Seit über zwei Jahrzehnten gibt es in Deutschland Massenarbeitslosigkeit und unisono wird deren Bekämpfung von Politikern aller Parteien immer wieder als wichtigste Aufgabe der Politik bezeichnet. Doch bisher änderte dies nichts daran, dass die Arbeitslosigkeit in der langfristigen Tendenz stetig zugenommen hat. Aber nun endlich naht die Rettung. Die „Hartz-Kommission“ hat innerhalb von wenigen Monaten die Maßnahmen entdeckt, die wirklich greifen werden. Die rot-grüne Regierung ist so von ihrer Kommission überzeugt, dass sie sich jede Kritik verbittet, die Ergebnisse dürften jetzt nicht „zerredet“ werden. Angesichts des überschwänglichen Lobes fragt man sich, warum man Peter Hartz nicht schon vor 10 oder 15 Jahren auf das Problem Arbeitslosigkeit angesetzt hat, oder zumindest gleich zu Beginn der ersten Amtszeit von Rot-Grün und nicht erst an deren Ende.
Allerdings war die Hartz-Kommission keineswegs von Anfang an als Wunderwaffe gegen Arbeitslosigkeit konzipiert. Im Frühjahr dieses Jahres wurde zunächst festgestellt wurde, dass die in den Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit aufgeführten Vermittlungszahlen mir ihrer tatsächlichen Vermittlungstätigkeit nicht allzu viel zu tun hatten. Damit drang ins öffentliche Bewusstsein, dass es sich bei dieser Anstalt um einen ziemlich schwerfälligen bürokratischen Apparat handelte, bei dem nur ein geringer Teil der Mitarbeiter:innen überhaupt mit der Vermittlung von Arbeitslosen beschäftigt war. Als Reaktion darauf wurde nicht nur der Chef ausgetauscht, eine Kommission sollte jetzt auch ein Konzept für eine Verwaltungsreform der Bundesanstalt ausarbeiten. Die Hartz-Kommission war geboren. Als in den folgenden Wochen die Arbeitslosenzahlen immer weiter stiegen und angesichts des näher rückenden Wahltermins die frühere Aufforderung Gerhard Schröders, ihn und seine Regierung an den Erfolgen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu messen, in einem Wahldesaster zu enden drohte, sollte die Hartz-Kommission nicht nur die Bundesanstalt für Arbeit reformieren, sondern den gesamten Arbeitsmarkt gleich mit. Brav fügte sich die Kommission in ihre neue Rolle und lieferte rechtzeitig vor den Wahlen einen Bericht ab, der sogar eine Modellrechnung enthielt, die besagte, dass es bei konsequenter Umsetzung ihrer Vorschläge in wenigen Jahren ca. zwei Millionen Arbeitslose weniger geben würde - eine glatte Halbierung der Zahl der (gemeldeten) Arbeitslosen. Eine ähnlich verwegene Prognose hatte bisher nur Helmut Kohl Mitte der 90er-Jahre abgegeben.
Erreicht werden soll dies mit einem ganzen Bündel von Maßnahmen, das von einer effizienteren Vermittlung durch die Arbeitsämter über mehr Druck auf die Arbeitslosen (Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln, faktische Kürzung der Arbeitslosenhilfe durch Überführung in ein bedarfsabhängiges Arbeitslosengeld II), finanzielle Anreize für Unternehmen, die Arbeitslose einstellen, bis hin zur Förderung von „Ich-AGs“ (Arbeitslose machen sich selbständig), „Mini-Jobs“ in privaten Haushalten und was für die Statistik vielleicht den größten Effekt haben dürfte: der Überführung von Arbeitslosen in Personal Service Agenturen, von denen sie dann kostengünstig an Unternehmen verliehen werden, in der Hoffnung, dass dabei auch mal jemand von einem Unternehmen übernommen wird.
Über einzelne Vorschläge aus diesem Paket wurde in den letzten Monaten zwar schon häufiger diskutiert. Weitgehend ausgeblendet blieb aber dessen impliziter ökonomietheoretischer Hintergrund. Mit ihm setzt sich Hansjörg Herr in seinem Beitrag auseinander. Zwar folgen die einzelnen Vorschlägen keinem stringenten theoretischen Konzept, doch lässt sich zumindest der - ökonomietheoretisch äußerst fragwürdige - Kerngedanke der neoklassischen Arbeitsmarkttheorie wiederfinden: zu hohe Löhne und eine zu geringe Flexibilität des Arbeitsmarktes sollen die Ursachen der Massenarbeitslosigkeit sein. Dass die zentralen Lehrsätze dieser Theorie nur in einer „Ein-Gut-Ökonomie“ Gültigkeit haben, hat den aus ihnen resultierenden Politikempfehlungen vor allem bei konservativen Regierungen bisher keinen Abbruch getan: Erlaubt die neoklassische Sichtweise doch ganz elegant auszublenden, dass Arbeitslosigkeit unabhängig von der Lohnhöhe ein systemisches Problem kapitalistischer Ökonomien ist. Mit dem Hartz-Konzept setzt die rot-grüne Regierung die neoliberalen Tendenzen fort, die sich bereits in der letzten Legislaturperiode in ihrer Wirtschafts- und Steuerpolitik zeigten (vgl. dazu PROKLA 116 „Rot-Grüner“ Absturz vom September 1999).
Auch die Aushöhlung der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungen (Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen jeweils die Hälfte) setzt sich mit dem Hartz-Konzept fort: nachdem unter der Regierung Kohl die Pflegeversicherung eingeführt wurde, die über den Wegfall eines Feiertages komplett von den Beschäftigten finanziert wird, und nachdem mit der „Riester-Rente“ eine Teilprivatisierung der Rentenversicherung erfolgte, an der sich die Arbeitgeber ebenfalls nicht beteiligen müssen, wird den Unternehmern nun bei einem positiven Beschäftigungssaldo eine Reduzierung ihres Beitrages zur Arbeitslosenversicherung versprochen.
Wie der Beitrag von Hansjörg Herr deutlich macht, sind die „Mini-Jobs“ in „haushaltsnahen Dienstleistungen“ wahrscheinlich der einzige Bereich, in dem es zu einer wirklichen Ausdehnung der Beschäftigungsmöglichkeiten kommen könnte (wobei ein Teil der Zunahme allerdings in legalisierten Schwarzarbeitsverhältnissen bestehen dürfte). Bei der Mehrzahl dieser Mini-Jobs handelt es sich faktisch um schlecht bezahlte Putz- und Betreuungsstellen, die ganz überwiegend von Frauen besetzt werden. Was diese „bad jobs“ für die Lebensperspektiven der betroffenen Frauen bedeuten, wird in dem Beitrag von Claudia Gather untersucht.
Sozialpolitik war schon immer nicht einfach nur eine staatlich organisierte Sicherung menschlicher Existenz, in erster Linie sicherte sie die Existenz der Ware Arbeitskraft. Die meisten Leistungen der Sozialversicherung sind an ein Lohnarbeitsverhältnis geknüpft und besteht dieses nicht mehr, wie etwa im Falle von Arbeitslosigkeit, dann wird von den Leistungsempfängern erwartet „dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen“ bzw. sich durch Weiterbildung, Training etc. für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Besonders eindringliche Formen der Lebensstilregulierung finden sich in den amerikanischen Workfare-Programmen, die in Deutschland aber vorwiegend unter dem Aspekt der Verminderung von Sozialkosten rezipiert werden. Ähnlichkeiten und Unterschiede der verschiedenen Workfare-Ansätze werden in dem Beitrag von Britta Grell, Jens Sambale und Volker Eick untersucht.
Auch das Hartz-Konzept strebt mehr als nur eine Senkung von Arbeitslosenzahlen und Sozialkosten an: unternehmerisches Denken soll auch bei Arbeitnehmern Einzug halten. Der einzelne Arbeitnehmer, insbesondere wenn er arbeitslos ist, soll sich selbst als Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft begreifen und nötigenfalls zur „Ich-AG“ werden oder sich als staatlich vermittelter Leiharbeiter so vermarkten, dass er schließlich von einem Unternehmen „gekauft“ wird. Als Formen eines beständigen Zwangs zur Selbstvermarktung lässt sich auch das Qualitätsmangement entsprechend den ISO-Normen 9000–9004 verstehen: die einzelnen Abteilungen einer Firma sollen zu kundenorientierten „profit-centers“ werden, wobei als Kunden nicht nur externe Auftraggeber, sondern alle Arbeitsbereiche einer Firma gelten. Der Markt wird in das Unternehmen hineinverlagert und jeder Mitarbeiter hat einerseits die Wünsche der „Kunden“ möglichst zu antizipieren und andererseits deutlich zu machen, worin seine eigene Leistung besteht. Daran anknüpfend zeigt Christoph Engemann in seinem Beitrag, dass die TV-Shows des „Big-Brother“ Formats dem selben Konzept folgen: die Mitspieler stehen unter ständiger Beobachtung, müssen die Erwartungen des Publikums antizipieren und sich selbst möglichst günstig präsentieren. Unter Rückgriff auf Foucault interpretiert Christoph Engemann, solche Shows als „Arbeitshäuser“ des 21. Jahrhunderts - modellhafte Realisierungen des gängigen Arbeitsideals.
In einer Arbeitswelt, in der es nur noch Unternehmer geben soll, erscheinen Flächentarifverträge als Dinosaurier aus grauer Vorzeit. Zwar spielen in Deutschland Flächentarifverträge (oder an sie angelehnte Tarife) immer noch eine ganz entscheidende Rolle, allerdings kam es in den 90er-Jahren auch zu einer erheblichen Erosion. Dass diese Erosion nicht einfach das Resultat unausweichlicher Sachzwänge darstellte, sondern sich eher aus einer Veränderung makroökonomisch relevanter Politikkonstellationen und eines pragmatisch-defensiven Anpassungskurses der Gewerkschaften ergab, zeigt Michael Wendl in seinem Beitrag, Alternativen zu der eingeschlagenen Gewerkschaftspolitik wären durchaus möglich gewesen.
Außerhalb des Schwerpunkts erscheinen in diesem Heft zwei Beiträge. Thomas Lemke diskutiert das Konzept der „Biopolitik“, das Michael Hardt und Antonio Negri für ihr Buch Empire von Michel Foucault übernommen, aber auch ganz spezifisch verändert haben. Christoph Görg und Ulrich Brand setzen sich mit dem „grünen Gold der Gene“ und den Auswirkungen der verschiedenen Konzepte und Abkommen zur Sicherung der Rechte am geistigen Eigentum auseinander. Damit findet die in PROKLA 126 Wissen und Eigentum im digitalen Zeitalter (März 2002) begonnene Eigentumsdiskussion ihre Fortsetzung.
SUMMARIES PROKLA 129, Vol. 32 (2002), No. 4
Hansjörg Herr: Labour Market Reforms and Employment – a Theoretical Analyses of the Proposals of the Hartz-Commission. The Hartz-Commission recommends the reduction of unemployment by increasing the efficiency of the labour bureau, increasing the number of low-wage jobs and subsidising firms which employ unemployed. In addition benefits especially for long-term unemployed should be cut. The hope to cut unemployment by these measures by two million until 2005 is far to optimistic. The theoretical basis of the Hartz-proposals are weak. It is not seen that changes in the structure of wages or changes in distribution generally modify the structure of relative prices and the technology. Lower wages in these case may not lead to higher employment. The Hartz-proposals completely neglect macroeconomic dimensions of economic policy and completely concentrates on labour market flexibility and higher efficiency of the labour bureau.
Michael Wendl: Beyond the collective wage agreement. The crisis and the erosion of the collective wage agreements in Germany are not a result of the transformation of industrial relations through globalization or the transformation to a postfordist model of production. Essential basics are the change in the macroeconomic constellation of politics and economics and a pragmatical reaction of the trade unions. Although the political power of trade unions is threatened fundamentally, they set their hopes on „muddling trough“, without concept.
Britta Grell, Jens Sambale, Volker Eick: The Politics of Workfare - Regulating Labor Markets and Lifestyles. A Comparison of employment oriented social policies in the US and Germany. Workfare strategies, requiring recipients of public assistance to work or to participate in work related activities, are not a completely new phenomenon of the modern welfare state. Nevertheless, there have been remarkable policy changes and reforms in most of the Western capitalist societies since the 1990s trying to replace or combine systems of cash assistance for the poor with mandatory employment programs. The article looks at the recent reform efforts and workfare initiatives in the US and Germany and identifies similarities as well as differences in the approaches and political intentions. While US-programs like “Wiscon Works” have gained much attention for reducing caseloads and moving single mothers into the (low-wage) labor force, little is known in Germany about the costs and the hardships of those who were forced to leave welfare.
Claudia Gather: “Nobody in my family knows that I am a domestic worker”. Informal domestic work in private households in Germany. In the last twenty years it has become more common in Germany for middle class households to hire a domestic worker informally for some hours a week to do the rough and dirty cleaning tasks. About two million people are working in this sector, a substantial part of them are undocumented migrant worker, but nobody knows for sure. In this paper, case studies of the people doing this work are presented, and political efforts to transform informal domestic work into regular jobs are addressed. These efforts failed, because too little is known about the women doing these jobs. Thus there is a need for further research.
Christoph Engemann: The „Big Brother“ TV Show as a Workhouse of the 21. Century – On the Actuality of Panoptism. By comparing the mechanisms of selection in the TV show Big Brother with the modern methods of business administration according to ISO norms 9000-9004 on quality management a lot of similarities are shown. In some respect these broadcasts can be understood as workhouses in the Foucaultian manner, the give a public example how to work and how to behave.
Thomas Lemke: Biopolitics in Empire – The immanence of capitalism in the work of Michel Hardt and Antonio Negri. A vivid and controversial debate followed the publication of Empire by Michael Hardt and Antonio Negri. This contribution discusses the concept of biopower as it is presented in the book. While the authors modify and expand the use of the notion that was developed by Michel Foucault, they produce several systematic problems and theoretical ambivalences. As it will be shown, Hardt and Negri claim to ground their analysis in a “field of immanence”, but partly fail to do so, weakening their own political and critical perspective.
Christoph Görg, Ulrich Brand: Conflicts about the “green gold of the genes”. Access, intellectual property and questions of democracy. In the last years an international legal framework evolved in the field of biodiversity, its protection and use. Accesses to genetic resources and intellectual property rights for developed commodities are fundamental for dominant actors and therefore these two aspects are central in political processes. Other aspects as rights of indigenous peoples or benefit sharing have much less importance. Central institutions to regulate the highly contested issues are the Convention on Biological Diversity, the TRIPS agreement in the WTO as well as the FAO which are not at all coherent in their policies. Against the background of regulation and critical state theory the article examines the contradictory role of the nation-state and international institutions in international biodiversity politics and examines central conflicts lines. Weaker actors try to politicise the struggle under the concept of “biopiracy” accusing dominant actors of an illegitimate appropriation of biodiversity. Finally, some preconditions of “democratic biodiversity politics” are outlined.
Editorial:
Hansjörg Herr: Arbeitsmarktreformen und Beschäftigung. Über die ökonomietheoretischen Grundlagen der Vorschläge der Hartz-Kommission
Michael Wendl: Jenseits des „Tarifgitters“. Krise und Erosion des Flächentarifvertrages in Deutschland
Britta Grell, Jens Sambale, Volker Eick: Workfare zwischen Arbeitsmarkt- und Lebensstilregulierung. Beschäftigungsorientierte Sozialpolitik im deutsch-amerikanischen Vergleich
Claudia Gather: „Aus meiner Familie weiß niemand, dass ich putzen gehe.“ Informelle Erwerbsarbeit in Privathaushalten
Christoph Engemann: „Big Brother“ ein Arbeitshaus im 21. Jahrhundert. Zur Aktualität des panoptischen Modells
Thomas Lemke: Biopolitik im Empire. Die Immanenz des Kapitalismus bei Michael Hardt und Antonio Negri
Christoph Görg, Ulrich Brand: Konflikte um das „grüne Gold der Gene“. Access, geistiges Eigentum und Fragen der Demokratie
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