PERIPHERIE 96 (24. Jg. 2004), 4

Titel der Ausgabe 
PERIPHERIE 96 (24. Jg. 2004), 4
Weiterer Titel 
Staat und Entwicklung

Erschienen
Münster (Westf.) 2004: Westfälisches Dampfboot
Erscheint 
4 Nummern in 3 Ausgaben
ISBN
3-89691-808-7
Anzahl Seiten
148 S.
Preis
€ 9,10

 

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Institution
Peripherie: Politik • Ökonomie • Kultur
Land
Deutschland
c/o
PERIPHERIE Redaktionsbüro c/o Michael Korbmacher Stephanweg 24 48155 Münster Telefon: +49-(0)251/38349643
Von
Korbmacher, Michael

Im aktuellen Globalisierungsprozess werden Eckpunkte von Staatlichkeit neu bestimmt. Souveränität wird sowohl an supranationale Strukturen übertragen als auch auf regionale und lokale. Den Staat jedoch als Opfer ihm äußerlicher Globalisierungsprozesse zu sehen, ist der realen Bedeutung von Nationalstaaten wohl kaum angemessen. Ganz im Gegenteil ist zu betonen, dass der Staat einer der zentralen Kollektiv-Akteure ist und bleibt. Dabei ist jedoch die jeweils konkrete, historische Form des Staates zu bestimmen. Die Artikel in diesem Heft befassen sich mit Formen transnationaler Souveränität und deren Verhältnis zu Nationalstaaten, Bedeutung von Nationalstaaten in transnationalen policy-Regimen, Fallstudien, die verschiedene scales (lokal, regional, global) mit der nationalstaatlichen Ebene in Bezug setzten, Staatszerfall und Privatisierung von Gewalt, Fragmentierung von Staaten und das Entstehen parasouveräner Gruppen, die Artikulation parasouveräner Gruppen mit transnationalen Akteuren, Fallstudien zur aktiven Rolle des Staates als „nationaler Wettbewerbsstaat“, die (Un)-Möglichkeit progressiver Politik von linkspopulistischen Regierungen – v.a. Brasilien, Venezuela, Kuba, Südafrika, Südkorea.

Inhaltsverzeichnis

Editorial

Gerhard Hauck: Schwache Staaten? Überlegungen zu einer fragwürdigen entwicklungspolitischen Kategorie

Bettina Gransow: NGOs in Chinas Armutsbekämpfung – Globalisierung von innen?

Henning Melber: The New Partnership for Africa’s Development (NePAD). Eine Zwischenbilanz

Sabah Alnasseri: Imperial(istisch)e Kriege und Kantonisierung oder: die Internationalisierung peripherer Staaten

Erhard Berner & Benedict Phillips: Selbsthilfe oder unterlassene Hilfeleistung? Die Flucht des Entwicklungsstaats aus der Fürsorgepflicht

Elisabeth Tuider: „Das Fleisch des Diskurses“ Zum Verhältnis von feministischer und zapatistischer Bewegung

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Editorial

Staat und Entwicklung

Im aktuellen Globalisierungsprozess werden Eckpunkte von Staatlichkeit neu bestimmt. Souveränität wird sowohl an supranationale Organisationen übertragen als auch auf regionale und lokale Strukturen. Den Staat jedoch als Opfer ihm äußerlicher Globalisierungsprozesse zu sehen, ist der realen Bedeutung von Nationalstaaten wohl kaum angemessen. Ganz im Gegenteil ist zu betonen, dass der Staat einer der zentralen institutionellen Akteure ist und bleibt. Auch weiterhin soll der bürgerlich-kapitalistische Staat vor allem planbare Rahmenbedingungen und rechtsstaatliche Verhältnisse (besonders die Sicherung der Eigentumsverhältnisse) für die Reproduktion des Kapitals gewährleisten. Er ist zudem der zentrale Akteur, der gesellschaftliche Antagonismen und Konflikte über die verschiedenen Partikularinteressen befriedet, um letztlich die Reproduktions-bedingungen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sicherzustellen.

So wichtig diese Feststellungen sind, reichen sie doch nicht aus, um die aktuellen Veränderungsprozesse zu verstehen. Es geht auch hier darum, die konkrete, historische Form des Staates zu bestimmen. Pointiert hat Joachim Hirsch den Funktionswandel des fordistischen Wohlfahrts-staates zum nationalen Wettbewerbsstaat untersucht, der im Kontext veränderter Weltmarktbedingungen aktiv darauf aus ist, Standortbedingungen zu verbessern. Auch die VertreterInnen, die mit dem foucaultschen Ansatz der Gouvernementalität arbeiten, betonen, dass es sich bei den aktuel-len Veränderungen nicht um ein Nullsummenspiel "weniger Staat, mehr Markt" handelt, sondern um eine qualitative Umformulierung des Konzepts des Regierens. Dabei geht es u.a. darum, den "Staat in kulturellen Begriffen neu zu denken" (Schild in Peripherie 92).

Sowohl die Bedeutung transnationaler Prozesse und die Verschiebung von Kräfteverhältnissen zwischen verschiedenen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Akteuren als auch die interne Fragmentierung von Nationalstaaten machen es jedoch notwendig, staatliche und nichtstaatliche Interventionspraxen auf verschiedenen "spatial scales" zu analysieren und in Be-ziehung zu setzen. Der Container-Begriff des Nationalstaates, wie er auch in der Regulations- und der Dependenztheorie benutzt wurde, hat endgültig ausgedient und macht einer multidimensiona-len Analyse im globalen Verflechtungsraum Platz. Dabei hat sich der Staat selber internationalisiert. Das hat in einer Weltsituation, die nicht nur durch forcierte Internationalisierung, sondern auch durch weitere Differenzierung und verstärkte, auch regional ausgeprägte Ungleichheit gekennzeichnet ist, im Einzelfall sehr unterschiedliche Konsequenzen.

Für entwicklungsbezogene Diskussionen spielt gerade im Zusammenhang mit den sog. "collapsed states" die Bestimmung der Beziehung zwischen (zentral-)staatlicher Souveränität und intermediären, aber auch quasisouveränen und häufig formal auch illegalen Gruppen eine wichti-ge Rolle, die innerhalb des formal dem Nationalstaat zugerechneten Territoriums de facto staatliche Funktionen wie das Gewaltmonopol, Steuereinzug usw. ausüben. Der Staat integriert hier nicht; stattdessen bilden sich zum Teil auf Basis der (Re-)Konstruktion ethnischer, lokaler und anderer Identitäten neue Gemeinschaften, die die Form des "rackets" annehmen können und sich im Rahmen globaler Kriminalität weltweit vernetzen. In den zerfallenden Staaten bilden sich teil-weise Bürgerkriegsökonomien heraus, die bestimmte Exportsektoren (Diamanten, Coca, Edelhöl-zer, Edelmetalle etc.) direkt kontrollieren oder aber über Lizenzvergabe an transnationale Konzerne regulieren.

Aber auch hier ist der Hinweis wichtig, dass das Verhältnis zwischen Staat und quasi-souveränen Gruppen nicht einfach als Nullsummenspiel von diskreten, miteinander konkurrierenden Einheiten verstanden werden kann. Vielversprechender wäre hier ein Ansatz, der die Strategien der verschiedenen kollektiven Akteure sowie deren Verflechtungen analysiert. Dies trifft sich mit den neueren Diskussionen der Regulationstheorie, die den Staat in Anschluss an Poulantzas als "Verdichtung eines Kräfteverhältnisses" sehen: Der Staat ist keine feste Entität, sondern Er-gebnis gesellschaftlicher Kämpfe.

Wie Gerhard Hauck herausarbeitet, erweist es sich als momentan modischer, vorschneller Fehlschluss, von "schwachen Staaten" zu sprechen. Zu differenzieren ist insbesondere zwischen politischer Regulationsmacht und Akkumulationsmacht. Letztere ist gerade in vielen sog. "schwachen Staaten" Afrikas für die Zwecke der herrschenden Eliten alles andere als schwach.

Im Zuge postfordistischer Umbrüche und verstärkt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ist eine Denationalisierung, Entstaatlichung und Internationalisierung von policy-Regimes festzu-stellen. Transnationale Strukturen übernehmen an den Nationalstaat gebundene Funktionen. Dies zeigt sich nicht nur an den Kriegen und (welt-)polizeilichen Maßnahmen der 1990er Jahre, die trotz des Unilateralismus der USA allein im Kontext von nationalstaatlichen Gewaltmonopolen erklärt werden können, sondern auch an der Entstehung supranationaler Institutionen wie v.a. der WTO, der Weltbank, aber auch der EU sowie an der Dynamisierung der Finanzmärkte, die die Rolle der Zentralbanken verändert.

Die Schwierigkeiten und politisch-ökonomischen Auseinandersetzungen, die in supranationa-len (Wirtschafts-)Kooperationen liegen, stellt Henning Melber differenziert in seiner kritischen Zwischenbilanz zur NePAD (New Partnership for Africa's Development) dar. Dabei wird auch deutlich, wie schwer es v.a. auch für Regierungen peripherer Staaten ist, dem neoliberalen Mainstream und seiner strukturellen wie ideologischen Hegemonie etwas entgegenzusetzen.

Weiterhin ist das Verhältnis von Staat und Nation ein zentraler Diskussionspunkt. Trotz der Veränderung von Staatlichkeit bleibt der Bezug auf die Nation weiterhin zentral, nicht zuletzt für Prozesse kollektiver Identitätsbildung und die damit einhergehenden Prozesse der Definition und Aufrechterhaltung von Grenzziehungen. Im Nationalismus in Lateinamerika wie in Stellungnah-men asiatischer Regierungen zu Menschenrechtsfragen oder in regierungsseitigen Einlassungen aus dem südlichen Afrika wird unter Berufung auf die Nation nach außen im Prozess nationaler Entwicklung das Recht auf kulturelle Differenz betont und so nationale Identität auf unterschied-liche Weise für Herrschaftsinteressen funktionalisiert; dagegen werden nach innen kulturelle Dif-ferenzen in oft gewaltsamer Weise homogenisiert. Im Kontext neuer imperial(istisch)er Kriege steht – so Sabah Alnasseri – "nation-building" und Demokratisierung nach offizieller Lesart im Mittelpunkt der Anstrengungen. Tatsächlich aber, so argumentiert Alnasseri am Beispiel des Irak-Krieges, geht es um eine periphere Form der Internationalisierung des Staates, die er mit dem Konzept der Kantonisierung umreißt.

Stand in den Projekten der nationalen Befreiung der 1970er Jahre die Etablierung eines natio-nalen Entwicklungsstaates, über den mittels Importsubstituierung eine "nachholenden Entwick-lung" und eine Überwindung der Abhängigkeit erreicht werden sollte, im Mittelpunkt des Interes-ses, so haben sich diese Projekte in den 1990er Jahren erledigt. Allenfalls die Erfahrungen der staatlich geförderten, selektiven Weltmarktintegration der südostasiatischen "Tiger-Staaten" lie-ßen die Debatten um "nachholende Industrialisierung" und den Staat als Agenten von Entwick-lung wieder aufleben.

Aktuell ist möglicherweise gerade in den lateinamerikanischen Ländern (Brasilien, Venezue-la, Argentinien) eine neue Diskussion um die Möglichkeiten der Veränderung durch den Einsatz der Hebel brisant, die Staatlichkeit bereitzustellen scheint. Andererseits fallen die Bilanzen nach ein bis zwei Jahrzehnten der Regierungstätigkeit staatlicher Eliten, die im südlichen Afrika mit dem ausdrücklichen Anspruch der nationalen Befreiung angetreten waren, bestenfalls ernüchternd aus. Zugleich ist zur Kenntnis zu nehmen, dass der rasante Wandel in einigen südostasiatischen Ländern und in der VR China ohne die massive Tätigkeit eines autoritären, oft auch korrupten Staatsapparates kaum denkbar gewesen wäre und dass dort Demokratisierungsprozesse heute auf enge Grenzen stoßen.

Gleichwohl arbeitet Bettina Gransow heraus, wie sich der staatliche top-down-Ansatz in der chinesischen Armutsbekämpfung als zu ineffizient erwies und wie sich in diesem Kontext eine spezifisch chinesische NGO-Landschaft herausbildete. Allerdings bleibt abzuwarten, ob dies dazu führen wird, dass sich der chinesische Staat seiner sozialen Verantwortung entledigt, durch neu ausgebildete Governance-Strukturen gestärkt wird, oder aber ob sich ein "Dritter Sektor" etabliert, der im Kontext einer sich globalisierenden Sozialpolitik steht.

Erhard Berner und Benedict Phillips argumentieren in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Selbsthilfe-Ansätzen in der Entwicklungspolitik, dass sich hinter den Worthülsen von Auto-nomie, Eigenverantwortung, community-Bildung oder Partizipation oft nur die "Flucht des Ent-wicklungsstaates aus einer Fürsorgepflicht", die von internationalen Entwicklungsorganisationen mitbefördert wird, mehr schlecht als recht verbirgt. Für die Redaktion der Peripherie hat dieses Thema einen so hohen Stellenwert, dass wir uns im Heft 99 speziell mit dem Konzept "Sozialka-pital" auseinandersetzen wollen. Hierzu sind Beiträge herzlich willkommen.

Besonders möchten wir auch einladen, zu unserer Jubiläumsausgabe "100 Peripherien – die Welt von den Rändern her denken" Artikel einzusenden. Für diese Ausgabe werden wir das Gut-achterInnen-Verfahren aussetzen und den Raum für viele verschiedene Arten von Beiträgen – von Bonmots und Aphorismen über Gedanken(splitter) bis hin zu Essays – öffnen.

Damit können sich unsere GutachterInnen im kommenden Jahr auf ein wenig Entlastung freuen. Die ist wohl verdient, denn auch 2004 haben sie durch scharfsinnige, aber nie spitzfindige, oft über Erwarten detaillierte und konstruktive Gutachten viel zum guten Gelingen der Peripherie beigetragen (siehe Seite 548). Ihnen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt.

Summaries

Gerhard Hauck: Weak States – a dubious concept in development theory

For most theorists of development the peripheral states are weak by definition and their weakness is a significant factor in the syndrome of underdevelopment. Recently, especially the states of the African continent are seen as paradigmatically "weak" or "failed" or "collapsed" or "decaying" states. Therefore, the paper uses African case material to discuss the thesis of the structural weakness of the peripheral state. The conclusion is that African states are weak only insofar as their "regulative power" is concerned; insofar as their power to guarantee the accumula-tion of riches in the ruling classes is concerned, in contrast, they are definitely strong states.

Bettina Gransow: NGOs in China's Anti-Poverty Policy – Internationalization from Within?

The example of China's anti-poverty policy is used to show how more complex governancee mechanisms become active in place of the state, incorporating on the institutional level multilate-ral development organizations as well as Chinese and international NGOs. These development trajectories in the field of anti-poverty policy can be interpreted along the lines of three different future scenarios, namely a neo-liberal scenario, in which the state abdicates its social responsibili-ty in favor of (national and international) society; a state-centered scenario, in which new (partici-patory and internationalized) forms of governance serve primarily to strengthen the Chinese state; a scenario of globalizing social policy, in which the third sector, in cooperation with the state and the market, acts to promote socially and environmentally compatible globalization processes.

Henning Melber: The New Partnership for Africa's Development (NEPAD). A Preliminary Assessment

Since the beginning of the 21st century, the transformation of the Organisation for African Unity (OAU) into the African Union (AU) and The New Partnership for Africa's Development (NEPAD) emerged as parallel and at times competing initiatives. They have in the meantime mo-ved towards closer cooperation, with NEPAD as an integral instrument of the AU. This article takes stock of the NEPAD and critically examines the suggested goals and the (lack of) achieve-ments. It summarises the background to NEPAD, and emphasises the alliance it illustrates bet-ween the Nigerian and South African states as regional hegemonic powers. It further highlights the differences and commonalities with the AU and the underlying tensions with regard to another interest group among African states. It then explores the limits of NEPAD in terms of the political understanding originally formulated and the lack of implementation so far. This is followed by another investigation into the socio-economic programme and its potential to address the current imbalances within the global economic structures. The special role executed by South Africa is then summarised, before a concluding part questions, if NEPAD has more to offer than merely a new pact among transnational elites. Given the little concrete evidence of new ground in both the political sphere and the economic sectors within the continent and in terms of global interaction, it is suggested that the scepticism towards NEPAD could claim a certain degree of justification.

Sabah Alnasseri: Imperial(istic) wars and Cantonisation or: The internationalization of pe-ripheral states

Since the cantonisation of Bosnia and since the Kosovo war an old colonial concept, the so called nation building, promoted itself to a conditio sine qua non of the analysis of the peripheral state. Strengthened by the wars in Afghanistan and in Iraq this anachronistic concept was uncriti-cally acquired, in order to mediate conceptually and to research empirically allegedly processes of "democratisation", "state- and nation-building". On the contrary to the thesis of "nation-building", my argument is that we have to do heir with a form of the "internationalization of peripheral state" and that the "cantonisation" represents a specific form of this internationalization, which differs in principle from the forms of the internationalization of the metropolitan state. I discuss this problematic and illustrate my theses on the basis of the example of Iraq.

Erhard Berner & Ben Phillips: Self-help or help denied? Developmental states' withdrawal from public welfare

It is nowadays rarely denied that the poor are active agents in the development process. Parti-cipation, once radical and controversial, is now mainstream management theory; harnessing self-help potentials is the order of the day. Properly 'empowered' or at least 'enabled', the poor are as-sumed to be able to overcome deficits of infrastructure and services and exhaust their tremendous entrepreneurial potential. Without altogether denying the validity of the self-help approach, the paper scrutinizes both its practical assumptions and ideological underpinnings. Does it work for all urban poor communities, and critically, for all people in such communities? And is it its effi-ciency, or rather the implicit justification of cutting subsidies and transfers, which make it so po-pular with governments and international financial institutions? We conclude that self-help appro-aches can and should be supported by the state, but should considered as complements, not as alternatives, to resource transfers and accessible public services. The idea that poor communities can develop under their own steam is not only unrealistic but politically harmful. It obscures gross injustice in the distribution of wealth and power in society, but also within the poor communities.

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