von DDR-Unrecht in Bibliotheken gelangten, inzwischen in den Blick geraten sind, wie auch Raubgut aus kolonialen Kontexten. Gleichzeitig, so Knoche nachdrücklich, hat die Professionalisierung der Provenienzforschung erheblich dazu beigetragen, dem „Wissen der Sammlungen“ gerechter zu werden – und auf diese Weise auch das Selbstverständnis der Bibliotheken verändert.

Abschließend geht Anna Brunken vor dem Hintergrund eines umfassenden technologischen Wandels bibliothekarischer und publizistischer Infrastrukturen auf kooperative Strategien wissenschaftlicher Informationsversorgung in Deutschland ein. Im Mittelpunkt stehen dabei die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten „Fachinformationsdienste für die Wissenschaft“, die nicht zuletzt die komplexen Diskussionen über die notwendigen Informations-, Publikations- und Forschungsdateninfrastrukturen begleiten, moderieren und immer wieder auch auf ihre Zielgruppentauglichkeit überprüfen, wobei die Open-Access-Transformation eine besondere Rolle spielt. Auch die Fachinformationsdienste tragen auf diese Weise dazu bei, Bibliotheken zu transparenten Gatekeepern einer fluiden – und offenen – Wissenslandschaft zu machen.

ABSTRACTS

Hole Rößler
Informationsdienstleistung im 17. und 18. Jahrhundert
Wissenstechniken in der Wolfenbütteler Hofbibliothek zwischen Leibniz und Lessing
GWU 75, 2024, H. 11/12, S. 605 – 623
Die moderne Vorstellung von Bibliotheken als multimedialen Informationsdienstleistern nimmt ihren Anfang um die Wende von 17. zum 18. Jahrhundert. Durch die Institutionalisierung gelehrter Lektürepraktiken sollte die Produktion von Wissen beschleunigt werden. Neben den konkreten Versuchen, die in Büchern gespeicherten Informationen schneller auffindbar zu machen, behandelt der Beitrag die sozialen Bedingungen dieser Entwicklung. Als ein eher typisches denn herausragendes Beispiel für die langwierige Transformation einer repräsentativen Büchersammlung in ein Instrument gelehrter Forschung dient die herzogliche Hofbibliothek von Wolfenbüttel.

Michael Knoche
Büchern eine Biographie geben
Provenienzforschung in Bibliotheken
GWU 75, 2024, H. 11/12, S. 624 – 639
Anders als in Archiven und Museen spielte die Frage nach der Herkunft ihrer Bestände in den Bibliotheken lange Zeit kaum eine Rolle. Eine Buchaufstellung nach Provenienzen gab es nur in Ausnahmefällen. Seit den 1980er Jahren sind die Bibliotheken zunehmend von Seiten der Wissenschaft mit Fragen nach Herkunft, Gebrauch und Zusammenhang ihrer Bestände konfrontiert. Etwa zur selben Zeit häuften sich auch die Anfragen enteigneter Buchbesitzer bzw. ihrer Rechtsnachfolger nach dem Verbleib unrechtmäßig entzogenen Eigentums. Einen Wendepunkt markiert die Washingtoner Konferenz von 1998. In ihrer Folge steht die Ermittlung von NS-Raubgut ganz oben auf der Agenda der Bibliotheken. Auch Bücher, die im Zuge der Bodenreform bzw. von DDR-Unrecht oder in kolonialen Kontexten in die Bibliotheken gelangt sind, gerieten seither in den Fokus. Durch den von außen kommenden Druck waren die Bibliotheken gezwungen, ihre Provenienzforschung zu professionalisieren und methodisch weiterzuentwickeln. Der entstandene Gewinn an Informationen verändert auch das Selbstverständnis der Institutionen.

Anna Brunken
Strategien überregionaler wissenschaftlicher Informationsversorgung in Deutschland
GWU 75, 2024, H. 11/12, S. 640 – 651
Der Beitrag beleuchtet kooperative Strategien zur Bereitstellung wissenschaftlicher Spezialliteratur in Deutschland. Aufgrund ihrer Spezifizierung und der begrenzten Anzahl an Rezipienten pro Informationsressource weist wissenschaftliche Fachliteratur einen geringen Kosten-Nutzen-Effekt auf, darüber hinaus können Informationsbedarfe Forschender nur schwer antizipiert werden. Verschiedene Förderlinien, Technologien und Lizenzmodelle tragen dazu bei, die nationale Informationsversorgung institutionsübergreifend zu betreiben und zu koordinieren.

Michael Sauer
„Quelle“ und „Darstellung“ im Verständnis von Schülerinnen und Schülern
Ergebnisse einer empirischen Studie
GWU 75, 2024, H. 11/12, S. 652 – 672

„Quellenarbeit“ ist das grundlegende Konzept des deutschen Geschichtsunterrichts. Voraussetzung für das Gelingen von Quellenarbeit ist, dass Schülerinnen und Schüler über ein adäquates Verständnis des Begriffs „Quelle“ (und des Komplementärbegriffs „Darstellung“) verfügen. In der hier vorgestellten Untersuchung wurden 705 Schülerinnen und Schüler aus 6., 9. und 12. Gymnasialklassen daraufhin befragt, indem sie einen kurzen Erklärungstext verfassen sollten. Die Auswertung mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ergab, dass die untersuchten Klassen insgesamt kein klares Verständnis des Konzepts „Quelle“ haben. Häufigste Fehlkonzepte sind das Verständnis von „Quelle“ als Nachweis, ausschließlich als Textdokument und als reiner Informationsträger. Im Jahrgang 12 nimmt die Verwendung der problematischen Begriffe „Primär- und Sekundärquellen“ zu. Das Konzept „Darstellung“ ist den befragten Schulklassen (noch einmal) weitaus weniger vertraut.

Christina Morina
Warum die Geschichte des Holocaust mehr als (deutsche) Geschichte ist
GWU 75, 2024, H. 11/12, S. 673 – 681
Der hier dokumentierte Vortrag wurde aus Anlass des Holocaust-Gedenktages 2024 vor Abiturientinnen und Abiturienten in Kassel gehalten. Ausgehend von einem Forschungsprojekt über die Judenverfolgung in Tagebüchern an der Universität Bielefeld stellt er exemplarisch dar, wie sich die historische Forschung derzeit mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzt. Welche Fragen, Quellen und Forschungsansätze werden besonders intensiv verhandelt? Warum spielen die sog. Mehrheitsgesellschaft (bzw. Bystander), kulturelle Traditionen und soziale Beziehungen dabei eine hervorgehobene Rolle? Die Shoah und andere Massenverbrechen können letztlich nur hinreichend verstanden werden, wenn man sie als das Ergebnis komplexer politischer, gesellschaftlicher und interpersonaler Prozesse betrachtet.

Inhaltsverzeichnis

ABSTRACTS
S. 602

EDITORIAL
S. 604

BEITRÄGE

Hole Rößler
Informationsdienstleistung im 17. und 18 Jahrhundert
Wissenstechniken in der Wolfenbütteler Hofbibliothek zwischen Leibniz und Lessing (S. 605)

Michael Knoche
Büchern eine Biographie geben
Provenienzforschung in Bibliotheken (S. 624)

Anna Brunken
Strategien überregionaler wissenschaftlicher Informationsversorgung in Deutschland (S. 640)

Michael Sauer
„Quelle“ und „Darstellung“ im Verständnis von Schülerinnen und Schülern
Ergebnisse einer empirischen Studie (S. 652)

BERICHTE UND KOMMENTARE

Christina Morina
Warum die Geschichte des Holocaust mehr als (deutsche) Geschichte ist (S. 673)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Gregor Horstkemper
Fachinformationsdienste für die historische Forschung (S. 682)

LITERATURBERICHT

Dietmar von Reeken
Geschichtsdidaktik Teil IV (S. 685)

NACHRICHTEN
S. 703

AUTORINNEN UND AUTOREN
S. 708

REGISTER DES JAHRGANGS 75/2024
S. 709

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