Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte XII (2003)

Titel der Ausgabe 
Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte XII (2003)
Weiterer Titel 
Metropolen im russischen Vielvölkerreich. Petersburg und Odessa seit dem 18. Jahrhundert

Erschienen
Lüneburg 2003: Nordost-Institut
Erscheint 
jährlich
ISBN
0029-1595
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
15 € bzw. 17,50 €

 

Kontakt

Institution
Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte (NOA)
Land
Deutschland
c/o
Kontaktadresse der Redaktion: Frau Dr. Anja Wilhelmi, <a.wilhelmi@ikgn.de>
Von
Wilhelmi, Anja

Editorial
Gleichsam aus mehreren Anlässen wurden im Jahre 2003 die Städte St. Petersburg und Odessa in das Blickfeld der russischen und der deutschen Erinnerungskultur gerückt. Der 300. Jahrestag der Gründung der Stadt St. Petersburg hat den deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau und den russischen Staatspräsidenten Vladimir Putin dazu veranlasst, das Jahr 2003 in einer gemeinsamen Erklärung zum Jahr der Präsentation russischer Kultur in Deutschland auszurufen. In der ehemals südrussischen, heute ukrainischen Metropole Odessa und in ihrer Umgebung begann wiederum vor 200 Jahren die Ansiedlung deutscher Bauern und die Gründung deutscher Kolonien, ein Ereignis, das in Odessa in diesem Jahr nicht in Vergessenheit geriet.

Die – an europäischen Maßstäben gemessen – „kurze“ Geschichte der beiden Städte ist mit der Geschichte Europas und mit der europäischen Geschichte Russlands aufs Engste verbunden. Die Gründungsgeschichte St. Petersburgs und Odessas, ihre jeweilige geografische Lage, die dichte Einbindung der Stadtgeschichten in die politischen und kulturellen Großwetterlagen sowie die ihnen im In- und Ausland zugemuteten symbolischen Bedeutungen legen es nahe, die beiden Städte zumindest bei der Lektüre der vergleichenden Analyse auszusetzen, den Blick gleichsam auf sie beide gemeinsam zu fokussieren.

Um den Blick nicht ins Uferlose schweifen zu lassen, konzentrieren sich die neun von deutschen und russischen Autoren verfassten Beiträge auf Fragen der kulturellen Ausstrahlung und der ethnischen Vielfalt, die den beiden Städten eigen sind. Es geht um Probleme des Zusammenlebens der in St. Petersburg und Odessa beheimateten nationalen Gruppen, um ihre Kultur, Bildung und Religion. Und es geht um die nachhaltige Spiegelung der Symbolkraft der beiden Städte in Kunst und Literatur, um einen Vorgang also, der zur Verselbstständigung der jeweiligen Stadttexte führte. Mehrere Verfasser haben den Versuch unternommen, beide Städte in ihr Blickfeld einzubeziehen. Der Regensburger Slawist und Literaturwissenschaftler Walter Koschmal nahm darüber hinaus auch Moskau in seine Betrachtung auf. Dadurch wurde Odessa in den seit drei Jahrhunderten währenden Dialog hineingezogen, der zwischen den beiden russischen Hauptstädten durchaus mit Streitlust geführt wurde, worüber der Beitrag des Petersburger Literaturwissenschaftlers und Philosophen Konstantin G. Isupov Auskunft gibt.

Der Vergleich zwischen St. Petersburg und Odessa ist nicht neu. Er hat seinen Ursprung in der suggerierten Affinität der historischen Bedeutung und Größe der beiden Stadtgründer: Peter I. und Katharina II. St. Petersburg und Odessa wurden auf eroberten, in der Geografie des Russischen Reiches zwar peripheren, in der politischen und strategischen Aussagekraft jedoch „zentralen“ Territorien und jeweils am Meer planmäßig angelegt. Bei der Gründung und dem wirtschaftlichen Aufstieg beider Städte spielten Ausländer, darunter auch zahlreiche Deutsche, eine große Rolle. Es ist verblüffend, wie früh beide Städte sowohl in Russland als auch im Ausland miteinander in Verbindung gebracht wurden. Rund zehn Jahre nach Odessas Gründung beklagte ein Petersburger Anonymus im Handelsblatt „S.-Peterburgskie Kommerčeskie Vedomosti“ den Rückgang des nach St. Petersburg fließenden Handelskapitals wegen der Kanalisierung eines beträchtlichen Geldstroms in Richtung Odessa, das von dem Verfasser des Artikels obendrein mit den für das russische Gemüt schlagkräftigen Attributen „unrussische“ und „von ausländischen Profitmachern überschwemmte Stadt“ bedacht wurde. Bemerkenswert ist, dass er dabei die früheren Argumente der Moskauer Patrioten gegen St. Petersburg fast wortwörtlich wiederholt. Ausländern, deren Wahrnehmung Russlands anderen Maßstäben verpflichtet ist, fielen beide Städte eher wegen ihres europäischen Charakters auf. Ebenso früh wurde die wirtschaftliche wie auch die strategische Bedeutung St. Petersburgs und Odessas erkannt. Als Odessa erst 50 Jahre alt war, stellten Karl Marx und Friedrich Engels plastisch fest, Russland würde ohne St. Petersburg und Odessa einem „Riesen mit abgehauenen Händen“ ähneln. Hinreichend bekannt sind die Bezeichnungen „nördliches Palmyra“ für St. Petersburg und „südliches Palmyra“ für Odessa.

Die Gründung St. Petersburgs und Odessas diente aus der Sicht der beiden Herrscher dem ehrgeizigen Ziel, die Stärke des zur Seemacht aufgestiegenen, sich Europa öffnenden und nach Europa hineingreifenden Russland zu symbolisieren. Mit St. Petersburg zimmerte Peter I. das geradezu legendär gewordene Fenster, durch das seinem Land der Blick nach Europa möglich wurde. Damit begann das Hineinwachsen Russlands in das alte Europa. Nach der Einverleibung des Schwarzmeergebiets setzte Katharina II. den Schlusspunkt mit der Gründung Odessas an jener Stelle, wo die türkische Festung Eni-Dunja (Chadžibej) lag. Damit stand St. Petersburg symbolisch am Anfang der europäischen Geschichte Russlands, die mit der Gründung Odessas einen weiteren Höhepunkt erlebte. Im zeitlichen Umfeld dieser Gründungen stand die territoriale Arrondierung Russlands im Westen: die Inkorporation der Baltischen Provinzen und die Teilungen Polens. Nach der Französischen Revolution entwickelte sich Russland zu einem der Garanten des Absolutismus, später zu einem Garanten des Kommunismus in Europa. Erst mit Gorbačevs Perestrojka wurde der östliche Teil Europas von diesen Garantien befreit. Es wird wohl – historisch gesehen – bei der Doppeldeutigkeit der Symbolik von St. Petersburg und Odessa bleiben: Städtegründungen und ihre Geschichten als Zeichen der Öffnung wie auch die des imperialen Ausgreifens nach Europa.

Victor Herdt, Göttingen

Inhaltsverzeichnis

Abhandlungen

Trude Maurer (Göttingen): Das „nördliche“ und das „südliche Palmyra“. Berichte von Westeuropäern über Sankt Petersburg und Odessa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 11

Walter Koschmal (Regensburg): Ein russischer Traum von Europa? Petersburg, Odessa und andere, S. 43

Konstantin G. Isupov (St. Petersburg): Dialog der Hauptstädte, S. 71

Ljuba Kirjuchina / Norbert Franz (Potsdam): Deut-sche Literatur in Sankt Petersburg? Der Petersburger Stadttext als Dialog der Kulturen, S. 103

Yvonne Kleinmann (Berlin): An zwei Meeren und doch an Land – Eine vergleichende Skizze des soziokulturel-len Profils der jüdischen Bevölkerung St. Petersburgs und Odessas im 19. Jahrhundert, S. 135

Gerd Stricker (Zürich): Religionsgemeinschaften in St. Petersburg und Odessa heute, S. 167

Natalija V. Juchnëva (Moskva): St. Petersburg an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert: Ethnische Prob-leme einer Großstadt, S. 197

Aleksandr Rupasov / Aleksandr Čistikov (St. Peter-burg): Identitätswahrung, Identitätswandel und Identi-tätsverlust in Petersburg-Petrograd-Leningrad (am Bei-spiel der Esten, Letten und Litauer vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zu den 1930er Jahren), S. 225

Wladimir Süss (Kassel): Deutsch und Russisch im Wi-derstreit: Die Schulsituation in den „Odessaer Kolonien“ 1803-1917, S. 247

Rezensionen

Gottfried Schramm, Altrußlands Anfang. Historische Schlüsse aus Namen, Wörtern und Texten zum 9. und 10. Jahrhundert (Ralph Tuchtenhagen), S. 271

Helmut Schaller, Der Nationalsozialismus und die slawi-sche Welt (Jörg Hackmann), S. 274

Russische und Ukrainische Geschichte vom 16.−18. Jahrhundert, hrsg. v. Robert O. Crummey, Holm Sundhaussen u. Ricarda Vulpius (Frank Golczewski), S. 276

Studienhandbuch Östliches Europa. Bd. 2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion, hrsg. v. Thomas M. Bohn u. Dietmar Neutatz (Sabine Dum-schat), S. 279

Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuro-pas, hrsg. v. Nada Boškova, Peter Collmer, Seraina Gil-ly, Rudolf Mumenthaler u. Christophe von Werdt (Rudolf A. Mark), S. 282

Frank Golczewski, Gertrud Pickhan, Russischer Nationa-lismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jahrhundert. Darstellung und Texte (Sabine Dumschat), S. 288

Ein Deutscher am Zarenhof: Heinrich Graf Ostermann und seine Zeit 1687−1747, hrsg. v. Johannes Volker Wagner, Bernd Bonwetsch u. Wolfram Eggeling (Rudolf A. Mark), S. 291

Russkie i nemcy v XVIII veke: vstreča kul’tur. Russen und Deutsche im XVIII. Jahrhundert: Begegnung der Kulturen / Redkoll: Sergej Ja. Karp (otv.), J. Schlobach, N.F. Sokol’skaja (Robert Schweitzer), S. 298

Denis Lomtev, Deutsche Musiker in Russland. Zur Ge-schichte der Entstehung der russischen Konservatorien (Klaus Harer), S. 305

St. Petersburg – Leningrad – St. Petersburg. Eine Stadt im Spiegel der Zeit, hrsg. v. Stefan Creuzberger, Maria Kaiser, Ingo Mannteufel u. Jutta Unser (Dietmar Alb-recht), S. 310

Helmut Tschoerner, St. Petersburg. Stadt der Kirchen – Ort des Glaubens (Heinrich Wittram), S. 313

Johannes Reimer, Auf der Suche nach Identität. Ruß-landdeutsche zwischen Baptisten und Mennoniten nach dem Zweiten Weltkrieg (Gerd Stricker), S. 315

Ulla Lachauer, Ritas Leute. Eine deutsch-russische Ge-schichte (Natalia Hefele), S. 326

Politik und Religion in der Sowjetunion. 1917–1941, hrsg. v. Christoph Gassenschmidt u. Ralph Tuchtenha-gen (Karl Christian Felmy), S. 331

Detlef Brandes, Andrej Savin, Die Sibiriendeutschen im Sowjetstaat 1919−1938 (Viktor Krieger), S. 338

Victor Dönninghaus, Reform, Revolution und Krieg. Die Deutschen an der Wolga im ausgehenden Zarenreich. Essen: Klartext 2002, 315 S. (Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Euro-pa. 23) (Victor Herdt), S. 344

Nemeckoe naselenie Tavričeskoj Gubernii. Tom 1: An-notirovannyj tematičeskij perečcen’ del. Kanceljarija Tavričeskogo gubernatora. 1803−1917 gg. Tavričeskoe gubernskoe pravlenie. 1803−1917 gg. (Die deutsche Bevölkerung des Taurischen Gouvernements. Bd. 1: Annotiertes thematisches Aktenverzeichnis. Kanzlei des Gouverneurs von Taurien. 1803−1917. Verwaltung des Gouvernements Taurien. 1803−1917) (Viktor Krieger), S. 349

Eva-Maria Auch, Öl und Wein am Kaukasus. Deutsche Forschungsreisende, Kolonisten und Unternehmer im vorrevolutionären Aserbaidschan (Rudolf A. Mark), S. 352

Deutsche Erinnerungsorte, hrsg. v. Etienne François u. Hagen Schulze (Joachim Tauber), S. 358

Metropolen und Kulturtransfer im 15./16. Jahrhundert. Prag – Krakau – Danzig – Wien, hrsg. v. Andrea Langer u. Georg Michels (Esther-Beate Körber), S. 369

Hansestadt. Residenz. Industriestandort. Beiträge der 7. Tagung des Arbeitskreises deutscher und polnischer Kunsthistoriker in Oldenburg, 27.–30. September 2000, hrsg. v. Beate Störtkuhl (Sabine Bock), S. 374

Klaus J. Bade, Europa in Bewegung. Migration vom spä-ten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Anja Wilhelmi), S. 381

Nationalitätenkonflikte im 20. Jahrhundert. Ursachen von inter-ethnischer Gewalt im Vergleich, hrsg. v. Phi-lipp Ther u. Holm Sundhaussen (Joachim von Puttka-mer), S. 384

Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, hrsg. v. Bruno Thoß u. Hans-Erich Volkmann (Joachim Tauber), S. 386

Holokausta izpētes problemās Latvijā / The Issue of the Holocaust research in Latvia, Red. v. Andris Caune, Ai-vars Stranga u. Marģers Vestermanis (Joachim Tauber), S. 389

Baltische Bibliographie. Schrifttum über Estland, Lett-land, Litauen 1998. Mit Nachträgen, hrsg. v. Herder-Institut Marburg in Verbindung mit der Baltischen Histo-rischen Kommission, zusammengest. v. Paul Kaegbein (Ralph Tuchtenhagen), S. 393

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