Konnte das vorige, im Dezember 2023 erschienene Jahrbuch für Antisemitismusforschung aufgrund des Redaktionsschlusses im September die Ereignisse am und nach dem 7. Oktober nicht mehr reflektieren, so belegt nicht zuletzt der in diesem Jahr vergleichsweise schlank ausgefallene Band, in welch hohem Maße die Kolleginnen und Kollegen am ZfA aktiv in die Debatten eingebunden waren, die seither die öffentliche Diskussion beherrschen. Aber auch die Wissenschaft steht vor zahlreichen Fragen und Herausforderungen zu Kontinuität, Wandelbarkeit und Verbreitung von Antisemitismus. Diese werden uns in den nächsten Jahren sicherlich auch hier im Jahrbuch beschäftigen. Da empirische Forschung jedoch stets mit einer gewissen Zeitverzögerung auf gesellschaftliche Ereignisse reagiert, haben wir für diese Ausgabe zunächst ein kleines Dossier mit Texten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem ZfA zusammengestellt, die erste Eindrücke, Meinungen und die Ansätze von Analysen zu diesem Ereignis und seinen innen- wie außenpolitischen Folgen zusammentragen und so einmal mehr die Vielstimmigkeit unserer Einrichtung unter Beweis stellen.
Mathias Berek argumentiert, dass die Reaktionen vieler linker Gruppen auf die Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 das moralische und politische Versagen dieser palästinasolidarischen Bewegungen offenbaren, da sie oft den Angriff verharmlost oder gerechtfertigt hätten. Er beschreibt dieses Phänomen als „Palästinismus“, d.h. als eine dogmatische Weltanschauung, die den israelisch-palästinensischen Konflikt einseitig auf Israel als Hauptverantwortlichen reduziert und sowohl selektiven Humanismus als auch autoritäre Strukturen innerhalb linker Bewegungen fördert. Der Essay von Yael Kupferberg reflektiert die wiederkehrende Gewalt als wichtiges Thema jüdischer Literatur und Philosophie. Der Terror am 7. Oktober bestätige und aktualisiere die im jüdischen Kanon vermittelten Erfahrungen. Damit sind Geschichte und Gegenwart auf bestürzende Weise miteinander verschränkt und werfen so zugleich existentielle Fragen auf, die, so Kupferberg, sowohl von Heinrich Heine als auch von Hannah Arendt und Theodor W. Adorno aufgenommen und ebenso partikular wie universal beantwortet wurden. Diese Reflexionen aus dem 19. und 20. Jahrhundert haben auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung verloren, was vielleicht weniger über die Vergangenheit als vielmehr über die Dramatik der Gegenwart aussagt. Felix Axster und Christoph Gollasch haben mit unserem Kollegen Avner Ofrath, Historiker an der Freien Universität, über die Anatomie der Gewalt in Nahost gesprochen. Ausgehend vom Massaker des 7. Oktobers und vor dem Hintergrund der anschließenden Zerstörung des Gaza-Streifens durch die israelische Armee geht es unter anderem um die Frage, ob und inwiefern der Kolonialismus-Begriff als analytische Perspektive auf das Verhältnis zwischen Israel und den Palästinenser:innen hilfreich bzw. angemessen ist. Im Gespräch wird offenbar, wie schwierig und trotzdem notwendig es ist, zwischen wissenschaftsgeleiteten Erkenntnissen und politisch-moralischen Urteilen zu differenzieren, was sich nicht zuletzt am Streit um Holocaust-Referenzen nach dem 7. Oktober gezeigt hat.
In Deutschland steht die Bekämpfung des Antisemitismus seit dem 7. Oktober im Scheinwerferlicht der öffentlichen Auseinandersetzung und fast schon reflexhaft wird dabei auf die zentrale Rolle von Bildungsprojekten, in- und außerhalb von Schulen und Universitäten verwiesen. Bislang wissen wir jedoch sehr wenig über die tatsächliche Wirksamkeit der diversen Projekte. Karim Fereidooni und Sebastian Salzmann analysieren in einer qualitativen Studie Unterrichtsstunden zum Thema Antisemitismus, in denen Schüler:innen und Lehrkräfte beobachtet wurden. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Kommunikation zwischen Schüler:innen, Lehrkräften und dem verwendeten Unterrichtsmaterial in vielen Fällen eher zur Reproduktion und Verfestigung antisemitischer Stereotype führt als zu deren Verflüssigung. Dabei spielen sowohl die Rahmung des Themas im Unterricht als auch die Auswahl des Unterrichtsmaterials eine zentrale Rolle. Kontrovers wird in der Antisemitismusforschung schon seit längerem diskutiert, ob und inwiefern die sogenannte „Begegnungspädagogik“ eine wirksame Strategie gegen antisemitische Vorurteile sein kann. Befürworter:innen betonen dabei die positive Wirkung auf Empathie und Vorurteilsabbau, während Kritiker:innen warnen, dass diese Begegnungen Differenzen verstärken und Antisemitismus reproduzieren könnte. Eine empirische Untersuchung des Projekts „Meet a Jew“, durchgeführt von Dana Ionescu und Fiona Kazarovytska, zeigt, dass viele jüdische Freiwillige die Begegnungen als positiv erleben und diese ihr Selbstbewusstsein stärken. Eine grundsätzliche Perspektive, die auch für die Bildungsarbeit von Bedeutung ist, nimmt Anthony Kauders ein, der betont, dass Antisemitismus zunächst einmal nicht nur kognitiv, sondern auch emotional verstanden werden muss. Dabei bietet die Geschichte der Emotionen vielversprechende Ansätze, um antisemitische Gefühle in Bezug auf kulturelle Normen und Gemeinschaftsgrenzen zu analysieren. Gleichzeitig kritisiert Kauders jedoch, dass diese Herangehensweise oft den Übergang von Emotionen zu konkreten Handlungen nicht ausreichend erklärt. Um diese Lücke zu schließen, plädiert er dafür, Konzepte aus der Sozialpsychologie – wie etwa die Social Identity Theory – heranzuziehen, um besser zu verstehen, wie kollektive Emotionen zu antisemitischem Verhalten führen können. Dies wäre sowohl für die Evaluierung der pädagogischen Projekte zur Antisemitismusbekämpfung von Bedeutung, könnte aber auch die historische Forschung bereichern.
Ein Beispiel hierfür ist die Studie von Sven Kinas, der auf der Basis systematischer Archivrecherchen Ausmaß und Folgen der antisemitischen Personalpolitik der Ludwig-Maximilians-Universität in München präsentiert. Er präsentiert erstmals exakte Zahlen zu den entlassenen bzw. vertriebenen Lehrkräften, zur Emigration und Remigration, zum Schicksal der in Deutschland Verbliebenen sowie zu den Suiziden und Gewaltopfern unter den vertriebenen Münchener Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern. Dabei wird auch deutlich, dass es sich bei den als „Nichtarier“ verfemten Lehrkräften um eine äußerst heterogene Gruppe handelte, von denen der größte Teil nicht mehr der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte. Die Wirksamkeit eines „Antisemitismus ohne Juden“ ist auch das Thema eines Beitrags, den ich im Kontext meiner Gastprofessur an der London School of Economics einwerben konnte: Trotz fehlender wirtschaftlicher und religiöser Voraussetzungen entwickelte sich in China während der Republikzeit (1912–1949) ein importierter, diskursiver Antisemitismus, der von christlichen Missionaren und westlich beeinflussten Intellektuellen verbreitet wurde, jedoch nicht zu physischer Gewalt führte. Dieser chinesische Antisemitismus beruht zweifelsohne auf westlichem rassistischem Denken und spiegelte nationale Ängste und anti-imperiale Ressentiments wider. Yuang Marcus Liu und Qing Xiao lesen zeitgenössische Zeitungsartikel und Schriften und vergleichen diese mit den Eindrücken jüdischer Flüchtlinge in China, die vor der deutschen Verfolgung vor allem nach Shanghai flohen, und die China dennoch als relativ antisemitismusfrei wahrnahmen. Dies lag, so ihre Interpretation, unter anderem an den Sprachbarrieren, aber vor allem an der Dankbarkeit, die sie für ihr Aufnahmeland empfanden.
Abschließend sei auf den Eingangsbeitrag in diesem Band verwiesen, mit dem wir unsere Reihe der Vorstellung hauseigener Projekte fortführen. Im Rahmen einer interdisziplinär und multimethodisch angelegten Verbundstudie zum Thema Institutionen & Rassismus (InRa) wurde seit 2022 bundesweit an acht Forschungsstandorten in 23 Teilprojekten geforscht. Drei der vier am Zentrum für Antisemitismusforschung angesiedelten Teilprojekte, die unterschiedliche Behörden – Arbeitsagentur, Polizei, Kommunalverwaltung sowie Ausländeramt – in den Blick nehmen, stellen hier erste Ergebnisse vor, die mit Beispielen aus dem Interviewmaterial illustriert werden und belegen, wie fruchtbar gerade die lokal gebundene, institutionelle Perspektive für das Verständnis der Kontinuität rassistischer Wissensbestände und ihrer Wirksamkeit ist. Dieser Befund wird auch nach dem Erscheinungsdatum dieses Bandes nicht an Aktualität verloren haben.
STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM Vorwort
BERRYL AMEDEGNATO/ HALIL CAN/KIMIKO SUDA Institutioneller Rassismus in Deutschland Vorläufige Ergebnisse aus drei Berliner Teilprojekten (Verbundstudie „Institutionen & Rassismus [InRa]”)
SVEN KINAS Die antisemitisch und politisch motivierte „Säuberung“ der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) 1933–1945
YUANG MARCUS LIU UND QING XIAO Republican-Era Chinese Antisemitism and Its Remembrance among Jewish Refugees
ANTHONY KAUDERS Enmity Explained: The History of Emotions and the Psychology of Antisemitism
SEBASTIAN SALZMANN UND KARIM FEREIDOONI Antisemitismus als soziales Phänomen in der Institution Schule. Ergebnisse einer qualitativen Unterrichtsbeobachtungsstudie
DANA IONESCU UND FIONA KAZAROVYTSKA Antisemitismus im Kontext von jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen. Perspektiven und Erfahrungen von Jüdinnen:Juden in Deutschland
DOSSIER: DEBATTEN ÜBER ANTISEMITISMUS NACH DEM 7. OKTOBER 2023
MATHIAS BEREK Palästinismus als neue Weltanschauung
YAEL KUPFERBERG „Das, was sich zeigt“. Zum 7. Oktober 2023
FELIX AXSTER UND CHRISTOPH GOLLASCH „Die soziale Realität analytisch erkunden zu wollen, ist ein im wahrsten Sinne des Wortes politisches Projekt“ – Ein Gespräch mit Avner Ofrath über die Anatomie der Gewalt in Nahost
DIE AUTORINNEN UND AUTOREN