Leviathan 46 (2018), 2

Titel der Ausgabe 
Leviathan 46 (2018), 2
Weiterer Titel 

Erschienen
Baden Baden 2018: Nomos Verlag
Erscheint 
vierteljährlich
Preis
Jahrespreis 98,00 € (Druckausgabe und elektronische Ausgabe)

 

Kontakt

Institution
LEVIATHAN. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft
Land
Deutschland
c/o
Leviathan, Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Redaktion Dr. Claudia Czingon, Wissenschaftszentrum Berlin, Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin; Tel. +49 30 25491 536; E-Mail: claudia.czingon@wzb.eu
Von
Czingon, Claudia

Zu diesem Heft – Falsche Codierungen

Sie war gemütlich, organisiert wie ein Club und unterkapitalisiert, die City of London vor dem Big Bang. Ihre Arbeitsweise war für Außenstehende intransparent, ihr Habitus und ihre Kleidung waren klassisch, es war ein Gentleman-Kapitalismus, in dem die Börsianer nur Risiken eingingen, die sie auch tragen konnten. Enge geschäftliche und persönliche Beziehungen unterbanden schlechtes Benehmen. Wer sich trotzdem nicht an die strikte Etikette der Börsenregeln hielt, spürte bald Gegenwind und wurde diszipliniert, geschnitten und von Geschäften ausgeschlossen. Makler erhielten festgelegte Honorare, und da die Börsianer unter sich blieben, waren auch die Risiken überschaubar. Mit Margret Thatcher änderte sich diese Atmosphäre auf einen Schlag, als Cecil Parkinson, ihr Minister für Handel und Banken, 1986 die Professionslogik verabschiedete und die City für die Marktlogik öffnete (vgl. Lisa Herzog in diesem Heft): Die Honorarordnung für Makler wurde abgeschafft und mit der Huldigung des „Freien Marktes“ in Washington und Westminster zogen auch die Rauchschwaden der Deregulierung durch die Börsen. Das entscheidend Neue war die Aufgabe der jahrhundertealten Tradition der City, die Bankgeschäfte, Investitionsberatung und Aktienhandel streng getrennt hatte. Tatsächlich überschwemmten bald amerikanische Investmentbanker die City of London, kauften die alten Maklerfirmen auf und indoktrinierten sie mit neuen Geschäftspraktiken, raffiniertem Risikomanagement und aufgeblasenen Bilanzen, die das Geschäft belebten. Das ausgedehnte englische Frühstück unter Gentlemen wurde ersetzt durch ein lockeres Treffen, und statt Claret trank man nun Mineralwasser zum Mittagessen. Der Boden wurde bereitet für rücksichtslosen Appetit auf Risiko, da es ja um das Geld anderer Leute ging. Schon bald zeigten sich die Folgen der Auflösungserscheinungen in der City. So gelang es etwa dem Newcomer Nick Leeson, Chef einer Filiale der Barings Bank in Ostasien, eine der klassischen Scheidelinien des Geschäfts zu überwinden, als er selbst zum Kontrolleur seiner eigenen Handelsgeschäfte wurde. Da er sich durch hohe Gewinne rasch einen Ruf als Starhändler erwarb, konnte er Kritik und Nachfragen wegen Ungereimtheiten leicht abwehren. Denn in der Londoner Zentrale verstand man die Vorgänge nicht, wollte das aber nicht eingestehen. Leeson konnte ungehindert spekulieren. Er listete die Gewinne auf einem sichtbaren und die Verluste auf einem versteckten Konto auf, wobei sich die Verluste bald zu jenen 825 Millionen Pfund Sterling summierten, die nicht nur zum Zusammenbruch eines der ältesten britischen Bankhäuser führte, sondern auch zu einer Krise des britischen Pfundes und zu einer weltweiten Devisenkrise, die fast ein Jahr dauern sollte.
In der Dotcom-Krise war es ebenfalls die Deregulierung, die zum Kollaps führte, weil sie einen Kategorienfehler ermöglichte − die Verbindung von Buchprüfung und Beratung: Beratung brachte höhere Einnahmen und das finanzielle Interesse an der Beratung beeinflusste die Ergebnisse der Buchprüfung und öffnete Tür und Tor für Manipulationen. Eine der fünf beherrschenden Buchhaltungsfirmen überlebte das nicht. Die Firma Enron, die ein elektronisches Handelsportal für Energie anbot, hatte mithilfe und beraten von Arthur Andersen ihre Bilanzen aufgeblasen und geschönt und war zum Stern am Börsenhimmel aufgestiegen, bevor sie kollabierte. Um einer Untersuchung durch die Aufsichtsbehörde (SEC) zuvorzukommen und damit die Bilanzmanipulationen nicht aufgedeckt werden konnten, schredderte Arthur Andersen tagelang alle wichtigen Unterlagen. Der Untergang von Enron bedeutete aber damit auch den Untergang von Arthur Andersen, denn die Firma verlor die Lizenz wegen Behinderung der Justiz.
Hätte die Londoner Börse dem amerikanischen Drängen widerstehen können? Eine standhafte Politik hätte die schlimmsten Auswüchse zweifellos verhindern können – die Instrumente, die seit dem New Deal vorhanden waren, wurden als für das Computerzeitalter nicht mehr zeitgemäß beiseite geschoben. Das, was damals und heute im Rückblick Globalisierung genannt wurde und wird, schien ein unaufhaltsamer Prozess, die Propagandamaschinen liefen, die Welle der Finanzialisierung trug die Volumina, die an den Börsen gehandelt wurden, in nie gesehene Höhen, und die Finanzdienstleistungsbranche bekam eine neue beherrschende Position im Wirtschaftsgefüge, die die Industrie weithin überflügelte: Firmen wurden zum Spielball der Börse, Börsengänge wurden mithilfe einer komplexen Propagandamaschine vorbereitet, die einer wachsenden Zahl von Menschen Arbeit bot – Kanzleien, Werbefirmen, Veranstalter von „Roadshows“ für potenzielle Investoren, Programmgestalter, um die Investoren zu locken. Dass die Erstemission dieser Aktien nur einer ausgesuchten Klientel zugute kam, die ihre Anteile gleich wieder zu einem höheren Preis verkaufen konnten, wurde von der SEC erfolglos bekämpft. Diese Investoren nannte Stefan Kühl die Exit-Kapitalisten, weil sie es nur auf die Differenz zwischen dem Erstausgabe- und dem Wiederverkaufspreis abgesehen hatten und nicht an der Firma selbst interessiert waren. Heute treten solche Exit-Kapitalisten erneut auf, wie unser Autor Philipp Staab schreibt, die Objekte sind wiederum Firmen der digitalen Startup-Ökonomie. Allerdings haben sich die Praktiken geändert: Man geht nicht mehr an die Börse, sondern unterstützt sogenannte „Inkubatoren“, die neue Geschäftsideen finanzieren, und verkauft sie dann zu einem hohen Preis an das Publikum.
Die Frage der Kategorienzugehörigkeit stellt auch der Beitrag unseres Autors Paul Sörensen: Beginnt das Neue mit der Revolution? Oder bereits mit den gesellschaftlichen Veränderungen, die sie vorbereiten helfen? Gehört das Tellerwaschen und Schlafen vor einer Demonstration zum Versammlungsrecht?
Wo die Marktlogik einzieht, häufen sich die Kategorienfehler: Versicherungen, die nicht mehr auf Gegenseitigkeit beruhen, sondern die Form von Aktiengesellschaften annehmen, machen Geschäfte mit der Angst der Menschen vor Unfällen und Schäden. Wer medizinische Labors privatisiert, fördert das Interesse, Gesunde durch die Verbreitung von Angst zu potenziellen Kranken abzustempeln, und aus der Möglichkeit pränataler Diagnostik wird rasch ein beherrschendes Regime, dem sich die Eltern immer schwerer entziehen können (vgl. Peter Wehling, Shirin Moghaddari und Susanne Schultz in diesem Heft). Das in der politischen Debatte gängige Gerede vom „Gesundheitsmarkt“ zeigt diesen Fehler: Aus Krankheiten Geschäfte zu machen pervertiert den Heilungsgedanken.
Dass die Ersetzung der professionellen Logik durch die Marktlogik an der Börse Probleme, Widersprüche und Krisen erzeugt, hat sich zuletzt sehr eindrücklich offenbart, als die Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008 im Strudel verbriefter Hypothekenpapiere versank und damit die größte Finanzkrise seit 1929 auslöste. Bemerkenswert jedoch ist, dass die Marktlogik so fest verankert scheint, dass sie sogar bei der Suche nach Lösungen eine scheinbar unwiderstehliche Anziehungskraft entfaltet. Auch zur Bekämpfung der Euro-Zonen-Krise, die auf die Hypothekenkrise folgte, wurden marktkonforme Lösungen bevorzugt – die Staaten, die die Schulden der privaten Banken übernehmen mussten, wurden plötzlich selbst als wirtschaftliche Einheiten betrachtet und nicht mehr als soziale Gesellschaften. Die Idee lag nahe, die Krise als Gelegenheit zu betrachten, die Autonomie der Staaten zugunsten der europäischen Ebene zu restringieren, wie es vom „rettenden“ Dreigespann aus Europäischer Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank durchgeführt wurde. Ob Fiskalpakt, Schuldenbremse oder das Primat der Wettbewerbsfähigkeit − viele KritikerInnen sehen in diesen Bewältigungsstrategien eine Renaissance der Ordoliberalisierung Europas, eine Annahme, die Josef Hien und Christian Jörges in der letzten Ausgabe des Leviathan zu widerlegen versuchten. Die europäische Krisenpolitik, so lautet ihre Argumentation pointiert, zeichnet sich durch eine zunehmende Entrechtlichung aus, die dem ordoliberalen Ideal einer rechtlich eingebetteten Wirtschaftspolitik diametral entgegenstehe. Unseren Autor Thomas Biebricher überzeugt das nicht ganz. In einer Replik bezieht er nun Stellung und verteidigt die These einer Ordoliberalisierung Europas, die sich für ihn nicht nur im Demokratiedefizit europäischer Institutionen dokumentiert, sondern auch in der spezifischen, austeritätspolitischen Weise, Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen.
Die Globalisierung hat nicht nur zu ökonomischen Verwerfungen geführt, sondern auch zu einer Kluft der kulturellen Kompetenzen (Klaus Kraemer in diesem Heft). Transnationalisierung ist mit vielfältigen symbolischen Auf- und Abwertungen ökonomischer, kultureller und sozialer „Kapitalien“ verbunden, „die auf neuartige Distinktionsarenen verweisen, welche über national abgeschottete Containerräume hinausreichen“, weil sie „nicht mehr im Rahmen einer Theorie national segmentierter Sozialräume analysiert werden können“. Hat sich wirklich eine global orientierte Klasse in Deutschland gebildet, ist die Kluft zu den lokal und „provinziell“ orientierten Schichten so groß geworden, dass auch kein gegenseitiges Verständnis mehr für die jeweiligen Problemwelten und Fragen zu finden ist? Dann wäre Populismus nur ein sinnloser Versuch der Rückkehr zum „nationalen Container“, ein Teil der unvermeidlichen Reibungen im Rahmen einer unaufhaltsamen Entwicklung der Weltgeschichte.
Der Aufstieg zur Transnationalisierung verläuft freilich auch für die oberen Schichten nicht problemlos. War es Mut oder Hybris, als der Deutsche Bank-Chef Alfred Herrhausen drei Jahre nach dem Big Bang in London die Investmentbank Morgan Grenfell für 1,42 Mrd. US-Dollar kaufte? Hätte er auf die provinziellen Geister hören sollen, die vor den Risiken der Übernahme warnten, „das Gebaren der Investmentbanker passe nicht zur Kultur einer Geschäftsbank“? Was trieb die Deutsche Bank, lediglich die fünftgrößte Bank Europas, zu völlig überhöhten Gehältern ausgemusterte britische und amerikanische Manager einzukaufen? Überhörten sie die feine Ironie in den Reden der angelsächsischen Börsianer, wenn sie über „die Deutschen“ sprachen, oder verstanden sie sie einfach nicht? Plötzlich hatte die Deutsche Bank eine neue Gruppe von Mitarbeitern, denen gleich zu Beginn eine große Autonomie zugestanden wurde – schon auch deshalb, weil die notwendigen Kenntnisse im Vorstand nicht vorhanden waren und sie dementsprechend gar nicht wirklich kontrolliert werden konnten. „Unbehelligt von einem naiv-faszinierten Topmanagement, mit dem Geld deutscher Sparer und dem impliziten Rettungsversprechen des Staates im Rücken, gingen sie mit geliehenem Geld immer größere und riskantere Kurzfristwetten ein − und bereicherten sich dabei vor allem selbst“, schreibt Daniel Schäfer im Handelsblatt. Der Name der Deutschen Bank prangt auf vielen Büroetagen in London ebenso wie in New York, wo sie die Banker’s Trust, eine amerikanische Investmentbank, aufgekauft hatte und sich stark im Hypothekengeschäft engagierte. Im Aufsichtsrat sind mit Henning Kagermann von der SAP und EON-Chef Johannes Theyssen die letzten deutschen Industriekapitäne ausgezogen und durch angelsächsische Finanzexperten ersetzt worden, darunter dem gescheiterten Merrill-Lynch-Chef John Thain. Dieser Ausflug auf das globale Finanzparkett endete mit „einer wirtschaftlichen Bilanz des Schreckens“. Geschätzte 40 bis 50 Milliarden Euro flossen in den vergangenen 15 Jahren als Bonuszahlungen in die Taschen der Investmentbanker. Mehr als 16 Milliarden US-Dollar an Strafzahlungen mussten die Deutschen wegen Regelverletzungen ihrer Börsenabteilungen zahlen und knapp 33 Milliarden Euro an Kapitalerhöhungen seit der Finanzkrise einfordern, um den Basler Eigenkapitalregeln nachzukommen. Auch vom wertvollen Eigentum der Deutschen Bank – den Beteiligungen an den wichtigsten deutschen Industrieunternehmen – ist fast nichts geblieben. Sie wurden verkauft, um die Geschäfte der Bank zu finanzieren. Neun Milliarden Euro Verluste allein in den vergangenen drei Jahren haben dazu geführt, dass die Bank an der Börse heute viel weniger wert ist als vor zehn Jahren.
Inzwischen wird die Riege der angelsächsischen Manager wieder verkleinert – John Cryan, der zweite angelsächsische Sprecher nach Anshu Jain, musste zurücktreten und wurde durch den Deutschen Christian Sewing ersetzt. Ob die Wahl eines klassischen Privatkundenspezialisten zum Sprecher der Deutschen Bank den Rückzug aus dem teuren globalistischen Abenteuer bedeutet? Die Geschichte kennt Wege und Rückwege, Expansion und Implosion, niemand weiß, wie stabil der Nationalcontainer ist.

Reinhard Blomert und Claudia Czingon

Inhaltsverzeichnis

Positionen, Begriffe, Debatten

Thomas Biebricher
Zur Ordoliberalisierung Europas – Replik auf Hien und Joerges

Aufsätze

Lisa Herzog
Markt oder Profession? Die Politik zweier Wissenslogiken

Philipp Staab
Exit-Kapitalismus revisited. Der Einfluss privaten Risikokapitals auf Unternehmensentscheidungen, Marktrisiken und Arbeitsqualität in technologieintensiven Jungunternehmen

Paul Sörensen
»Zeugung« oder »Geburt« – Zeitlichkeiten politischer Transformation oder: Ist Schlafen politisch?

Peter Wehling, Shirin Moghaddari, Susanne Schultz
Genetisches Screening vor der Schwangerschaft – die Herausbildung eines neuartigen reproduktiven Präventionsregimes?

Klaus Kraemer
Sehnsucht nach dem nationalen Container. Zur symbolischen Ökonomie des neuen Nationalismus in Europa

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