Die Geschichte des modernen Sozialstaats ist eine Geschichte politischer Konflikte und Auseinandersetzungen. Von der Einführung der ersten Sozialversicherungssysteme im 19. Jahrhundert bis zu den heutigen Systemen der öffentlichen Daseinsvorsorge wurde und wird über Sinn und Zweck staatlicher Unterstützungsleistungen ebenso vehement gestritten wie über deren Umfang, Reichweite und Grenzen. Während einige den konsequenten Ausbau öffentlicher Einrichtungen und Leistungen fordern, plädieren andere für deren Begrenzung auf ein notwendiges Minimum. Zivilgesellschaftliche Initiativen zur Linderung sozialer Not, deren Angebote staatliche Leistungen nicht nur ergänzen, sondern in Zeiten leerer öffentlicher Kassen immer öfter auch ersetzen, komplizieren die Lage zusätzlich. Was aber bedeutet es für den Zusammenhalt moderner Gesellschaften, wenn Solidarität schwindet und die Gewährleistung von Unterstützung zunehmend an Bedingungen geknüpft wird?
Im ersten Beitrag zeichnen Stefanie Börner, Philipp Kahnert und Julian Pietzko die „Konfliktlinien komplementärer Wohlfahrtsproduktion“ nach. Gestützt auf umfangreiche Forschungsdaten nehmen sie „Eine Verhältnisbestimmung zwischen Sozialstaat und Zivilgesellschaft“ vor und loten das spannungsreiche Mit- und Nebeneinander staatlicher und nicht staatlicher Wohlfahrtsproduzenten aus. Anschließend betrachten Arne Koevel, Uwe Schimank und Stefan Holubek-Schaum „Partikularistische Solidaritätseinschränkungen im Spiegel von Wohlfahrtsstaatskritiken“. Anhand einer Reihe qualitativer Interviews erörtern sie kritische Einstellungen gegenüber der Gewährung sozialstaatlicher Leistungen und rekonstruieren die alltagspraktisch wirksamen Motive und Maßstäbe, die zur Beurteilung der Legitimität staatlicher Unterstützungsleistungen in Anschlag gebracht werden. Die Frage, wie es um transnationale „Solidaritätsbereitschaft in der Polykrise“ bestellt ist, steht im Mittelpunkt des Beitrags von Stefan Wallaschek und Eloisa Harris. Sie untersuchen „Deutschland und Italien im Vergleich“ und eruieren mittels hypothetischer Krisenszenarien, ob die Menschen beider Länder eher den Institutionen der Europäischen Union oder des Nationalstaats vertrauen. Um die politische Instrumentalisierung privater Unterstützungsleistungen geht es in Miriam Stolls Beitrag „‘Volkssolidarität‘ statt Wohlfahrtsstaat“. Darin beschreibt sie „Kümmern und Helfen als extrem rechte Praxis der Partei Der III. Weg“ und zeigt an diesem Fallbeispiel was passiert, wenn politisch interessierte Gruppen die kommunalen Versorgungslücken der öffentlichen Daseinsvorsorge gezielt zur Verbreitung ihrer Agenda nutzen. Abschließend macht sich Gregor Berger Gedanken „Zur Frage der Folgenlosigkeit progressiv-solidarischer Bewegungen“. Seine Ursachenanalyse mündet in ein Plädoyer für ein größeres Engagement in formalen Organisationen und eine stärkere Institutionalisierung Sozialer Bewegungen, um sowohl die Verbindlichkeit als auch die Wirksamkeit zivilgesellschaftlichen Handelns zu erhöhen.
Zum Ortstermin erwartet uns diesmal Marina Münkler. Im Mittelpunkt ihrer durch Zeiten und Räume flanierenden Darstellung steht „Der Stammtisch“ als sozialer Ort, an dem Traditionen und Erinnerungen ebenso gepflegt werden wie Ressentiments, und an dem Zusammenhalt nicht selten über Ausgrenzung gestiftet wird.