Bis heute ringen in der öffentlichen Auseinandersetzung unterschiedliche Erzählungen und konkurrierende Deutungen miteinander, was nach der Zäsur 1989/90 und dem Ende der DDR „gewonnen“ oder „verloren“ wurde. Für manche eine persönliche Bilanz, für andere eine gesamtgesellschaftliche Gewinn-Verlust-Rechnung. Auffällig ist, noch immer werden Begriffe wie „Wendeverlierer“ und „Einheitsverlierer“ verwendet, wobei „Demokratiegewinner“ oder „Freiheitsgewinner“ kaum gebräuchliche Zuschreibungen sind. Dazu passt, dass zum 35. Jubiläum von Friedlicher Revolution und Mauersturz in der öffentlichen Debatte eher die bestehenden Unterschiede als die gewachsenen Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West betont wurden. Der defizitäre Blick auf den Zustand von Einheit und Demokratie kann zwar zu neuen Anstrengungen und Bemühungen leiten, aber auch zu Lethargie und Fatalismus führen. Viel zu kurz kommen in vereinfachten Einnahmeüberschussrechnungen die tatsächlichen Gewinne für den Einzelnen und die Gemeinschaft, die ausgehend vom Herbst 1989 auf friedlichem Wege erreicht wurden: eine offene und plurale Gesellschaft, eine nicht perfekte, aber von allen gestaltbare Demokratie, freie Wahlen und soziale Teilhabe, Menschenrechte und Rechtsstaat, Meinungs-, Presse- und Reisefreiheit, das Ende von Unterdrückung und Bespitzelung sowie die Möglichkeit, das eigene Leben selbst in die Hand nehmen zu können.
Die Beiträge im aktuellen Heft der „Gerbergasse 18“ vermessen das Verhältnis von Gewinn und Verlust auf ganz unterschiedliche Art und Weise. So konnte der Verlust von Angst enorme Kräfte freisetzen und damit den (Wieder-)Gewinn von Mitbestimmung und Selbstwirksamkeit einleiten. Mit dem zeitlichen Abstand lassen sich weitere Folgen aus der Überwindung von Teilung und Leid feststellen. Das „Grüne Band“ in Deutschland, entstanden aus der trennenden innerdeutschen Grenze, soll perspektivisch eine gemischte Kultur- und Naturerbestätte bilden, die ihre einzigartige Bedeutung aus Anteilen von Natur, Kultur und Erinnerung erhält.
Durch Beiträge in der Rubrik Zeitgeschichte werden der hartnäckige Mythos vom „Friedensstaat DDR“ entzaubert, eine spektakuläre Verfolgungsjagd am Himmel über Thüringen 1983 geschildert und das ereignisreiche Jahr 1989 in Rudolstadt beleuchtet. Im Bereich Zeitgeschehen werden eine Ausstellung zu Leben und Werk des Ehepaars Elisabeth und Reiner Kunze vorgestellt, das Konzept der Erinnerungsökologie erläutert und die Garagen als kulturgeschichtliches Forschungsobjekt diskutiert. Rezensiert werden Bücher zur deutschen Demokratiegeschichte, zu Selbstzeugnissen aus dem Frauengefängnis Hoheneck und über die erste Museumsdirektorin der Weimarer Republik.
TITELTHEMA GEWINN UND VERLUST
03 Volker Döring – Even The Bad Times Are Good Was ich der Stasi verdanke
09 Dorothea Fischer – Die Friedensgemeinschaft Jena Eine (selbst-)kritische Auseinandersetzung
14 Philipp Schultheiß – Gewinner und Verlierer der Freiheit NVA-Angehörige und die Friedliche Revolution 1989
19 Anke Geier – Mit vereinten Kräften gegen die Mülldeponie Der Marisfelder Umweltgottesdienst am 8. Juli 1989
25 Anne Hahn – Gegenüber von China Romanauszüge und Zeichnungen
29 Baldur Haase – Kunst ist Waffe – Volkskunst ist Geheimwaffe Das künstlerische Laienschaffen in der DDR
ZEITGESCHICHTE
35 Johannes Mühle – Wider den Mythos vom Friedensstaat Militarisierung und Mobilmachung in der DDR
40 Jan Schönfelder – Luftkampf über Thüringen Ein Grenzzwischenfall 1983
45 Frank Michael Wagner – Kulturelle Ermutigung zum nahenden Umbruch Ein Provinz-Theater, Klubs und Jugendinitiativen mucken auf – Teil 2: 1989
ZEITGESCHEHEN / DISKUSSION
51 Sonja K. Pieck – Erinnerungsökologie Naturschutz in verwundeten Landschaften
58 Linda Keyserlingk-Rehbein – „Ich habe die tschechische Sprache geheiratet.“ Eine Ausstellung der Reiner und Elisabeth Kunze-Stiftung
62 Ira Spieker/Katharina Schuchardt – Garagen / Geschichten Kulturwissenschaftliche Erkundungen eines Alltagsortes
REZENSIONEN
66 Daniel Börner – „Museen sind oder sollten sein lebendige Organismen“ Wiederentdeckung einer Pionierin
68 Elke Kühns – Schreiben gegen das Schweigen Weibliche Stimmen zu Verfolgung, Haft und den Folgen bis heute
70 Sebastian Hollstein – Eine Demokratiegeschichte „von unten“ Studie zu bisher kaum beachteten Quellen als Beitrag zur Ost-West-Debatte