Religion und Gesellschaft in Ost und West (2017), 4–5

Titel der Ausgabe 
Religion und Gesellschaft in Ost und West (2017), 4–5
Weiterer Titel 
100 Jahre Russische Revolution

Erschienen
Zürich 2017: Selbstverlag
Erscheint 
monatlich
Anzahl Seiten
56 S.
Preis
EUR 10.- / CHF 12.- zzgl. Versandkosten

 

Kontakt

Institution
Religion und Gesellschaft in Ost und West (RGOW)
Land
Switzerland
c/o
Institut G2W Bederstr. 76 CH-8002 Zürich
Von
Zwahlen, Regula

Vor 100 Jahren veränderte die von Vladimir Lenin angeführte Oktoberrevolution Russland radikal. Die Machtübernahme der Bolschewiken hatte aber nicht nur politisch und wirtschaftlich weitreichende Konsequenzen, sie betraf alle Lebensbereiche. Diese vielfältigen Auswirkungen beleuchten wir in unserer aktuellen Doppelnummer zu 100 Jahren Russische Revolution.
Im ersten Teil geht es um die Schauplätze der Revolution, mit einem besonderen Fokus auf weniger bekannte, lokale Entwicklungen in Sibirien, der Ukraine und Zarizyn-Stalingrad-Wolgograd sowie die lokalen Erinnerungskulturen. Einen zweiten Schwerpunkt legen wir auf Revolution und Religion. Zunächst begrüssten viele Religionsgemeinschaften die Reformen des neuen Regimes, darunter die Einführung der Religionsfreiheit. Doch schon bald wurden sie Opfer der radikalen Atheisierungskampagne der Boschewiken und waren beispielloser Verfolgung ausgesetzt. In Ausstrahlung und Reaktion gehen wir auf Auswirkungen der Revolution auf Kunst, Kultur und die Gesellschaft sowie eine Schlüsselerfahrung des 20. Jahrhunderts – das Exil – ein.

Inhaltsverzeichnis

INHALT

IM FOKUS
Jens Siegert: März 2017: Proteste in Russland

SCHAUPLÄTZE

Matthias Stadelmann
Russland 1917 – Ereignis, Bedeutung und Erbe
Das Revolutionsjahr 1917 bedeutet einen fundamentalen Einschnitt für die Geschichte Russlands. Die Februarrevolution beendete das jahrhundertelange autokratische Herrschaftssystem. Die anschließende „Doppelherrschaft“ leitete eine umfassende Demokratisierung des Landes ein. Die Oktoberrevolution etablierte schließlich ein Rätesystem, mit dem die Bolschewiki monopolartig ihren Machtanspruch durchsetzten. Die Gewalterfahrungen während Revolution und Bürgerkrieg prägten die politische Kultur der Sowjetunion maßgeblich. Der revolutionäre Elan wich schließlich einem konservativen Bürokratismus und staatlicher Regulierung in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Carsten Goehrke
Sibirien zwischen Weiß und Rot (1917–1920)
In Sibirien breitete sich die Revolution entlang der Transsibirischen Eisenbahn aus. Auf Anklang stieß vor allem die Forderung der Bolschewiki nach einem sofortigen Ausscheiden Russlands aus dem Ersten Weltkrieg. Im Bürgerkrieg stand Sibirien anderthalb Jahre unter „weißer Herrschaft“. Doch trotz seiner bäuerlichen Sozialstruktur konnten sich die Bolschewiki aufgrund der ungeschickten politischen Führung der „Weißen“ letztlich auch in Sibirien durchsetzen.

Andrii Portnov
Die ukrainische Revolution 1917–1919 und die Erinnerung daran
Das Revolutionsgeschehen in der Ukraine war von einer Verschränkung nationaler und politischer Projekte gekennzeichnet. Dies führte zu ständigen Machtwechseln und Kriegshandlungen mit lokalen und ausländischen Truppen. Doch bis heute wird die lokale Dimension der Revolution oft vernachlässigt, denn für das nationale Narrativ der Ukraine spielt der Zweite Weltkrieg eine ungleich wichtigere Rolle.

Alexander Tsygankov
Lokale Erinnerung an die Revolution: Zarizyn-Stalingrad-Wolgograd
In der Erinnerungskultur der russischen Stadt Wolgograd spielten zu sowjetischen Zeiten die Revolution und der Bürgerkrieg eine zentrale Rolle. Zudem wurde eine Kontinuität zu den sowjetischen Verteidigern Stalingrads im Zweiten Weltkrieg hergestellt. Während das Gedenken an die Schlacht um Stalingrad heute noch präsent ist, hat die Revolution klar an Bedeutung verloren. Stattdessen dominiert ein eklektisches Heldengedenken an unterschiedliche Epochen der russischen Geschichte.

REVOLUTION UND RELIGION

Nadezhda Beliakova
Die Religionspolitik der Bolschewiki und die Reaktion der Kirchen
Bei ihrer Machtübernahme verkündeten die Bolschewiken einerseits die Religionsfreiheit, was viele religiöse Gemeinschaften begrüßten. Andererseits gingen sie in einem beispiellosen Angriff gegen die orthodoxe Kirche als „Dienerin der Zarenherrschaft“ vor und versuchten sie zu vernichten. Bald wurden auch protestantische Gemeinschaften, nachdem sie anfangs frei agieren durften, verfolgt.

Alexis Hofmeister
Die Juden und die Russische Revolution
Die Russische Revolution bedeutete für die jüdische Bevölkerung die politische und rechtliche Gleichstellung nach Jahrhunderten der Diskriminierung. Zugleich erwuchsen ihr in Gestalt antijüdischer Pogrome und des reaktionären Mythos von der „jüdischen Weltrevolution“ neue Gefahren. Kulturell wie politisch eröffnete die Revolution dem Judentum neue Möglichkeiten.

Pavel Rogosnyj
Die „Kirchenrevolution“ von März bis August 1917
In den Jahren vor der Revolution steckte die Russische Kirche in einer tiefgreifenden Krise. Der Fall der Autokratie wurde daher von einem Großteil der Geistlichen begrüßt und es kam zu einer „Kirchenrevolution“ von unten. Die Einführung von Kirchenräten und des Wahlprinzips ermöglichte konsolidierende Reformen, was die Kirche kurzfristig als Opposition gegen die Bolschewiken stärkte.

Alexej Beglov
Das Landeskonzil der Russischen Kirche und die Revolution
Nach der Februarrevolution forderten Mitglieder des Klerus und Gemeindeglieder eine Umverteilung der Macht innerhalb der Kirche. Am Landeskonzil von 1917–1918 wurde eine „kanonische Restauration“ der Kirche angestrebt, die auf einem Gleichgewicht zwischen hierarchischer Leitung und Mitsprache des Kirchenvolks beruhte. Aufgrund der immer heftigeren antikirchlichen Angriffe der bolschewistischen Führung konnte jedoch der Großteil der Beschlüsse des Landeskonzils nicht umgesetzt werden.

Sandra Dahlke
Antireligiöse Kampagnen und Gottlosenbewegung
Der Kampf gegen die Religion galt den Bolschewiki als zentrales Element bei der Formung des neuen Sowjetmenschen. Dieses Ziel verfolgten sie mit unterschiedlichen Mitteln. Ein Akteur der antireligiösen Politik war der Verband der Gottlosen, der vor allem mit aggressiven Mobilisierungskampagnen auf sich aufmerksam machte. Einen grundlegenden Einstellungswandel bei der Bevölkerung erzielte er jedoch nicht.

Sergij Ivanov
Die „Kirchenrevolution“ in Russland von 1922
Neben Terror gegen Geistliche und Beschlagnahmung von Kirchengütern plante die Sowjetregierung ab 1922 auch die Zersetzung der Kirche von innen. Dabei wurden Anhänger der Erneuererbewegung zum Aufstand gegen Patriarch Tichon angestachelt, dessen Freilassung jedoch bereits 1923 zur Annullierung der durchgeführten Reformen und zur Marginalisierung der „progressiven“ Erneuerer führte.

Regula Zwahlen
Die russische Orthodoxie im französischen Exil
Die russische Emigration hat nach 1917 in Frankreich ein reges kulturelles Leben entfaltet. Wichtiger Bestandteil davon war der Erhalt und die Weiterentwicklung der orthodoxen Theologie am St. Serge-Institut in Paris. Die gegenwärtig staatlich geförderten Versuche des Moskauer Patriarchats, die in der Emigration entstandenen kirchenpolitischen Spaltungen zu überwinden, stoßen vor allem in Frankreich auf Widerstand.

AUSSTRAHLUNG UND REAKTION

Carmen Scheide
Revolution und gesellschaftlicher Wandel
Die Bolschewiki beabsichtigten einen umfassenden Gesellschaftswandel, zu dem unter anderem die „Frauenfrage“ – die Gleichstellung von Mann und Frau sowie die Befreiung der Frau – gehörte. Obwohl schon früh entsprechende Maßnahmen ergriffen wurden, gelang ihre Umsetzung nur bedingt. Gründe dafür waren zählebige Vorstellungen von Geschlechterrollen in der Bevölkerung sowie mangelnde Ressourcen.

Denise J. Youngblood
Russisches Kino vor und während der Revolution
Mit der Oktoberrevolution kam es auch zu einem Bruch in der russischen Filmtradition. Während des Ersten Weltkriegs dominierten vor allem „sensationelle“ Melodramen, die von einer freizügigen erotischen Darstellung und apokalyptischen Tendenzen geprägt waren. Dagegen setzten die Bolschewisten im Bürgerkrieg auf einfache politische Propaganda-Filme. Viele bekannte Regisseure und Schauspieler verließen nach dem Sieg der Bolschewisten das Land, einige kehrten jedoch nach einigen Jahren in der Emigration nach Russland zurück.

Ada Raev
Segen oder Fluch? 1917 und die Kunst der russischen Avantgarde
Bereits vor der Revolution entwickelte die russsische Avantgarde eine neue Ästhetik, die bis heute nichts von ihrer Faszination eingebüsst hat. Viele Künstler stellten sich im Sinne ihres Strebens nach Neuem zunächst in den Dienst der Bolschewiki. Doch deren Kunstkonzepte gingen den Bolschewiki schließlich zu weit. Die erzwungene Rückbesinnung auf deskriptive Kunstformen in den 1930er Jahren bedeutete das Ende der Avantgarde.

Eva Maurer
Russische Drucke und Druckereien in der Schweiz vor und nach 1917
Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1917 war die Schweiz eine Hochburg des russischen Exilschrifttums. Vor allem in Genf waren mehrere russische Druckereien aktiv. Über Mittelsmänner wurden die im Exil gedruckten politischen Schriften ins Zarenreich geschmuggelt, was die zaristische Geheimpolizei zu unterbinden versuchte. Die ideologische Aufspaltung der russischen Emigration fand ihren Widerhall in den Presseerzeugnissen, so gaben die Menscheviki und Bolscheviki ab 1904 jeweils eigene Publikationen heraus.

Ayse Turcan
Promachos-Verlag: Die Revolution ging durch die Agglomeration
Im Jahr 1918 kreuzte sich die Geschichte einer Familie und eines Verlags in Belp mit der russischen Revolution. Für kurze Zeit brachte der Promachos-Verlag die wichtigsten Schriften und Broschüren der russischen Revolutionäre in deutscher Sprache heraus. Mit dem Landesstreik endete jedoch die Zusammenarbeit zwischen dem Verlag und der Sowjetmission in der Schweiz.

Stéphanie Roulin
Der Kampf gegen den gottlosen Kommunismus in der Schweiz
Als Stalin 1929 die antireligiöse Repression massiv verschärfte, reagierten darauf vermehrt religiöse Vereinigungen im Ausland. Darunter war die in Genf gegründete Internationale Antikommunistische Entente (EIA). Da sie die Sorge um die religiös Verfolgten in der UdSSR mit dem Kampf gegen „Gottlose“, Freidenker und die politische Linke in der Schweiz verband, gelang es ihr jedoch nicht, breite kirchliche Kreise für sich zu gewinnen.

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