Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70 (2019), 9–10

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70 (2019), 9–10
Weiterer Titel 
Holocaustgeschichte in Forschung und Unterricht

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monatlich

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

Die Erforschung des Holocaust ist in Deutschland erst spät in Gang gekommen. Zwar sind bereits seit den 1950er Jahren immer wieder einschlägige Beiträge vorgelegt worden, aber zu einer systematischen und umfassenden Ergründung der komplexen Entscheidungsabläufe, der Verbrechensorte sowie der am Holocaust beteiligten Tätergruppen sind sie nicht wirklich vorgedrungen. Dabei spielte auch eine institutionelle Seite eine wichtige Rolle, wurde doch der Erforschung des Holocaust an den Universitäten lange nur eine Nischenrolle zugestanden. Genau dies aber hat sich seit rund zwei Jahrzehnten entscheidend geändert. Es ist daher alles andere als ein Zufall, dass die Inhaberin des im Jahr 2017 an der Goethe Universität Frankfurt neu eingerichteten „Lehrstuhls zur Erforschung der Geschichte und Wirkung des Holocaust“, Sybille Steinbacher, die Beiträge des Themenheftes zusammengeführt hat. Darin zeichnet Frank Bajohr einleitend wesentliche Trends der Holocaustforschung seit den 1990er Jahren nach. Dass sich seither geradezu ein internationaler Boom in diesem Forschungsfeld konstatieren lasse, führt er unter anderem auf die Öffnung der osteuropäischen Archive nach dem Ende des Kalten Krieges zurück. Für weit bedeutsamer stuft er jedoch den Wandel der Forschungsperspektiven hin zu einer breit angelegten Gesellschafts- und Verhaltensgeschichte des Holocaust ein. Dieter Pohl knüpft direkt daran an, indem er den Holocaust in übergeordnete räumliche und zeitliche Perspektiven einer modernen Geschichte der Gewalt einordnet. Auf diese Weise verdeutlicht er, dass überhaupt erst über einen solchen Zugang die immer wieder postulierte Singularität des Holocaust hinreichend erfasst werden könne. Wie sehr dabei zuletzt die Debatten über „Räume der Gewalt“ ein besonderes Gewicht eingenommen haben, verdeutlicht Sybille Steinbacher im nachfolgenden Beitrag, der eindringlich die allgemeinen Hintergründe, aber auch Probleme des spatial turn in der Holocaustforschung thematisiert. Um potentiellen Fallstricken auszuweichen, plädiert Steinbacher dafür, „Raum“ sowohl als konstruktivistische Größe als auch in seinem geographischen und materiellen Zusammenhang zu begreifen.

Die anschließenden drei Beiträge rücken verschiedene Quellen- und Darstellungsfragen in den Mittelpunkt. Zunächst handelt es sich dabei um die inzwischen stark beachteten Tagebücher aus der Zeit des Nationalsozialismus, denen Birthe Kundrus einerseits ein großes Erkenntnispotential zubilligt, weil sie anschaulich vermittelten, wie paradox menschliche Verhaltensweisen sich in einem gesellschaftlichen Ausnahmezustand entwickeln könnten. Andererseits sieht sie darin die Gefahr angelegt, einen Trend zu rein subjektiven Deutungen zu befördern. Im Anschluss daran skizziert Susanne Heim die didaktischen Potentiale der vielbändigen Quellenedition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden“, zu deren großen Vorzügen die repräsentative Auswahl von Dokumenten zum Holocaust nicht nur in Deutschland, sondern auch in allen deutsch besetzten oder mit NS-Deutschland verbündeten Ländern zählen. Und zuletzt leistet Martin Liepach eine kritische Diskussion der Darstellung des Holocaust in ausgewählten Schulgeschichtsbüchern.

Seine Ausführungen schließen den Bogen zu entscheidenden Herausforderungen an die Geschichtskultur der Gegenwart. Denn auf der einen Seite herrschen in erinnerungskulturellen Repräsentationen des Holocaust immer noch die Bilder einer rein bürokratisch und systematisch durchstrukturierten Terrorherrschaft vor. Auf der anderen Seite betont die neuere historische Forschung vor allem das Chaos, die Willkür und die Improvisationen eines Mordgeschehens, das meistens in voller Öffentlichkeit exekutiert worden ist. Dieses Spannungsverhältnis wird im vorliegenden Themenheft aus mehreren Perspektiven eingehend beleuchtet. Insgesamt leistet es damit einen wichtigen Beitrag zu einem stärker selbst-reflexiven Umgang mit dem Thema.

Von Christoph Cornelißen

Inhaltsverzeichnis

INHALT

ABSTRACTS (S.482)
EDITORIAL (S.484)

BEITRÄGE

Frank Bajohr
Trends der Holocaustforschung seit den 1990er Jahren
Errungenschaften, Wandel, Probleme und Herausforderungen (S.485)

Dieter Pohl
Der Holocaust in der Gewaltgeschichte
Veränderte Perspektiven auf den Holocaust (S.497)

Sybille Steinbacher
„Räume“ der Gewalt
Überlegungen zur Tragkraft eines Konjunkturbegriffs in der Holocaustforschung (S.512)

Birthe Kundrus
Komplexes schreiben
Zur Konjunktur von Tagebüchern in der Forschung zum Holocaust (S.521)

Susanne Heim
Holocaustforschung und -erinnerung
Die Quellensammlung „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 –1945“ im Unterricht (S.532)

Martin Liepach
Zur Darstellung des Holocaust in den aktuellen Schulgeschichtsbüchern
Eine Bestandsaufnahme (S.543)

Axel Schildt †
Inszenierung einer Biographie – Konstruktion einer Karriere
Der Rechtsintellektuelle Armin Mohler (1920 – 2003) (S.554)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Alessandra Sorbello Staub
Wider das Vergessen: aktuelle Angebote zur Holocaustgeschichte (S.568)

LITERATURBERICHT

Benjamin Steiner
Absolutismus und Aufklärung (S.571)

NACHRICHTEN (S.589)
AUTORINNEN UND AUTOREN (S.592)

ABSTRACTS

Frank Bajohr
Trends der Holocaustforschung seit den 1990er Jahren
Errungenschaften, Wandel, Probleme und Herausforderungen
GWU 70, 2019, H. 9/10, S. 485 – 496
Forschungen über den Holocaust haben seit den 1990er Jahren einen internationalen Boom erlebt. Der Beitrag skizziert wesentliche Trends und Schwerpunkte dieser Entwicklung und fragt vor allem nach Veränderungen gegenüber früheren Ansätzen der Forschung. So weicht die klassische Unterscheidung von Tätern, Opfern und Zuschauern immer stärker einer breit angelegten Verhaltens- und Gesellschaftsgeschichte, die jenseits statischer Kategorisierungen nach dynamischen Rollenveränderungen fragt. Abschließend werden gegenwärtige Probleme der Erinnerungskultur sowie die Repräsentation des Holocaust in Medien und Gedenkstätten kritisch in den Blick genommen.

Dieter Pohl
Der Holocaust in der Gewaltgeschichte
Veränderte Perspektiven auf den Holocaust
GWU 70, 2019, H. 9/10, S. 497 – 511
Eine Einordnung des Holocaust in eine Geschichte der massenhaften Gewalt ist aus vielen Perspektiven möglich. Die antijüdische Gewalt seit dem Mittelalter zeigt etwa eine Kontinuität von Legitimationsdiskursen. In der Genozidforschung bleiben die Großkomplexe der Gewalt disparat. Zuletzt wurde eine räumliche Perspektive auf den Holocaust diskutiert, etwa in „Bloodlands“. Ebenso erscheint die übergreifende Betrachtung einer zentralen Phase der Gewalt sinnvoll, von den 1920er bis zu den 1950er Jahren. Der am nächsten liegende Kontext sind jedoch die nationalsozialistischen Verbrechen in ihrer Gesamtheit.

Sybille Steinbacher
„Räume“ der Gewalt
Überlegungen zur Tragkraft eines Konjunkturbegriffs in der Holocaustforschung
GWU 70, 2019, H. 9/10, S. 512 – 520
Der Begriff „Räume der Gewalt“ hat in der Holocaustforschung Konjunktur. Was genau bedeutet er? Worin liegen die Fallstricke einer raumorientierten Annäherung an die Untersuchung der nationalsozialistischen Verbrechen? Welches Potential liegt hier aber auch? Und wie ist der Boom dieses Deutungsansatzes zu erklären? Ausgehend von jüngsten Forschungsdiskussionen untersucht der Beitrag, wie sich der „spatial turn“ in der Holocaustforschung niedergeschlagen hat.

Birthe Kundrus
Komplex schreiben
Zur Konjunktur von Tagebüchern in der Forschung zum Holocaust
GWU 70, 2019, H. 9/10, S. 521 – 531
Tagebücher haben Konjunktur – als in ihrer Subjektivität vermeintlich eingängige Quellen für den Holocaust und als narrative Instrumente in der Historiographie zum Nationalsozialismus. Der Beitrag beleuchtet und problematisiert den aktuellen Boom dieser Quellen, dabei Chancen und Grenzen einer Arbeit mit Diarien abwägend.

Susanne Heim
Holocaustforschung und -erinnerung
Die Quellensammlung „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945“ im Unterricht
GWU 70, 2019, H. 9/10, S. 532 – 542
Die Quellenedition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durchdas nationalsozialistische Deutschland 1933 –1945“ enthält eine thematisch umfassende und repräsentative Auswahl von Dokumenten zum Holocaust in Deutschland sowie in allen deutsch besetzten oder mit NS-Deutschland verbündeten Ländern. Einige der Schriftzeugnisse sind vom Bayerischen Rundfunk in einer Hördokumentation publiziert worden, die durch Zeitzeugeninterviews und Gespräche mit Historikerinnen und Historikern ergänzt wird und im Internet abrufbar ist. In dem Artikel werden Möglichkeiten aufgezeigt, die etwa 5.000 gedruckte Dokumente umfassende Sammlung, die Audioversion sowie die Zeitzeugeninterviews im Geschichtsunterricht, insbesondere zum forschenden Lernen in Leistungskursen, einzusetzen.

Martin Liepach
Zur Darstellung des Holocausts in den aktuellen Schulgeschichtsbüchern
Eine Bestandsaufnahme
GWU 70, 2019, H. 9/10, S. 543 – 553
Der Beitrag knüpft an Befunde der deutsch-israelischen Schulbuchkommission aus dem Jahr 2015 an und beschäftigt sich mit ausgewählten Aspekten der Darstellung des Holocaust in der jüngsten Schulgeschichtsbuchgeneration. Untersucht wurden Bücher der Sekundarstufe I, die zwischen 2013 und 2019 erschienen sind. In der Analyse geht es um die Frage der Umsetzung der didaktischen Kernforderung der Multiperspektivität im Zusammenhang mit den Novemberpogromen, ausgewählte problematische Definitionen und Arbeitsaufträge sowie um den Umgang mit antisemitischen Bildquellen.

Axel Schildt †
Inszenierung einer Biographie – Konstruktion einer Karriere
Der Rechtsintellektuelle Armin Mohler (1920 – 2003)
GWU 70, 2019, H. 9/10, S. 554 – 567
Der Beitrag rückt einen Schweizer Intellektuellen in den Mittelpunkt, der von der Neuen Rechten in Deutschland als theoretischer Vordenker verehrt wird. Obwohl Mohlers intellektuelle Eigenleistung eher epigonal zu nennen ist, bietet die Betrachtung seiner Biographie aufschlussreiches Anschauungsmaterial für die Konstruktionsleistungen eines rechten Intellektuellen, der zeitweilig in Westdeutschland zum Star unter den konservativen Ideologen avancierte, bevor er seit den 1970er Jahren einer zunehmenden Altersradikalisierung unterlag und sich darüber immer weiter isolierte.

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Bestandsnachweise 0016-9056