Zu diesem Heft
Palästina/Israel: Zur Debatte in Deutschland
Deutschland, das Land, das unter der Naziherrschaft den Holocaust begangen hat, sollte für universelle Werte stehen. „Nie wieder“ muss für alle gelten. Amos Goldberg (https://www.jacobin.de/artikel/israel-voelkermord-genozid-palaestina, letzter Aufruf: 11.7.2024)
Das am 7. Oktober 2023 von der Hamas verübte Massaker mit insgesamt weit über 1.000 Todesopfern, die Geiselnahme von 239 Personen und Israels darauf folgende Eskalation im Gaza-Krieg mit Bombardements und einer Bodenoffensive, die ein dreiviertel Jahr später über 40.000 Todesopfer (Stand Mitte September 2024) gefordert hat, haben zu vehementen Protesten aus unterschiedlichen Perspektiven in allen Erdteilen geführt. Nicht zuletzt im deutschsprachigen Raum sind diese Proteste von bitteren Kontroversen begleitet, die um grundlegende Fragen des Antisemitismus und Rassismus, der Islamophobie und unvermeidlich auch des Holocaust und der deutschen Erinnerungskultur kreisen. Dabei wird wie schon seit einigen Jahren häufig ein Zusammenhang zwischen der Einforderung und Verfolgung postkolonialer Perspektiven in Wissenschaft und Öffentlichkeit und einem vorgeblich importierten Antisemitismus behauptet. Verbunden sind gegenseitige Vorwürfe und Schuldzuweisungen häufig mit der Klage über die mangelnde Empathie jeweils der Gegenseite für die israelischen und die palästinensischen Opfer, aber auch für diejenigen, die Ziele antisemitischer und rassistischer Übergriffe in Deutschland geworden sind. Das Tragen einer Kippa bedeutet die Gefahr von verbalen und tätlichen Übergriffen. Zugleich richten sich amtliche Verbote und polizeiliche Aktionen gegen diverse Slogans, aber etwa auch gegen das Tragen der Kufiya, mit der Begründung, die Slogans bzw. das Tragen der Kufiya seien antisemitisch oder antiisraelisch, wobei die zugrundeliegenden Begriffe häufig unscharf blieben.
Sehr bald machte sich auch verstärkt eine Tendenz staatlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen im deutschsprachigen Raum bemerkbar, die schon in den zurückliegenden Jahren unter Berufung auf Antisemitismus-Vorwürfe in den Diskurs von Wissenschaft und breiterer Öffentlichkeit eingegriffen hatten. Hierbei stehen seit der faktischen Ausladung des kamerunischen Historikers und Philosophen Achille Mbembe von der Ruhrtriennale 2020 vorgebliche Verbindungen mit der umstrittenen internationalen Kampagne „Boycott, Divestment, Sanctions“ (BDS) im Vordergrund. Jüdische Stimmen, die insbesondere die israelische Besatzungspolitik thematisieren, sind Kritik ausgesetzt. All das hat sich vor dem Hintergrund des Gaza-Kriegs und der durch ihn ausgelösten Proteste verschärft. Die Reihe der Absagen von Veranstaltungen und Einladungen, aber auch von Repressionsmaßnahmen ist lang. Wir erinnern an den Rückzug der Heinrich-Böll-Stiftung von der Ehrung Mascha Gessens anlässlich der Übergabe des Hannah-Arendt-Preises, an die Ausladung der kritischen Soziologin Nancy Fraser von der Albertus-Magnus-Gastprofessur durch die Universität zu Köln und an die abrupte Kündigung der Fellowship des libanesisch-australischen Ethnologen Ghassan Hage durch die Max-Planck-Gesellschaft. Hinzu kommen Eingriffe in die Versammlungsfreiheit wie die polizeiliche Schließung des Palästina-Kongresses in Berlin Ende April 2024 unter Vorwänden, die inzwischen auch in der Presse als fadenscheinig gebrandmarkt werden, zusammen mit plötzlichen Einreise und Auftrittsverboten. Es folgten Räumungen diverser Protestcamps an Universitäten. Im Fall der Freien Universität Berlin wandten sich weit über 1.000 Wissenschaftler:innen gegen den Polizeieinsatz – ausdrücklich ohne sich zu den Forderungen der Protestierenden zu äußern. Sie wurden von der Bundesministerin für Bildung und Wissenschaft Bettina Stark-Watzinger in der Bild-Zeitung als Antisemit:innen bezeichnet, und es wurde zumindest impliziert, sie stünden nicht auf dem Boden des Grundgesetzes; am folgenden Tag veröffentlichte das Boulevard-Blatt eine steckbriefartige Liste von Unterzeichner:innen einschließlich Fotos – eine Erinnerung an die schlimmsten Zeiten der Springer-Hetze in den 1960er Jahren. Wenige Wochen später wurde bekannt, dass im BMBF erörtert worden war, ob man Unterzeichner:innen Fördermittel entziehen könne. Ende Mai wies der politische Senat Berlins die Präsidentin der Humboldt-Universität, Julia von Blumenthal, unter Verletzung der Hochschulautonomie an, Studierende durch die Polizei aus Universitätsgebäuden entfernen zu lassen. Übergreifend zeichnen sich mit dem Plan einer von der CDU/CSU initiierten intrafraktionellen Bundestagsresolution „Historische Verantwortung übernehmen – Jüdisches Leben in Deutschland schützen“ weitere schwere Eingriffe in die Freiheit von Wissenschaft und Kultur ab, wie sie schon nach der gegen BDS gerichteten Bundestagsresolution von 2019 zu beklagen waren.
Unabhängig von der Bewertung der Konfrontation im Einzelnen stehen damit Grundfesten der Wissenschaftsfreiheit, mit dem Erlass strafbewehrter Verbote durch die Exekutive aber auch der Gewaltenteilung zur Debatte. Auch die Regeln internationaler Beziehungen, auf die sich die Westmächte noch anlässlich des russischen Überfalls auf die Ukraine emphatisch bezogen haben, scheinen plötzlich zur Disposition zu stehen, wenn die israelische Regierung bindende Beschlüsse des Internationalen Gerichtshofs ignoriert.
Diese Entwicklungen waren noch nicht alle absehbar, als sich die PERIPHERIE-Redaktion angesichts der bereits dramatischen Situation Anfang 2024 entschloss, mit einem relativ kurzfristig zusammengestellten Heft zu reagieren. Auch die Redaktion als politischer Diskussionszusammenhang konnte sich den Kontroversen der Debatte nicht entziehen. Differenzen in der Einschätzung und zur Darstellung des Konflikts bleiben in der Redaktion wie auch der Schwerpunktredaktion bestehen. Einig sind wir uns darin, dass die Auseinandersetzung einen Raum haben muss – und nicht alle Redaktionsmitglieder mit allen im Heft vertretenen Positionen oder Formulierungen dʼaccord gehen müssen, um einen Beitrag zu publizieren. Nicht nur für die Leser:innenschaft, auch für uns ging es darum, sich näher mit der oben kurz umrissenen diskursiven und politischen Situation auseinanderzusetzen, wie sie seit Beginn des Gaza-Krieges und seiner Wahrnehmung in Deutschland entstanden ist. Dazu gehört nicht zuletzt auch die Befassung mit der Problematik der Definitionen von Antisemitismus, die von staatlichen Stellen oft als bürokratisches Mittel zur Begründung von Maßnahmen eingesetzt werden, wo doch der Diskussionsstand weit weniger eindeutig als unterstellt ist. Andererseits soll das Heft schlaglichtartig auf die internationale Debatte verweisen, die sich in Vielem von den in Deutschland vorherrschenden Diskursen grundlegend unterscheidet und zu selten wahrgenommen wird.
Aus diesem aktuellen Anlass unterscheidet sich dieses Heft etwas von der redaktionellen Routine. Wir haben bewusst vorwiegend kürzere Beiträge mit unterschiedlichen Formaten aufgenommen und dokumentieren auch eine Reihe zuvor schon erschienener Texte, die uns für die Debatte als besonders wichtig erscheinen. Dabei kommt es uns darauf an, in erster Linie andere Sichtweisen, die sich von den in Öffentlichkeit, Politik und teilweise auch Wissenschaft hegemonialen unterscheiden, deutlich zu machen. Dabei ist der Umstand, dass manche Perspektiven, bspw. solche aus dem südlichen Südafrika, stärker repräsentiert sind, langjährigen Arbeitsbeziehungen einzelner Redaktionsmitglieder in die Region geschuldet. Andere regionale Perspektiven hingegen konnten aufgrund fehlender Kontakte weniger berücksichtigt werden – eine Lücke, welche verschiedene (online )Artikelsammlungen, wie z.B. die der Rosa-Luxemburg-Stiftung (https://www.rosalux.de/gegen-die-logik-der-gewalt, Stand September 2024), schließen.
In einem kurz nach dem 7. Oktober 2023 unter dem Eindruck des in Deutschland entstandenen öffentlichen Drucks geschriebenen Text reflektiert Ghassan Hage über die beständige Einengung von Diskursräumen. Er beschreibt eine Situation, in der er in unterschiedlichen Kontexten – im heimatlichen Libanon und nun auch in Deutschland – die heraufziehende Dominanz des „Kriegers“ wahrnimmt, welche räsonierenden Intellektuellen wie ihm selbst den Boden unter den Füßen wegzieht. Damit nimmt der Text vorweg, was der Autor unter hohen persönlichen Konsequenzen selbst erfahren hat, als er abrupt aus dem Max-Planck-Institut in Halle entlassen wurde.
Ilse Lenz untersucht die gegenwärtige Debatte um das Verhältnis von Feminismus und Antisemitismus, die u.a. durch die Unterstützung des Aufrufs Philosophy for Palestine u.a. durch Judith Butler und Nancy Fraser ausgelöst wurde. Angesichts der Polarisierung sowie der hohen Bedeutung von Emotionen in der Debatte sucht sie nach gemeinsamen Grundlagen für die verschiedenen Seiten in den Menschen und Frauenrechten. Die Logik der Polarisierung sieht sie in der hegemonialen Aneignung von Identitätspolitik, die sich tendenziell auf allen Seiten in einen identitären Partikularismus wendet, und in der Anlehnung des Kampfes gegen Antisemitismus an den zunehmenden Autoritarismus. Das Problem wird dadurch verschärft, dass viele Sprecher:innen antagonistisches oder gar antagonistisches diskursives Kapital einsetzen. Mit diesen beiden Formen diskursiven Kapitals wird eine klare Abgrenzung zwischen dem identitär-partikulären „Eigenen“ und dem „Anderen“ vollzogen; der „Andere“ wird als Täter und Gegner, wenn nicht sogar als Feind definiert. Andere verwenden deliberatives diskursives Kapital, in dem verschiedene Deutungen unter Anerkennung ihrer möglichen Unterschiede eingebracht werden und Brücken gebaut werden können. Gegenüber dem identitären Partikularismus fordert Lenz im Feminismus nun einen reflexiveren Universalismus ein.
In den öffentlichen Debatten und Auseinandersetzungen nach dem 7. Oktober 2023 spielen Beschuldigungen wegen vorgeblich oder wirklich antisemitischer Handlungen und Aussagen eine zentrale Rolle. Dabei wird in der öffentlichen Kommunikation bis hin zur Kriminalitätsstatistik oft übersehen, dass Antisemitismus ein komplexer und umstrittener Terminus ist. Zwei Beiträge befassen sich mit wesentlichen Aspekten dieser Problematik. Peter Ullrich geht unterschiedlichen Konzeptionalisierungen des aktuell besonders oft herausgestellten „israelbezogenen Antisemitismus“ nach. Die Komplexität der Problematik generiert ihm zufolge nicht zuletzt „Grauzonen“, angesichts derer sich vorschnelle Schlussfolgerungen verbieten. Konkret am Versuch der Hochschulrektorenkonferenz und der Kultusministerkonferenz, aber auch staatlicher Instanzen einschließlich des Bundestags, die Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) als normbildend durchzusetzen, entwickelt Nils Riecken eine Kritik dieser Definition sowie der Strategien ihrer Durchsetzung. Dabei hebt er besonders auf die positivistische Grundposition ab, die all dem zugrunde liegt und wesentlich dazu beiträgt, ihr eine – freilich nur scheinbare – Objektivität zu verleihen.
Von einer anderen Seite setzen sich Alon Confino & Amos Goldberg mit aktuellen, ebenfalls administrativen Einschränkungen politischer Diskurse auseinander. Die Autoren zeigen die Vielschichtigkeit des Slogans „From the River to the Sea“ auf: Dieser könne unter Bezug auf das ehemalige Mandatsgebiet Palästina ganz unterschiedliche Zielvorstellungen bezeichnen und entziehe sich damit der für die in Deutschland ausgeübte Verbotspraxis nötigen Vereindeutigung. „Die Bedeutung des Slogans hängt von dem Kontext ab, in dem er verwendet wird, und natürlich von der Absicht derjenigen, die ihn verwenden.“ (s. Confino & Goldberg in diesem Heft, S. <?>)
In einem Redebeitrag, den sie bei einer Kundgebung im Januar in Kapstadt gehalten hat, reflektiert Koni Benson über die in aus ihrer Sicht illusionäre Hoffnung, Sicherheit für Jüdinnen und Juden in Israel als einer nationalstaatlich verfassten Heimstatt zu finden. Unter Berufung auf die Erfahrung und Praxis ihrer Vorfahren, die vor über 100 Jahren vor den Pogromen im damaligen Zarenreich nach Südafrika geflohen sind, plädiert sie für ein anti-zionistisches und universalistisches Verständnis des Judentums. Sie beruft sich auf einen radikalen Diasporismus in der Tradition des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes ebenso wie auf die eigenen Erfahrungen im Kampf gegen Apartheid.
Eine andere, ebenfalls von jüdischen Erfahrungen und Leiden im östlichen Europa ausgehende Entwicklungslinie zeichnet Barnett R. Rubin nach:die Verstrickung des Zionismus in koloniale Perspektiven und Projekte bis hin zur Nakba und der Schaffung des Staates Israel. Dieser koloniale Ursprung ist allerdings nicht von den durch Verfolgungen motivierten Anstrengungen zu lösen, „sich dauerhaft auf der Weltkarte zu platzieren“. Doch erwies sich die Hoffnung auf „Erlösung durch Herrschaft“ letztlich als „ein falscher Messias“.
Die Auseinandersetzung mit dem Zionismus prägt auch Steven Robinsʼ Erfahrungen, im Rahmen einer jüdischen Reformgemeinde in Kapstadt, aber auch in Universitätsgremien Solidarität mit den Opfern der israelischen Kriegführung in Gaza zu artikulieren. Robins beruft sich dabei auf ein universalistisches, alle Unterdrückten umfassendes Verständnis der Erzählung vom Auszug aus Ägypten. Zugleich reflektiert er seine Beobachtungen der aktuellen Situation in Deutschland, wo er in der Vergangenheit selbst verschiedentlich interveniert hat, besonders durch die Erforschung der Geschichte seiner im Holocaust ermordeten Verwandten und durch die Verlegung von Stolpersteinen für sie. Auch Robins verweist mit Blick auf die Lage in Palästina/Israel auf die Erfahrung der Überwindung der Apartheid und damit auf die Verstrickung in ein System der Unterdrückung.
Vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen der Marginalisierung und Ableugnung als Palästinenserin in Deutschland kritisiert Hanna Al Taher die Rede von der deutschen Staatsräson in Bezug auf den Staat Israel und unterlegt dies mit verstörenden Beobachtungen zur Realität deutscher Erinnerungskultur. Vor diesem Hintergrund skizziert sie eine provozierende alternative Sicht auf die Ereignisse des 7. Oktober 2023, nämlich als Aufsprengung dieser hermetischen Situation des Beschweigens und der Ableugnung.
Die immer wieder zugespitzte Auseinandersetzung mit Antisemitismus-Vorwürfen im deutschen Kulturbetrieb fand einen besonderen Höhepunkt im Streit über die documenta 15, deren Eröffnung 2022 sogleich als Skandal kommuniziert wurde. Aram Ziai untersucht den Bericht der daraufhin eingesetzten Kommission, die solchen Vorwürfen nachgehen sollte. Auch hier zeigen sich neben den Effekten der Skandalisierung selbst die Schwierigkeiten einer Definition. Einzelne der ausgestellten Werke werden im Bericht zwar als antisemitisch gedeutet, die Plausibilität der Deutung hängt jedoch davon ab, ob die IHRA-Definition oder die weit zurückhaltendere Begriffsbestimmung der Jerusalem Declaration zugrunde gelegt wird.
Eine spezifisch deutsche Positionierung gewann international besonderes Profil, als die Bundesregierung im Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof gegen einen möglichen Genozid in Gaza sogleich an die Seite Israels trat. Die heftige Reaktion des Präsidenten Namibias stellte diese Positionierung in den Kontext der nach wie vor ungenügenden Aufarbeitung deutscher Kolonialverbrechen einschließlich des Völkermords 1904 1908. Henning Melber stellt diese Ereignisse in den Zusammenhang deutscher Erinnerungspolitik, insbesondere einer anhaltenden kolonialen Kontinuität. Nicht zuletzt findet diese Kontinuität Ausdruck in den Modalitäten der Verhandlungen zwischen der namibischen und der deutschen Regierung über die Konsequenzen des Völkermordes, die insbesondere durch den weitgehenden Ausschluss der Nachkommen der Opfer gekennzeichnet sind. Diverse Angriffe, in denen seit einigen Jahren und verstärkt nach dem 7. Oktober 2023 vor allem Antisemitismus-Vorwürfe gegen postkoloniale Studien in Stellung gebracht wurden, lassen Heike Becker fragen, ob die häufig mit internationalem Lob bedachten Lernprozesse der Deutschen nach dem Holocaust wirklich so nachhaltig waren und sind, wie viele lange Zeit geglaubt oder gehofft hatten. Die Problematik zeigt sich auch im Vergleich zu der weit verbreiteten Palästina-Solidarität in Südafrika, zuletzt aber in besonderer Weise in den heftigen Abwehrreaktionen auf die Vorschläge der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Claudia Roth, zur Ausweitung der offiziellen Erinnerungspolitik auf die koloniale Vergangenheit – neben den etablierten Säulen des Gedenkens an den Nationalsozialismus und die DDR-Diktatur.
Anstrengungen zur Erweiterung des Kanons offizieller Erinnerung zumal um Fragen der kolonialen Geschichte Deutschlands sind immer wieder auf die Gegenrede gestoßen: hierdurch werde der Holocaust relativiert. Abgesehen von der Klarstellung, dass Vergleich nicht dasselbe wie Gleichsetzung ist, erläutert Michael Rothberg vor dem Hintergrund seines Konzepts einer multidirektionalen, Opferkonkurrenz überwindenden Erinnerung eine mögliche Ethik des Vergleichs. In gewisser Weise konkretisiert der Rezensionsaufsatz von Reinhart Kößler diese Überlegungen anhand zweier umfangreicher Sammelbände. Diese Bände zeichnen das nach, was zuweilen „Historikerstreit 2.0“ genannt wird. Darüber hinaus werfen sie Probleme einer Erinnerungspolitik auf, die einerseits der Totalität deutscher Vergangenheit einschließlich des Kolonialismus gerecht wird, andererseits die Vielfalt von Perspektiven gerade auch migrantischer Gruppen angemessen berücksichtigt.
Zum Verständnis des aktuellen Konflikts in Palästina/Israel sind Kenntnisse über Hamas unerlässlich, die in politischen Stellungnahmen und Kommentaren häufig fehlen. Alex Flores zeichnet die Entstehung der Organisation aus der Muslimbruderschaft sowie ihre wechselhafte Positionierung zum palästinensischen Widerstand gegen die israelische Besatzung nach. Dabei zeigt sich eine komplementäre Bewegung zur Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) im Hinblick auf deren Abkehr vom bewaffneten Kampf im Gegensatz zum Übergang der Hamas zu militärischen Aktionen, aber auch deren widersprüchliche Beziehung zu Israel in wiederholten Bestrebungen, die islamistische Organisation gegen die PLO auszuspielen. In seiner Interpretation reiht sich der Angriff am 7. Oktober 2023 so in eine spezifische Strategie und Praxis des Widerstands gegen die Besatzung ein, die jedoch mangels klarer Zielsetzung als letztlich unrealistisch erscheint.
Zwei Stichwörter runden die Ausgabe ab. Im ersten zeigt Moshe Zuckermann die Widersprüchlichkeit des Zionismus sowohl als ideologisches Konstrukt als auch als Bewegung auf. Im zweiten setzt sich Aram Ziai mit der These auseinander, der Holocaust sei als ein Zivilisationsbruch zu begreifen.
Dass diese Ausgabe eine Doppelnummer werden würde, war nicht von Anfang an klar. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat sich ihre Fertigstellung verzögert. Das letzte Heft dieses Jahres wird sich als Einzelausgabe mit dem Zusammenhang von „Rassismus und Kapitalismus“ befassen. Darüber hinaus planen wir für 2025 Ausgaben zu den Schwerpunkten „Gelebte Utopien“ sowie „Digitalisierung“. Zu diesen und anderen Themen sind Beiträge sehr willkommen. Sobald sie veröffentlicht werden, finden sich die entsprechenden Calls for Papers auf unserer Homepage oder auf der unseres Verlags unter https://www.budrich-journals.de/index.php/peripherie.
In eigener Sache danken wir allen Leser:innen, Abonnent:innen sowie den Mitgliedern der Wissenschaftlichen Vereinigung für Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik e.V., der Herausgeberin der PERIPHERIE. Unsere größtenteils ehrenamtliche Arbeit ist weiterhin von Spenden abhängig. Eine für die langfristige Sicherung des Projekts besonders willkommene Förderung stellt die Mitgliedschaft im Verein dar, in der das Abonnement der Zeitschrift, die Möglichkeit eines kostenfreien online-Zugangs zu allen Ausgaben seit dem 22. Jahrgang (2002) sowie regelmäßige Informationen über die Redaktionsarbeit enthalten sind. Wir freuen uns aber auch über einmalige Spenden. Unsere Bankverbindung finden Sie im Impressum.
https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.01
Zu diesem Heft, S. 171 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.01)
Ghassan Hage: Gaza und das bevorstehende Zeitalter des „Kriegers“, S. 179 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.02)
Ilse Lenz: Feminismus, Antisemitismus und diskursives Kapital, S. 186 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.03)
Peter Ullrich: Identität, Differenz oder Affinität. Konzeptualisierungen des Verhältnisses von Antisemitismus und „Israelkritik“, S. 204 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.04)
Nils Riecken: Hochschulpolitische Strategien gegen Antisemitismus und das deutsche Politische, S. 214 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.05)
Alon Confino & Amos Goldberg: Vom Fluss bis zum Meer gibt es Raum für viele verschiedene Interpretationen, S. 233 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.06)
Koni Benson: Heimat schaffen, nicht sich nehmen. Anti-Imperialismus und Anti-Zionismus, gesehen von Südafrika heute, S. 242 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.07)
Hanna Al-Taher: Deutsche Staatsräson und die Verunmöglichung Palästinensischer Realität, S. 250 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.08)
Barnett R. Rubin: Falsche und andere Erlöser. Was die Befreiungsträume des Zionismus mit dem Kolonialismus zu tun haben – ein Essay zur laufenden Debatte, S. 260 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.09)
Steven Robins: Völkermord in Gaza – aus Sicht eines jüdischen Südafrikaners, S. 277 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.10)
Aram Ziai: Konflikte um Antisemitismus bei der documenta 15. Zum Abschlussbericht des Expert:innen-Gremiums, S. 288 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.11)
Henning Melber: Von der Omaheke bis Gaza: Namibia, Deutschland und Israel, S. 306 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.12)
Alexander Flores: Hamas und der 7. Oktober, S. 322 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.13)
Michael Rothberg: Holocaust-Gedenken und die Ethik des Vergleichs, S. 339 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.14)
Heike Becker: Cape Town to Berlin. Israels Krieg in Gaza, Südafrika und die strauchelnde Dekolonisierung der deutschen „Erinnerungskultur“, S. 344 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.15)
Reinhart Kößler: Bewältigen oder Aufarbeiten? Vom Umgang mit deutscher Vergangenheit (Rezensionsartikel), S. 354 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.16)
Moshe Zuckermann: PERIPHERIE-Stichwort: Zionismus, S. 366 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.17)
Aram Ziai: PERIPHERIE-Stichwort: Zivilisationsbruch, S. 371 (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.18)
Rezensionen, S. 375-406
Matthias Böckmann, Matthias Gockel, Reinhart Kößler & Henning Melber (Hg.): Jenseits von Mbembe. Geschichte, Erinnerung, Solidarität (Alexander Flores) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.19)
Corry Guttstadt (Hg.): Antisemitismus in und aus der Türkei (Mahir Tokatlı) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.20)
Roni Mikel-Arieli: Remembering the Holocaust in a Racial State. Holocaust Memory in South Africa from Apartheid to Democracy (Rita Schäfer) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.21)
Katja Lembke (Hg.): Die Haifischinsel. Das erste deutsche Konzentrationslager (Reinhart Kößler) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.22)
Georg Simonis: Global Governance. Entstehung – Institutionen – Analyse (Wolfgang Hein) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.23)
Judith Kopp: Fluchtursachenbekämpfung. Umkämpfte Migrationspolitik im Sommer der Migration 2015 (Jannis Eicker) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.24)
Nafissa Insebayeva: Modernität, Entwicklung und Dekolonisierung des Wissens in Zentralasien. Kasachstan als Anbieter von Auslandshilfe (Ellen Skuza) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.25)
Ulrike Schuerkens (Hg.): Entreprises, entrepreneurs et travail au Sénégal (Dieter Neubert) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.26)
Thomas Stölner, Uwe H. Bittlingmayer & Gözde Okcu (Hg.): Anarchistische Gesellschaftsentwürfe. Zwischen partizipatorischer Wirtschaft, herrschaftsfreier Vergesellschaftung und kollektiver Entscheidungsfindung (Gerhard Hauck) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.27)
Sammelrezension zu: Jasper Henning Hagedorn: Bremen und die atlantische Sklaverei Waren, Wissen und Personen, 1780-1860; Marcus Rediker: Das Sklavenschiff. Eine Menschheitsgeschichte (Reinhart Kößler) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.28)
Kornelia Kończal & A. Dirk Moses (Hg.): Patriotic History and the (Re)Nationalization of Memory (Reinhart Kößler) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.29)
Sammelrezension zu: Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution; jour fixe initative berlin (Hg.): Kreolische Konstellationen Kolonialismus, Imperialismus, Internationalismus (Matin Baraki) (https://doi.org/10.3224/peripherie.v44i2.30)
Eingegangene Bücher, S. 406
Zu den Autorinnen und Autoren, S. 407