Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), 3–4

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 69 (2018), 3–4
Weiterer Titel 
Tourismusgeschichte

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

Schon seit geraumer Zeit ist Europa zu dem Raum mit der weltweit höchsten Verdichtung im Tourismus aufgestiegen. Auch die Zahlen für touristische Reisen zu außereuropäischen Zielen weisen zuletzt steil nach oben. Angesichts dieser Tendenzen gehören heute sowohl das touristische Reisen als auch das Bereist-Werden für immer mehr Menschen zu prägenden Erfahrungen ihrer Lebenswirklichkeit.

Von der Geschichtswissenschaft ist dieses Massenphänomen nicht zuletzt wegen seines transitorischen Moments lange Zeit nur am Rande wahrgenommen worden. Gewiss, schon seit langem bilden Vor- und Frühformen des modernen Tourismus wie die Pilger- oder die Heilbäderreisen, aber auch der im 20. Jahrhundert allmählich zum Durchbruch gelangende Massentourismus den Gegenstand einschlägiger historischer Studien. Bis heute steht jedoch zum einen die eingehende Beschäftigung mit den globalen Dimensionen dieses Geschehens aus. Zum anderen fehlen eingehende Studien zu den Aus- und Rückwirkungen touristischer Reisen auf die Bereisten sowie die durch den Tourismus bewirkten landschaftlichen, sozio-ökonomischen und kulturellen Veränderungen.

In diese Forschungslücke stößt das vorliegende Themenheft hinein. Eingangs bieten Moritz Glaser und Gabriele Lingelbach eine Skizze der Forschungslage, wobei sie einen besonderen Akzent auf die globalen Dimensionen des Reisegeschehens legen. Diese seien an den Zielorten des Tourismus in fortlaufend miteinander konkurrierende Prozesse der Homogenisierung und Heterogenisierung gemündet. Ähnliches gilt für den Massentourismus im Spanien der 1950er bis 1970er Jahre, den Moritz Glaser einerseits im Hinblick auf die vielschichtigen Reaktionen der Einheimischen, andererseits in seinen strukturellen Umwälzungen vor Ort untersucht.

Mit dem „Dritte Welt“-Tourismus in Ostafrika nimmt Dörte Lerp sodann eine ganz andere Weltregion in den Blick. Dieser erweise sich als ein Resultat diverser globaler Entwicklungen, zu denen nicht nur die Internationalisierung der Tourismusbranche zähle, sondern bei der auch eine modernisierungstheoretisch angeleitete Entwicklungspolitik, die Wildschutz und Nationalparkbewegung sowie der europäische Kolonialismus als treibende Kräfte fungierten.

Parallel dazu seien aber sowohl in Tansania als auch in Europa neue Formen einer Tourismuskritik aufgekommen, als die postkolonialen Abhängigkeitsverhältnisse zum Gegenstand breiter gesellschaftlicher Debatten aufstiegen. Im Anschluss daran geht es um ein ganz anders gelagertes Fallbeispiel, das Ulrike Schaper im Spannungsfeld von Frauenemanzipation und Sextourismus verortet. Zur Erklärung arbeitet sie heraus, dass gerade die angebliche Entwicklungsdifferenz zwischen der Bundesrepublik und Ländern der „Dritten Welt“ letztere als sextouristische Ziele attraktiv machte. Hierbei spielten Vorstellungen einer „unverdorbenen“ Sinnlichkeit eine entscheidende Rolle, aber auch die Idee, die Frauen an den Zielorten seien nicht emanzipiert.

Massenhafte Reisen eines weiteren Typus behandelt zuletzt Uta Bretschneider. Bei ihr geht es um die Gebiete östlich der früheren Blockgrenzen, in die seit den 1950er Jahren viele deutsche Vertriebene und Flüchtlinge reisten. Nach vorsichtigen Anfängen in den 1950er-Jahren und zahlreichen Schwankungen entstand ein regelrechter Markt für professionelle Heimattourismusangebote, der endgültig in den 1990er Jahren explodierte. In ihrer Analyse zeigt Bretschneider, wie sich darüber eine Raumaneignung der verlorenen Heimaten vollzog.

Die Beiträge bieten insgesamt einen Ausblick darauf, wie sehr durch den modernen Tourismus nicht nur das Reisegeschehen selbst sich immer weiter ausdifferenziert hat, sondern auch die betroffenen Gebiete und die hier lebenden Menschen immer erkennbarer in den Sog des Reisegeschäfts einbezogen wurden.

Von Christoph Cornelißen

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Abstracts (S. 122)
Editorial (S. 124)

Beiträge

Moritz Glaser/Gabriele Lingelbach
Tourismusgeschichte in globalhistorischer Erweiterung (S. 125)

Moritz Glaser
Bikini und Stierkampf. Aus- und Rückwirkungen des Massentourismus in Spanien (1950 –1978) (S. 140)

Dörte Lerp
Tourismus in Ostafrika zwischen Entwicklungshoffnungen und Konsumkritik (S. 154)

Ulrike Schaper
Reisen in eine vorfeministische Vergangenheit. Bundesdeutscher Sextourismus und das Verhältnis zur „Dritten Welt“ (S. 170)

Uta Bretschneider
Reisen als erinnerungskulturelle Praxis Der „Heimwehtourismus“ der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen (S. 185)

Bernhard Löffler
Landesgeschichtsschreibung und Geschichtspolitik nach 1945. Das bayerische Beispiel (S. 199)

Informationen Neue Medien

Alessandra Sorbello Staub
Virtuelles Reisen im Netz: vom Individual- zum Massentourismus (S. 218)

Literaturbericht

Raimund Schulz/Uwe Walter
Altertum, Teil II (S. 221)

Nachrichten (S. 243)

Autorinnen und Autoren (S. 248)

ABSTRACTS

Moritz Glaser/Gabriele Lingelbach
Tourismusgeschichte in globalhistorischer Erweiterung
GWU 69, 2018, H. 3/4, S. 125 – 139
Der einleitende Beitrag führt in die unterschiedlichen
geschichtswissenschaftlichen
Forschungsansätze zur Geschichte des Tourismus
ein und stellt die globalgeschichtliche
Perspektive als Innovation für dieses Forschungsfeld
dar. Gerade Fragen nach grenzüberschreitenden
Wahrnehmungen, Wechselwirkungen
und Rückkopplungseffekten
lassen sich anhand des Untersuchungsgegenstandes
‚Tourismus‘ besonders gut in den
Blick nehmen. Sie versprechen einerseits ein
vertieftes Verständnis für globale, transnationale
und translokale Interaktionen. Andererseits
bieten sie auch die Möglichkeit, den etablierten
Forschungsstand zur Tourismusgeschichte
zu hinterfragen.

Moritz Glaser
Bikini und Stierkampf
Aus- und Rückwirkungen des Massentourismus in Spanien (1950 – 1978)
GWU 69, 2018, H. 3/4, S. 140 – 153
Gegenstand des Beitrags ist der Massentourismus
in Spanien in der Zeit von den frühen
1950er- bis in die 1970er-Jahre, als das
Land sich unter General Franco zunehmend
dem Ausland öffnete. Methodisch bedient
sich der Aufsatz der verflechtungsgeschichtlichen
Fragestellung nach den Aus- und
Rückwirkungen grenzüberschreitender Phänomene.
Der Beitrag untersucht zum einen,
wie und warum einerseits von einem Teil der
einheimischen Akteure touristische Verhaltensweisen
abgelehnt wurden und andererseits
bewusst und gezielt Differenzen und
Andersheit eingesetzt wurden, um die Attraktivität
Spaniens für ausländische Touristen
zu erhöhen. Zum anderen fragt der Beitrag
nach möglichen Rückwirkungen des
Tourismus auf die Touristen selbst und ihre Herkunftsländer am Beispiel der Bundesrepublik
Deutschland.

Dörte Lerp
Tourismus in Ostafrika zwischen Entwicklungshoffnungen und Konsumkritik
GWU 69, 2018, H. 3/4, S. 154 – 169
Eine 1970 in Tansania geführte Debatte
um die Konsequenzen und die Zukunft
des Tourismus nimmt der Beitrag zum Ausgangspunkt,
um aufzuzeigen, dass zeitgenössische
Akteure nicht nur das Potenzial
des Tourismus als „wirtschaftspolitisches
Wundermittel“ infrage stellten, sondern
auch die Folgen des touristischen Kulturkontakts
für die „Bereisten“ zunehmend
kritisierten. Der Beitrag untersucht die Debatte
vor dem Hintergrund einer zunehmend
global agierenden Tourismusbranche,
internationaler Entwicklungspolitiken,
aber auch der wachsenden Kritik am sogenannten
„Dritte-Welt-Tourismus“ in Europa.
Dabei stehen vor allem die Wechselwirkungen
zwischen Tourismus und Tourismuskritik
im Vordergrund.

Ulrike Schaper
Reisen in eine vorfeministische Vergangenheit
Bundesdeutscher Sextourismus und das Verhältnis zur „Dritten Welt“
GWU 69, 2018, H. 3/4, S. 170 – 184
Der Artikel untersucht die bundesdeutsche
Auseinandersetzung mit Sextourismus in
die „Dritte Welt“ von ca. 1970 bis Mitte der
1990er Jahre anhand von Presseberichten,
wissenschaftlichen und aktivistischen Publikationen,
um zu zeigen, wie in dieser Debatte
Bundesrepublik und Reiseländer in ein
zeitliches Verhältnis zueinander gesetzt wurden.
Dazu analysiert er das Argument eines
Kausalzusammenhangs zwischen Frauenemanzipation
und Sextourismus, kontextualisiert es in Entwicklungen der Neuen Frauenbewegung
und des „Dritte-Welt-Tourismus“
und zeigt, wie es an generelle Zuschreibungen
an den Tourismus anschloss, indem er das
Modell des Tourismus als Zeitreise auf den
Sextourismus überträgt.

Uwe Bretschneider
Reisen als erinnerungskulturelle Praxis
Der „Heimwehtourismus“ der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen
GWU 69, 2018, H. 3/4, S. 185 – 198
12 bis 14 Millionen Menschen aus den ehemals
deutschen bzw. deutsch besiedelten
Territorien Osteuropas waren von Flucht
und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs
betroffen. Oft sollte es Jahre, zum Teil
Jahrzehnte dauern, bis sie, falls überhaupt,
die „alte Heimat“ wiedersahen. Ein regelrechter
Markt für Erinnerungsreisen etablierte
sich zunächst im Westteil Deutschlands
und stand mit der „Friedlichen Revolution“
auch den vormaligen DDR-Bürgerinnen
und -Bürgern offen. Der Beitrag beleuchtet
die Genese des Heimatreisens (schwerpunktmäßig
bis 1990) und die Modi der
Raumaneignung sowie die damit verbundenen spezifischen Praktiken. Neben qualitativen
Interviews mit Personen, die Flucht und
Vertreibung als Kinder erlebt haben, dient
der „Aussiger Bote“, ein sogenanntes Heimatblatt,
als Quellenbasis.

Bernhard Löffler
Landesgeschichtsschreibung und Geschichtspolitik nach 1945
Das bayerische Beispiel
GWU 69, 2018, H. 3/4, S. 199 – 217
Am bayerischen Fall lässt sich die Praxis,
Geschichte als politisches Argument zu nutzen,
in verdichteter Form beobachten. Die
Landesgeschichtsschreibung nach 1945 war
hierbei ein bewusster Akteur und Ideengeber,
hat sich selbst dezidiert als Teil einer
staatlichen Identitätspolitik, als „Gegenwartswissenschaft“
mit staatspolitischem
Auftrag begriffen und entsprechende Funktionen
aktiver Politikberatung übernommen.
Der Beitrag analysiert und problematisiert
maßgebliche Protagonisten, Strategien
und Instrumente einer so verstandenen Historiographie
wie die programmatischen Inhalte
der von ihr vermittelten landeshistorischen
Meistererzählung.

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Bestandsnachweise 0016-9056