Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur (2019), 1

Titel der Ausgabe 
Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur (2019), 1
Weiterer Titel 
ALTNEU – JÜDISCHES LEBEN IN EUROPA NACH 1989

Erschienen
München 2019: Selbstverlag
Erscheint 
Jährlich zwei Hefte
Anzahl Seiten
92 S.
Preis
10,00

 

Kontakt

Institution
Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur
Land
Deutschland
c/o
Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Historisches Seminar Geschwister-Scholl-Platz 1 80539 München
Von
Lenhard, Philipp

Ein Jahrtausend lang bildete Europa das Zentrum jüdischen Lebens, während des Mittelalters auf der iberischen Halbinsel und im Rheinland, in der Frühen Neuzeit in Amsterdam und Saloniki und im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Osteuropa und den deutschsprachigen Gebieten. Die Mehrheit der Juden lebte in Europa, und Namen wie Raschi und Maimonides, Moses Mendelssohn und Samson Raphael Hirsch, Theodor Herzl und Chaim Nachman Bialik prägen die jüdische Religion und Kultur bis heute. Ohne Juden wie Sigmund Freud, Franz Kafka und Albert Einstein, um nur im deutschsprachigen Raum zu bleiben, hätte auch das moderne Europa ein anderes Gesicht.

Mit dem Völkermord an den Juden kam all dies zu einem Ende. In einer bewegenden Rede kurz nach der Befreiung stellte einer der führenden Vertreter der überlebenden Juden klar, was Europa nun, nach 1945, für die wenigen der Hölle Entkommenen bedeutete. Wenn wir an Europa denken, so führte Samuel Gringauz aus, so assoziieren wir dies nicht mit den Kunstschätzen von Florenz, der Kathedrale von Straßburg oder Westminster Abbey, wir denken vielmehr an die Kreuzzüge, die Spanische Inquisition, die Pogrome im Zarenreich und die Gaskammern von Auschwitz. „Adieu Europa“ lautete sein Motto. Die wenigen Juden, die den Holocaust überlebt hatten, dachten meist genauso: Sie wollten den Kontinent verlassen, nach Israel und in die USA, aber auch in möglichst weit entfernte Ziele von Argentinien bis Australien. Europa galt nun als ein riesiger jüdischer Friedhof, als blutgetränkte Erde.

Verblieben waren die zwei Millionen Juden in der Sowjetunion, die nicht ausreisen durften, sowie die einzige größere jüdische Gemeinde, die nicht unter Naziherrschaft gekommen war, Großbritannien. In Osteuropa bewahrte sich in Ungarn eine beträchtliche Gemeinde. Daneben gab es kleine „Restgemeinden“ Gestrandeter, denen kaum eine Zukunft vorausgesagt wurde. In den sechziger Jahren dann wuchs Frankreich durch die Immigration aus Nordafrika zu einem neuen Zentrum heran. Dennoch deutete insgesamt die demographische Entwicklung in eine andere Richtung. 1996 machte der britische Historiker Bernard Wasserstein bereits im Titel seiner Studie klar, wohin der Weg ging: Vanishing Diaspora (Verschwindende Diaspora) nannte er sein Buch. Die Zahlen scheinen eine klare Sprache zu sprechen. Lebten 1939 noch neuneinhalb Millionen Juden in Europa, die sechzig Prozent der jüdischen Gesamtbevölkerung ausmachten, so sind es heute mit weniger als eineinhalb Millionen gerade noch zehn Prozent der Juden auf der Welt.

Dennoch: Zur gleichen Zeit, als Wasserstein ein „Europa ohne Juden“ (so der deutsche Titel seines Buches) voraussagte, ließ die französische Historikerin Diana Pinto einen vorher kaum vernehmbaren Optimismus anklingen. In mehreren Publikationen sprach sie von Europa als einer dritten Säule in der jüdischen Welt neben Israel und Nordamerika. In einer nach dem Mauerfall und der Osterweiterung Europas scheinbar postnationalen Welt betrachtete sie das neue Europa als vitale neue Heimat für die jüdische Gemeinschaft. Die europäischen Juden dürften ihren Kontinent nicht nur mit Verfolgung und Vernichtung gleichsetzen, sondern sie müssten sich wieder auf ihre ruhmreiche Geschichte besinnen und eine neue Zukunft einleiten.

In den gut zwei Jahrzehnten seit den Veröffentlichungen Wassersteins und Pintos hat sich viel verändert. Pintos Beitrag in dieser Zeitschrift lässt keinen Zweifel daran, dass ihr optimistischer Blick mittlerweile einem eher pessimistischen Grundgefühl Platz gemacht hat. Europa ist als Idee verblasst, populistische Ideen und Politiker haben an Boden gewonnen, der Antisemitismus ist sowohl auf rechtsextremer wie auch von islamistischer Seite bedrohlich angewachsen, und in seiner radikal antizionistischen Spielart hat er manche linke Partei in Europa unterlaufen. In Großbritannien ist die jüdische Gemeinde aufgrund der starken Assimilation zusammengeschrumpft, in Frankreich entschließen sich viele Juden nach gehäuften verbalen und tätlichen Angriffen zur Auswanderung. Auch in Deutschland trauen sich viele Juden nicht mehr, in der Öffentlichkeit als solche in Erscheinung zu treten. Neuere Veröffentlichungen, unter anderem von unserem früheren Gastprofessor Natan Sznaider, thematisieren dieses Phänomen. In dieser Ausgabe unterzieht Philipp Lenhard den gegenwärtigen Antisemitismus in Europa einer gründlichen Analyse.

Doch gibt es auch gegenläufige Entwicklungen. Das lang unterdrückte jüdische Leben unter kommunistischer Herrschaft wich nach 1989 einer vorsichtigen Renaissance, wie der in Budapest lehrende Historiker Michael Miller in seiner hier abgedruckten Antrittsvorlesung als Allianz-Gastprofessor für Jüdische Geschichte und Kultur an der LMU hervorhob. Auch in Skandinavien entwickelte sich trotz eines bedrohlich angestiegenen antisemitischen Klimas reges jüdisches Leben in kleinen Gemeinden. Die hier abgedruckten Gespräche, die Daniel Mahla mit dem dänischen Oberrabbiner Melchior und der schwedischen Oberrabbinerin Steyer führte, geben darüber Zeugnis.

Vor allem aber in Deutschland war in den vergangenen beiden Jahrzehnten eine aufsteigende Tendenz jüdischen Lebens zu erkennen. Während sich die postsowjetische jüdische Gemeinde weitgehend aufgelöst hat, hat sich die Zahl der Juden in Deutschland seit 1990 etwa verfünffacht. Sie ist mit etwa 100.000 Gemeindemitgliedern und vielleicht noch einmal so vielen Juden, die sich keiner Gemeinde anschließen, zwar immer noch sehr klein und bildet gerade einmal 0,2% der deutschen Bevölkerung, doch hat die Einwanderung aus der früheren Sowjetunion immerhin dazu geführt, dass ein aktives jüdisches Leben in vielen Städten wieder möglich wurde.

In den achtziger Jahren amtierten in ganz Deutschland nur etwa ein Dutzend Gemeinderabbiner, die zumeist aus Israel oder den USA importiert werden mussten. Heute gibt es über fünfzig Rabbiner, und die seit den neunziger Jahren gegründeten Rabbinerseminare in Berlin und Potsdam exportieren sogar in Deutschland ausgebildete Rabbiner. Auch das säkulare jüdische Leben hat sich ausgeweitet. Es gibt mit der Jewrovision einen äußerst populären Musikwettbewerb jüdischer Jugendlicher, Makkabi-Sportklubs erhielten enormen Zuwachs und die etwa 20.000 in Berlin lebenden Israelis haben diese Stadt – wie bereits in den zwanziger Jahren – zu einem kleinen Zentrum hebräischer Kultur außerhalb des jüdischen Staates gemacht.

In Europa nahm die moderne Wissenschaft des Judentums zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang. Auch wenn sich ihr neuer Mittelpunkt mittlerweile in die Zentren jüdischen Lebens, Israel und die USA verlagert hat, gehen heute von München und Leipzig, Paris und Rom, Oxford und Moskau wieder wichtige neue Forschungsimpulse aus. Hoffen wir, dass diese am Ende nicht von einem „Europa ohne Juden“ rezipiert werden.

Inhaltsverzeichnis

INHALT

ALTNEU – JÜDISCHES LEBEN IN EUROPA NACH 1989

Michael Brenner: Einleitung

Michael Miller: Eine jüdische Renaissance?
Jüdisches Leben in Ostmitteleuropa seit 1989

Diana Pinto: Juden zwischen liberaler und illiberaler Demokratie
Was mit Europa auf dem Spiel steht

Philipp Lenhard: Vom nationalen zum europäischen Antisemitismus
Europäische Judenfeindschaft nach 1989 – ein Überblick

„Ein Teil der Gesellschaft“
Daniel Mahla im Gespräch mit Jair Melchior, Oberrabbiner von Dänemark, und Ute Steyer, Oberrabbinerin von Schweden

BERICHTE

Rebecca Thoss: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“
Eine Exkursion nach Israel

Fatma Teke: Das jüdische Amsterdam in der Frühen Neuzeit
Exkursion vom 13. bis 16. Januar 2019

NACHRICHTEN UND TERMINE

Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur (Prof. Dr. Michael Brenner)

Neues vom Freundeskreis des Lehrstuhls

Professur für Mittelalterliche Jüdische Geschichte (Prof. Dr. Eva Haverkamp-Rott)

Die Autorinnen und Autoren

Übersicht über die Themenschwerpunkte der bislang erschienenen Hefte

Weitere Hefte ⇓
Redaktion
Veröffentlicht am