Peripherie: Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt 31 (2011), 1

Titel der Ausgabe 
Peripherie: Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt 31 (2011), 1
Weiterer Titel 
Entwicklungspolitik und Eigensinn

Erschienen
Münster (Westf.) 2011: Westfälisches Dampfboot
Erscheint 
4 Nummern in 3 Ausgaben
ISBN
978-3-89691-827-7
Anzahl Seiten
140 S.
Preis
Einzelheft 10,50 EUR, Doppelheft 21,00 EUR, Abo 30,10 EUR, Abo für Institutionen 55,20 EUR

 

Kontakt

Institution
Peripherie: Politik • Ökonomie • Kultur
Land
Deutschland
c/o
PERIPHERIE Redaktionsbüro c/o Michael Korbmacher Stephanweg 24 48155 Münster Telefon: +49-(0)251/38349643
Von
Korbmacher, Michael

Die Ausgabe 121 der "PERIPHERIE. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt" diskutiert unter dem Titel "Entwicklungspolitik und Eigensinn" die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gebern und lokalen Akteuren vor allem unter dem Aspekt der Teilnahme von AkteurInnen aus dem Süden an entwicklungspolitischen Institutionen sowie die Aneignung von entwicklungspolitischen Ressourcen und die Lokalisierung von Diskursen durch lokale Eliten. Dabei bringt sie das Eigensinnige dieser Aneignung zum Vorschein. Es schreiben:

Erhard Berner, Georgina Gomez & Peter Knorringa: „Ein bisschen weniger arm“: Die Logik der Subsistenzunternehmer

Anna Müssener: Begegnungen in der Entwicklungszusammenarbeit – Perspektiven sudanesischer GenderaktivistInnen

Arn Sauer & Karolin Heckemeyer: Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität in der internationalen Menschenrechts- und Entwicklungszusammenarbeit

Olaf Kaltmeier & Reinhart Kößler: PERIPHERIE-Stichwort: Moralische Ökonomie

Jens Kastner: Delegation und Erbauungswissenschaft. Zur Kritik der zapatismusnahen Forschung zu sozialen Bewegungen

Rezensionsartikel: Gerhard Hauck: Die Selbsterfindung Europas und die „orientalisch-afrikanische Despotie“

Editorial

Entwicklungspolitik und Eigensinn

Aus der Sicht neuerer Ansätze in der kritischen Entwicklungstheorie, besonders von postkolonialen und Post-Development-Ansätzen, tragen Diskurse und Praxen von „Entwicklung“ wesentlich zur Reproduktion von kolonialen und postkolonialen Machtverhältnissen bei. Neben der Reproduktion von Macht und Herrschaft geht es also um einen diskursiven Raum mit spezifischen Institutionen, Praktiken und Normen, in dem „Entwicklung“ ausgehandelt und aneignet wird. In diesem Kontext geht das vorliegende Heft der Frage nach, wie entwicklungspolitische Institutionen und Normen unter unterschiedlichen Aspekten und von unterschiedlichen Akteursgruppen angeeignet und lokalisiert werden. Während Aneignungsstudien häufig die Rekontextualisierung von technischen Neuerungen untersuchen, geht es hier eher darum, wie der von James Ferguson in The Anti-Politics Machine beschriebene „Entwicklungs-Apparat“ selbst angeeignet wird. Um sich die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) zunutze zu machen, müssen die lokal oder transnational agierenden Akteurinnen und Akteure den bestehenden Abläufen und Förderprogrammen folgen und sich auf Normen beziehen, die spezifischen Interessen geschuldet sind. Lokale und subversive Aneignungen von EZ eröffnen somit zwar Handlungsspielräume und können bestehende Machtverhältnisse unterminieren; sie stabilisieren diese jedoch zugleich und legitimieren damit den entwicklungspolitischen Apparat.

Daneben beziehen sich lokale Akteurinnen und Akteure, etwa soziale Bewegungen, auch in konkreten politischen Auseinandersetzungen auf „Entwicklung“. Durch translokale Netzwerke, Entwicklungsorganisationen und NGOs werden globale Konzepte und Normen verbreitet und in den jeweiligen Kontexten lokal angeeignet. Dabei verändern sich ihre Bedeutungen. So beziehen sich Frauenbewegungen in muslimischen Gesellschaften auf geschlechterpolitische Normen von Organisationen der EZ, zeigen dabei aber auch auf, wie sich diese Normen im lokalen Kontext beispielsweise mit religiösen Wertvorstellungen vereinbaren lassen. „Entwicklung“ wird hier zur Ressource in einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess. Auch wenn in diesem Prozess neue Machtfelder konstituiert werden, von denen bestimmte Gruppen ausgeschlossen bleiben, gilt es zu analysieren, inwieweit sich daraus auch Möglichkeiten für emanzipatorisches Handeln ergeben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach Eigensinn in der entwicklungspolitischen Praxis. Über die Problematik der Aneignung und Lokalisierung von Entwicklungspolitik hinaus geht in es diesem Heft darum, wie sich derartiger Eigensinn in den konkreten Praktiken innerhalb von EZ auf globaler und lokaler Ebene widerspiegelt. Wie etwa werden entwicklungspolitische Instrumente, etwa „Call for Proposals“ oder Kleingewerbeförderung, angeeignet und umgedeutet?

Zunächst behandeln Erhard Berner, Georgina Gomez und Peter Knorringa einen vielfach unbeachteten Aspekt des Eigensinns und der Eigentätigkeit armer Menschen: Gründung und Betrieb von Subsistenzunternehmen. Diese unterschieden sich, so argumentieren sie, dadurch von wachstumsorientierten Mikrounternehmen, dass sie nicht der Logik von Risiko und Profit folgten, sondern sich um die Vermeidung von Risiken bzw. um die Diversifizierung von Risiken bemühten. Ihr Ziel sei es, die ohnehin geringen Einkünfte auf eine möglichst breite Basis zu stellen. Diese Strategie sei die Ursache dafür, dass diese Unternehmen meist aus den Rastern aller Förderungsprogramme inklusive der Mikrokredite herausfielen. Daher müsse in Politik und Forschung ein Umdenken einsetzen, damit auch diese Aktivitäten in den Blick genommen und gezielt gefördert werden könnten. Dies impliziere nicht zuletzt den Abschied vom oft proklamierten Prinzip der Kostendeckung.

Die EZ folgt nach wie vor Normen, die Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit als natürlich und universell gültig voraussetzen. Nur sehr wenige entwicklungspolitische Projekte thematisieren Fragen von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung oder stellen Heteronormativität gar in Frage. Arn Sauer und Karolin Heckemeyer untersuchen daher, auf welchen – häufig beschwerlichen und verschlungenen – Wegen die Menschenrechte von Lesben, Schwulen, bi-, trans- und intersexuellen Personen (LSBTI) als legitime Anliegen in der internationalen EZ aufgenommen werden können. LSBTI-Menschenrechte sind zwar als „Yogyakarta-Prinzipien“ von den Vereinten Nationen in den Normenkatalog aufgenommen, aber längst nicht umgesetzt worden. Wenn Sexualität in der EZ eine Rolle spielt, dann vermittelt über Fragen von HIV/AIDS. Diese Schwerpunktsetzung führt jedoch eher zu einer Stigmatisierung der Zielgruppen als zur Anerkennung von vielfältigen Formen der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität. Das eigensinnige Potenzial von LSBTI-Aktivistinnen und -Aktivisten wird somit allzu leicht in die engen Kanäle von Hilfe oder Minderheitenrechten gelenkt.

Inzwischen ist Geschlechterpolitik zu einem festen Bestandteil im Diskurs globaler EZ geworden. Dem muss auch der sudanesische Staat Rechnung tragen, der sonst einer als westlich und damit „unislamisch“ konnotierten Geschlechteragenda eher kritisch gegenübersteht. Auch sudanesische NGOs akzeptieren dies als Bezugsrahmen von entwicklungspolitischer und humanitärer Zusammenarbeit. Indem sich Aktivistinnen und Aktivisten auf eine globale Agenda beziehen, sichern sie sich nicht nur Ressourcen, sondern schaffen auch Handlungsspielräume gegenüber staatlicher Einflussnahme und stellen eine Alternative zu muslimischen Frauenorganisationen dar. Durch die Nutzung entwicklungspolitischer Instrumente werden jedoch zugleich Dominanz- und Abhängigkeitsverhältnisse reproduziert und bestimmte Themen und Organisationsformen bevorzugt. Anna Müssener zeigt auf der Grundlage einer empirischen Forschung auf, wie sudanesische Genderaktivistinnen und -aktivisten sich in diesem Spannungsfeld positionieren, um sich entwicklungspolitische Instrumente anzueignen und diese lokalen Bedingungen anzupassen.

Außerhalb des Schwerpunktes beleuchtet Jens Kastner in kritischer Auseinandersetzung mit zapatismusnahen Forschungen über soziale Bewegungen die Dilemmata, die durch ein zentrales Mittel moderner Politik, nämlich die Delegationsbeziehungen, entstehen. Dabei befragt er, ausgehend von Überlegungen Pierre Bourdieus aus dem Jahr 1983 zu „Delegation und politischem Fetischismus“, vor allem die Entwürfe von John Holloway und Raúl Zibechi auf ihre Unzulänglichkeiten. Er zeigt, dass die Delegationsbeziehungen und die ihnen eigenen Fetischisierungen nicht durch die bloße Wertschätzung und Propagierung alternativer Lebensentwürfe aus der Welt zu schaffen sind. Daher spricht er sich dafür aus, die politischen Fallstricke von Delegation und Repräsentation nicht zu leugnen oder zu vertuschen, sondern offensiv zu benennen.

Gerhard Haucks Rezensionsartikel diskutiert zu guter Letzt die europäische Langzeit-Problematik der Despotie in ihren Ausformungen für den Blick auf Afrika. Ein umfangreicher Rezensionsteil mit Besprechungen zu anderen Aspekten des Heftschwerpunktes sowie zu weiteren Themen rundet diese Ausgabe ab.

Die hier eingenommene kritische Perspektive auf Diskurse und Praxen von „Entwicklung“ ist mit diesem ersten Heft unseres 31. Jahrgangs keineswegs erschöpft. Von besonderer Aktualität ist vor allem die Verknüpfung von EZ und Sicherheitspolitik sowie der Wahrnehmung und Neudefinition von Bedrohungen und Sicherheitsrisiken (z.B. Einwanderung), wie sie beispielsweise in der Stabilisierung von Regimen in EU-Nachbarländern durch die EZ deutlich werden. Wir werden dieses Thema in einem Doppelhelft (Nr. 122/123: „Im Namen der Sicherheit“) gründlicher behandeln. Darauf folgt im Herbst eine Einzelausgabe über Konflikte um Eigentums- und Nutzungsrechte auf Land (Nr. 124). Für den 32. Jahrgang planen wir derzeit Heftschwerpunkte über Recht und Entwicklung sowie eine kritische Auseinandersetzung mit dem Fair Trade und seinem Umfeld. Die Calls for Papers für diese Hefte finden sich wie immer auf unserer Homepage. Zu diesen und anderen Themen sind Beiträge gleichfalls wie immer sehr willkommen.

Für unsere weitgehend ehrenamtliche Arbeit sind wir auch weiterhin auf die Beiträge der Mitglieder der Wissenschaftlichen Vereinigung für Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik (WVEE) e.V., die die PERIPHERIE herausgibt, und auf Spenden angewiesen. Wir freuen uns daher über neue Vereinsmitglieder ebenso wie über einmalige Spenden. Um die Resonanz der so wichtigen Kritik aktueller Tendenzen in der internationalen Politik zu verbessern, sind wir auch für neue Abonnentinnen und Abonnenten sehr dankbar. Alle WVEE-Mitglieder und PERIPHERIE-Leserinnen und Leser sind daher herzlich eingeladen, unsere Zeitschrift noch bekannter zu machen.

Summaries

Erhard Berner, Georgina Gomez & Peter Knorringa: “A little less poor”: The logic of subsistence entrepreneurs. A large majority of small- and micro-entrepreneurs aim primarily for subsistence and security, and, consequently, follow a qualitatively different logic from that of growth-oriented entrepreneurs. By presenting the key characteristics of subsistence and growth-oriented enterprises, this article highlights their distinction. It, furthermore, brings together and illuminates what limited evidence exists concerning the transition between subsistence and growth-oriented enterprises. Although the majority of poorer entrepreneurs follow a subsistence rationality, we argue that most development interventions use an implicit growth-oriented logic and, therefore, fail to address the specific needs of small-scale entrepreneurs. We conclude by outlining a more pragmatic policy package, one which starts from the reality that instead of being means to riches, subsistence businesses serve primarily as buffers against slipping deeper into poverty.

Anna Müssener: Encounters in Development – Sudanese Gender-Activists’. Perspectives on Aid Relations. Gender has become an integral part of global development cooperation, but with contradictory effects. One the one hand, we have seen the rise of progressive gender discourses that should be encouraged, but, on the other hand, we have also witnessed the formation of new relationships of dominance and dependency. Making use of critical development theory’s contributions, especially feminist critiques, this article explores Sudanese Gender-Activists’ perspectives on development aid encounters and their self-positioning within them.

Arn Sauer & Karolin Heckemeyer: Full Rights – Empty Pockets? Sexual Orientation and Gender Identity in Human Rights and Development. This article is concerned with gender identity and sexual orientation and with the international human rights of people, such as lesbians, gays, bisexuals, transsexuals and transgendered people and intersexuals (LGBTI), who do not define themselves heteronormatively within these categories. Proceeding from the assumption that LGBTI activism has found its way into mainstream human rights organizations as well as into the human rights discourse of the United Nations, for example, through initiatives such as the Yogyakarta Principles, the article examines to what extent this rhetoric of inclusion has been put into practice in international development. The results, drawn from international research and research in Germany, show that LGBTI target groups are still shut out from the funding structures and financing mechanisms of development cooperation. Subsequently, the article suggests political (funding) strategies for the future that, if implemented, would contribute to the mobilization of resources and, thus, to a globally equitable mobilization of the LGBTI movement. It is argued that future strategies should support LGBTI organizations, particularly in the global South and East, to not only engage in their own countries, but also to help give their perspectives greater influence on international human rights discourses.

Jens Kastner: Delegation and sciences for one’’s edification: Towards a critique of ‘Zapatist-like’’ approaches to social movements. This text looks at how we understand and theorize social movements. It deals less with the practices of social movements themselves and more with the question of which structural conditions, on the one hand, and movement practices, on the other, should be taken into consideration when theoretically researching social movements. The article discusses this question in regards to the approaches of John Holloway and Raúl Zibechi and their research of the Zapatista uprising in Mexico. The text draws upon Pierre Bourdieu’’s article >Delegation and Political Fetishism< (1984/1992), in which he warns of a doubling of illusions made by scientific discourse and, occasionally, by social movements themselves. Bourdieu describes the relation of delegation as a central political matter. He further argues that it is not sufficient to deny this relation by merely placing greater value on alternative modes of organization and everyday life, for instance by means of social science or activist perspectives. But this is precisely what Holloway and Zibechi try to accomplish. In view of this, this article discusses and criticizes Holloway and Zibechi’’s approaches to social movements at the social science as well as the political level, and, in so doing, pleads for an enlightened dilemmatism that illuminates the political pitfalls of delegation and representation instead of denying or silencing them.

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Editorial, S. 3

Erhard Berner, Georgina Gomez & Peter Knorringa: „Ein bisschen weniger arm“: Die Logik der Subsistenzunternehmer, S. 7

Anna Müssener: Begegnungen in der Entwicklungszusammenarbeit – Perspektiven sudanesischer GenderaktivistInnen, S. 27

Arn Sauer & Karolin Heckemeyer: Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität in der internationalen Menschenrechts- und Entwicklungszusammenarbeit, S. 55

Olaf Kaltmeier & Reinhart Kößler: PERIPHERIE-Stichwort: Moralische Ökonomie, S. 73

Jens Kastner: Delegation und Erbauungswissenschaft. Zur Kritik der zapatismusnahen Forschung zu sozialen Bewegungen, S. 77

Rezensionsartikel: Gerhard Hauck: Die Selbsterfindung Europas und die „orientalisch-afrikanische Despotie“, S. 96

Rezensionen, S. 104

Eingegangene Bücher, S. 136

Summaries, S. 138

Zu den Autorinnen und Autoren, S. 140

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