WerkstattGeschichte (2011), 57

Titel der Ausgabe 
WerkstattGeschichte (2011), 57
Zeitschriftentitel 
Weiterer Titel 
soziale missionen

Erschienen
Essen 2011: Klartext Verlag
Erscheint 
erscheint dreimal im Jahr
ISBN
0933-5706, 0942-704X
Preis
Abo 37,00 Euro (10,25 Euro je Heft zzgl. Versandkosten, 14,00 € je Einzelheft)

 

Kontakt

Institution
WerkstattGeschichte
Land
Deutschland
c/o
transcript Verlag, Hermannstraße 26, 33602 Bielefeld, Tel. +49 521 393797 0, Fax: (0521) 39 37 97 - 34
Von
Hölzl, Richard

Liebe Leserinnen und Leser,

wir möchten Ihnen das neue Heft der WerkstattGeschichte empfehlen, dass Sie unter dem Titel „Soziale Missionen“ u.a. nach Beirut, Buenes Aires, Londen und in die französische Provinz führt.

Wir hoffen Ihnen damit die passend Lektüre für die Vorweihnachtszeit zu bieten und möchten Sie auch auf unser Online-Angebot hinweisen: Unter www.werkstattgeschichte.de stehen Ihnen die archivierten Texte bis Heft 51 zum freien Download zur Verfügung.

Mit den besten Wünschen hoffen wir auf anregende Lesestunden,
Die Redaktion

Editorial

soziale missionen

Anjezë Gonxhe Bojaxhiu wäre im vergangenen Jahr einhundert Jahre alt geworden. Die unter dem Namen Mutter Teresa (1910–1997) bekannte katholische Ordensgründerin ist mittlerweile seliggesprochen und wird von der katholischen Mission mit bewusster Referenz auf ihren universalen und medialen Charakter als »Ikone der Nächstenliebe« neu inszeniert.1 Zu ihren Lebzeiten war Mutter Teresa vor allem als Entwicklungshelferin und für ihre humanitäre Arbeit unter den Armen Indiens bekannt. Ihr Glaube an das Leiden Christi, dem sie durch absolute Opferbereitschaft nachfolgen wollte, war hingegen kaum Thema in der öffentlichen Darstellung ihrer Person und Arbeit. In den 1990er Jahren mehrte sich die Kritik an den Praktiken ihres Ordens, dem Gegner beispielsweise einen wenig effizienten Umgang mit Spendengeldern, mangelnde Hygiene in den sozialen Einrichtungen und fehlenden Einsatz moderner wissenschaftlicher Heilmethoden vorwarfen.2

Die Diskussion um die ethische Bewertung der Person Mutter Teresas ist Teil eines historischen Phänomens, nämlich der Globalisierung des sozialen und humanitären Feldes und der besonderen Rolle, die christliche Missionen in der Vernetzung und Organisation einer weltweiten Hilfs- und Rettungsbewegung spielten und spielen. Ähnlich wie die christlichen Kirchen im Europa des 19. Jahrhunderts sich zu Experten der Sozialen Frage entwickelten, etablierten sich ihre Missionarinnen und Missionare zu Experten des kulturellen Kontakts, der Wissensvermittlung und der humanitären Hilfe in den europäischen Kolonien in Afrika, Asien und Ozeanien sowie den unabhängigen Staaten Südamerikas. Sie bauten Institutionen für den Transfer sozialen Wissens und personale Netzwerke für den kulturellen Austausch auf, ebenso wie Krankenhäuser, Schulen und Kirchengemeinden. Sie gestalteten den Kontakt zwischen europäischen und nicht-europäischen Gesellschaften und strukturierten die neu entstehenden »Dritten Räume« (Homi Bhabha) auf ganz spezifische Weise mit. So lautet zumindest eine Hypothese, die dieses Themenheft anhand ausgewählter Fallbeispiele prüfen will.

Religiöse Akteurinnen und Akteure begriffen ihre Arbeit immer auch als Glaubenspraxis. Zugleich waren Missionen Teil einer versuchten Europäisierung von Gesellschaften in Afrika, Asien oder Lateinamerika. Die Mission wurde von Kolonisatoren oftmals als Chance gesehen, Gehorsam, Disziplin und Arbeitskraft der Kolonisierten verfügbar zu machen.3 Sich des Christentums zu bedienen, konnte für die Kolonisierten aber zugleich eine Chance zur Verbesserung der eigenen Lebensumstände bedeuten. Die Sprache der Evangelien konnte damit zur »claims making device«4 werden, einem Instrument, um Ansprüche zu stellen und zu argumentieren.

Auf Basis dieser Vorüberlegungen lassen sich einige Fragen stellen, die das Thema Soziale Missionen präzisieren helfen: Welche religiösen und politischen Ideologien wurden von den Missionen propagiert? Welche Selbsterzählungen produzierten die Akteure der Mission? Wie wandelten sich die sozialen Praktiken des ›Helfens‹? Welche Formen des Wissenstransfers lassen sich erkennen? Und welchen Einfluss hat(te) Mission darauf, wie nicht-europäische Gesellschaften wahrgenommen wurden? Welche Formen des kulturellen (Miss-)Verstehens produzierten sie und welche unterschiedlichen Bedeutungen trugen die sozialen Missionen je nach Akteurin oder Akteur?

Untersucht man die hier gestellten Fragen, gilt es sich allerdings von etablierten Forschungslinien zu verabschieden, von denen einige auf der Trennung von »religiös« und »säkular« beruhen. Missionarinnen und Missionare waren nicht einfach eine weitere Ausformung des Typus‘ des ›Zivilisierers‹, Mission lässt sich nicht auf den Aspekt der ›Zivilisierungsmission‹ reduzieren.5 Religiöse Ziele – Konversion von ›Heiden‹ oder ›Aufopferung‹ als Glaubenspraxis – waren von politischen und sozialen nicht zu trennen. Sie standen in einem Spannungsfeld zueinander und können nur in ihrer Relation untersucht werden. Deshalb ist nicht von einem kohärenten Modernisierungs- und Säkularisierungsprozess auszugehen, der schon seit dem 18. Jahrhundert nicht nur eine Ausdifferenzierung zwischen religiöser und sozialer Sphäre bewirkte, sondern sogar einen kontinuierlichen Bedeutungsverlust des Religiösen. Die Beiträge dieses Heftes ordnen sich in einen generellen Trend jüngerer geschichtswissenschaftlicher Forschungsarbeiten ein, die Wirkungen religiöser Denk- und Handlungsmuster bis ins 20. Jahrhundert hinein sichtbar machen.6

Missionsgeschichte ist seit längerem nicht mehr allein den Missionen und der Kirchengeschichte vorbehalten. Ab den 1970er Jahren war sie Teil einer sozial- und politikgeschichtlichen Forschung zum Kolonialismus und wurde als Aspekt eines umfassenden Kulturimperialismus begriffen.7 Dieser stellte demnach den Überbau einer ökonomischen und politischen Unterjochung vieler Gebiete durch die europäischen Kolonialmächte dar. Unter dem Einfluss kulturwissenschaftlicher Forschungsansätze wird seit den 1990er Jahren zunehmend die Rolle von Missionen für die Ausbildung kolonialer und metropolitaner Identitäten – und nicht zu vergessen ihrer geschlechterspezifischen Kodierung – betont.8 Neben dem cultural othering europäischer Akteure wird die Aneignung des Christentums außerhalb Europas nicht nur im Sinne einer bloßen Inkulturation, sondern als kreativer Prozess der Übersetzung und Ermächtigung seitens der Konvertiten hervorgehoben. Wichtige Arbeiten haben in jüngster Zeit die Bildung personaler und institutioneller Netzwerke wie auch den Wissenstransfer in den Fokus gerückt.9

Aufbauend auf diese Forschungslage widmet sich dieses Heft einem speziellen Feld missionarischer Arbeit und Expertise – dem sozialen.10 Damit sind nicht nur die Tätigkeiten in Bereichen wie Wohlfahrt, Bildung oder Gesundheit gemeint, sondern auch die Wahrnehmungen und Konzeptionen der Missionarinnen und Missionare – ihre spezifische Perspektive auf eine globale Soziale Frage. Typischer Weise wurde diese im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert als Zivilisierungs- und später Entwicklungsrückstand einzelner Gesellschaften oder Bevölkerungsschichten begriffen, der im Abgleich mit den vermeintlich am weitesten fortgeschrittenen westeuropäischen Industriegesellschaften identifiziert werden konnte. Für religiöse Akteure galt das Christentum dabei als integraler Bestandteil dieser vermeintlichen Superiorität des europäischen Modells.

Soziale Missionen verbinden nationales bzw. (neo-)europäisches mit christlichem Sendungsbewusstsein und Empathie über große räumliche Distanz11 zu einer global ausgerichteten, asymmetrisch und eurozentrisch formulierten »Kultur des Helfens«. Allerdings gilt es bei den früheren, europäischen Sozialen Missionen für die Misstöne, die unwillkürlichen Botschaften und die Brüche in den Erzählungen hellhörig zu sein. Die Selbstdarstellungen und Selbsterzählungen der Missionare stimmten sehr wahrscheinlich nicht mit der Wahrnehmung der zu Missionierenden und der Adressaten der sozialen Hilfsprogramme überein. Aber auch zwischen der narrativen Identität, der Selbsterzählung der Missionarinnen beziehungsweise Missionare und der Darstellung ihrer Tätigkeit in der Heimatöffentlichkeit besteht eine Differenz, in der sich die Übersetzungsleistung der missionarischen Akteure ebenso wie die Erwartungshaltung europäischer Rezipienten manifestiert.

Julia Hauser wendet sich im ersten Beitrag des Hefts der Erziehungsarbeit der Kaiserswerther Diakonissen in Beirut zu. Die europäischen Akteurinnen aus dem Umfeld des deutschen erweckten Protestantismus kamen infolge der sogenannten syrischen Massaker von 1860 in den Libanon. Hauser untersucht, inwiefern eine humanitäre Katastrophe dazu diente, ein in und für Deutschland entwickeltes missionarisches Konzept in einem nicht-europäischen Einsatzfeld zu praktizieren. Sie zeigt, wie sich dieses Konzept aufgrund seines inhärenten Eurozentrismus und lokaler Aushandlungsprozesse wandelte, um missionarisches Arbeiten zu ermöglichen, und inwiefern dieser Wandel der deutschen Öffentlichkeit zu vermitteln war. Die Kaiserswerther Diakonie verfolgte die Idee der Regeneration der Gesellschaft über die Familie. In den Niederlassungen im Libanon galt allerdings als Voraussetzung für den Erfolg paradoxerweise eine familiäre Dekontextualisierung von Kindern: Um sie in Waisenhäusern einer christlichen Lebensweise zuzuführen, mussten sie aus ihren Familien herausgenommen werden.

Soziale Missionen bezogen sich keineswegs nur auf eine asymmetrische, bipolare Beziehung zwischen europäischen und außereuropäischen Akteuren. Sie waren in ein komplexes Geflecht von Austauschprozessen eingebunden. So orientierten sich auch religiöse Akteure in den unabhängigen lateinamerikanischen Staaten an Europa, übernahmen Konzepte religiöser Sozialpolitik und fügten sie zu einem neuen, eigenen Verständnis gesellschaftlicher Modernität zusammen. Thomas Gerdes analysiert in seinem Beitrag zur Katholischen Aktion und zur Sozialen Frage in Buenos Aires um 1900 den Transfer und die Rezeption sozialkatholischen Wissens und zeigt detailliert, wie die in Italien und Deutschland entwickelten Ideen und Praktiken von Laien, Priestern und der Kirchenleitung an die sozio-ökonomischen und politischen Kontexte der argentinischen Klassengesellschaft und ihrer Konflikte angepasst wurden. Dabei zeigt sich, wie der Wissenstransfer durch nationale und transnationale Faktoren gleichzeitig strukturiert wurde – einseitig transnationale Erklärungsmuster können genauso hinterfragt werden wie einseitig nationale.

Alexandra Przyrembel untersucht am Beispiel Johann Hinrich Wicherns eine soziale Reformbewegung, die unter dem Namen Innere Mission zu den entscheidenden Stichwortgebern des Wohlfahrtswesens in Deutschland wurde. Wie mit einer Lupe lässt sich die mediale Inszenierung der Inneren Mission von der ›Sündhaftigkeit‹ der städtischen Unterschichten an den Reisebriefen Wicherns analysieren. Ebenso werden durch sie die Wege des Transfers von sozial-religiösen Wissensbeständen und Praxis zwischen England und Deutschland sichtbar. Die Kulturen des Helfens und die Politiken der Sozialen Frage wurden nicht nur auf außereuropäische Gesellschaften, sondern gleichzeitig auf einzelne Gruppen und Schichten der jeweils eigenen Gesellschaft bezogen. Die protestantische Innere Mission und ihr Gründer Wichern sind dafür ein Paradebeispiel.

Frédéric Graber analysiert im Mittelteil die Bewilligungsverfahren für Projekte der Staatsverwaltung für öffentliche Bauten in Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert. Er betrachtet Projekte dabei als einen stark institutionalisierten Prozess, in dem nicht der einzelne Entwickler, sondern die kollektiven und regelhaften Formen im Mittelpunkt stehen. Dadurch wird ein Rahmen entwickelt, mit dem Projekte zukünftig besser als sozio-historische Phänomene untersucht werden können.

Für unsere Filmkritik hat sich Brigitte Reinwald noch einmal die Dokumentation The Halfmoon Files aus dem Jahr 2007 angeschaut. Ausgangspunkt für Filmemacher Philip Scheffner waren nicht wie sonst üblich historische Film-, sondern vielmehr Tonaufnahmen: Stimmen gefangener indischer Kolonialsoldaten, aufgezeichnet während des Ersten Weltkriegs im sogenannten Halbmondlager Wünsdorf bei Berlin, ohne Übersetzung und ohne Hinweise auf das weitere Schicksal derer, die einst für preußische Wissenschaftler in den Phonographentrichter sprechen mussten. Wie, so fragt Brigitte Reinwald, lässt sich anhand dieser Geisterstimmen zum Schweigen Verurteilter eine andere Geschichte des Ersten Weltkriegs erzählen, und zu welchen Reflexionen lädt ein Film ein, wenn er weder eine Geschichte (nach)erzählen kann noch den BetrachterInnen die gewohnte Einheit von Bild und Ton bietet?

Eckhard Bolenz hat die Ausstellung »Napoleon und Europa. Traum und Trauma« in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn besucht. Bolenz sieht das Faszinierende der Ausstellung vor allem im gegenüberstellenden Arrangement von Kunst und Artefakten des (Kriegs-)Alltags. Zudem setzt er die Ausstellung in den Kontext einer ganzen Reihe deutscher wie französischer Ausstellungen über die Französische Revolution und die napoleonische Epoche.

Richard Hölzl und die Redaktion

Anmerkungen:
1 Missio. Internationales Katholisches Missionswerk e.V., Hommage an die »Ikone der Nächstenliebe«. Mutter Teresa: http://www.missio.de/de/aktionenundkampagnen/monat-der-weltmission/2010-3/mutterteresa/ausstellung.html; zuletzt eingesehen am 13.5.2011.
2 Vgl. zur Biografie Marianne Sammer, Mutter Teresa. Leben, Werk, Spiritualität, München 2006; Norbert Göttler, Mutter Teresa, Reinbek bei Hamburg 2010. Mutter Teresa wuchs in einer albanischen Kaufmannsfamilie in Skopje auf, die der katholischen Minderheit angehörte. Sie besuchte eine katholische Mädchenschule und gehörte schon als Kind einer jesuitennahen marianischen Kongregation an. 1928 trat sie in Irland als Bewerberin bei den Loreto-Schwestern von Mary Ward ein. Noch im selben Jahr reiste sie nach Indien und legte 1937 das »ewige Gelübde« ab. 1948 trat sie aus dem Orden aus und gründete die Gemeinschaft der »Missionarinnen der Nächstenliebe«. Heute unterhält ihr Orden über 700 Heime für Lepra- und HIV-Kranke, Obdachlose, Waisen und Sterbende.
3 Vgl. etwa Jean Comaroff, Missionaries and Mechanical Clocks: An Essay on Religion and History in South Africa, in: The Journal of Religion 71 (1991), S. 1–17, insb. S. 1f., 16f.
4 So Frederick Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge and History, Berkeley u.a. 2005, S. 146–147, allerdings mit Bezug auf die Gewerkschaftsbewegung des Spätkolonialismus in Afrika.
5 Als solche, wenn überhaupt, firmieren sie in der Globalgeschichte und auch in der Globalethnologie. Jürgen Osterhammel verweist zwar auf das Problem der Dekontextualisierung der Arbeit von Missionen. Für seine Konzeption von Zivilisierungsmissionen spielt dies allerdings keine Rolle. Vgl. Jürgen Osterhammel: »The Great Work of Uplifting Mankind«. Zivilisierungsmission und Moderne, in: Boris Barth/Jürgen Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 363–425, hier S. 410–411 und Arjun Appadurai, Fear of Small Numbers. An Essay on the Geography of Anger, 2006, S. 119.
6 Vgl. den Überblick von Rebekka Habermas, Piety, Power, and Powerlessness: Religion and Religious Groups in Germany 1870–1945, in: Helmut Walser Smith (Hg.), Oxford Handbook of Modern German History [im Erscheinen].
7 Vgl. etwa Horst Gründer, Christliche Mission und deutscher Imperialismus. Eine politische Geschichte ihrer Beziehungen während der deutschen Kolonialzeit 1884–1914 unter besonderer Berücksichtigung Afrikas und Chinas, Paderborn 1982.
8 Vgl. etwa Catherine Hall, Civilising Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination 1830–1867, Chicago 2002.
9 Vgl. den Forschungstand zu Missionen im 19. Jahrhundert und zum Begriff des ›religiösen Netzwerks‹ in: Rebekka Habermas, »Mission im 19. Jahrhundert – Globale Netze des Religiösen«, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 629–676 und zum Wissenstransfer dies., Wissenstransfer und Mission. Sklavenhändler, Missionare und Religionswissenschaftler, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010) 2, S. 257–284 sowie Patrick Harries, Butterflies and Barbarians: Swiss Missionaries and Systems of Knowledge in South-East Africa, Oxford/Harare/Athens, Ohio 2007.
10 Vgl. zur Ideengeschichte des sozialen Feldes in Deutschland das Handbuch von Helga Grebing (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, Wiesbaden 22005.
11 Vgl. Michael Ignatieff, Die Zivilisierung des Krieges. Ethnische Konflikte, Menschenrechte, Medien, Hamburg 2000, S. 7–9.

Inhaltsverzeichnis

Abstracts unter Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS

Editorial

Thema

Julia Hauser: Waisen gewinnen. Mission zwischen Programmatik und Praxis in der Erziehungsanstalt der Kaiserswerther Diakonissen in Beirut seit 1860

Thomas Gerdes: Die Katholische Aktion und die Soziale Frage in Argentinien 1905–1919. Transfer und Rezeption von katholischem Wissen

Alexandra Przyrembel: Der Missionar Johann Hinrich Wichern, die Sünde und das unabänderliche Elend der städtischen Unterschichten um 1850

Werkstatt

Frédéric Graber: Formen des Projekts in Frankreich. Bewilligungsverfahren der Verwaltung der Ponts et Chaussées im 18. und 19. Jahrhundert

Filmkritik

Brigitte Reinwald: Die Stimmen der Gefangenen des Kaisers in Philip Scheffners Dokumentation The Halfmoon Files

Expokritik

Eckhard Bolenz: Napoleon und Europa. Traum und Trauma

Rezensionen

Michael Wintle
The Image of Europe
(Stefan Müller)

Birgit Emich, Gabriela Signori (Hg.)
Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit
Jutta Nowosadtko, Matthias Rogg (Hg.)
»Mars und die Musen«
(Elke Anna Werner)

Devrim Karahasan
Métissage in New France and Canada 1508 to 1886
(Carol L. Higham)

Richard Hölzl
Umkämpfte Wälder
(Bernd-Stefan Grewe)

Mathias Mesenhöller
Ständische Modernisierung
(Joachim von Puttkamer)

Jane Humphries
Childhood and Child Labour
(Claudia Jarzebowski)

Juliane Brauer
Musik in Sachsenhausen
(Christiane Heß)

Abstracts

Autorinnen und Autoren

ABSTRACTS

Julia Hauser: Waisen gewinnen. Mission zwischen Programmatik und Praxis in der Erziehungsanstalt der Kaiserswerther Diakonissen in Beirut seit 1860:
Ausgehend vom bürgerlichen Familienmodell als Messlatte kulturellen Fortschritts hatten Innere und Äußere Mission die Wiederherstellung familiärer Strukturen zum Kernaspekt ihrer Tätigkeit erklärt. Gerade das Familienleben im Orient erschien westlichen Reisenden in besonderem Maße als Antithese des europäischen. Als die Kaiserswerther Diakonie ins Osmanische Reich expandierte, basierte, der Programmatik der Rettungshausbewegung folgend, auch die von Theodor Fliedner formulierte Agenda für die erzieherische Tätigkeit der Diakonissen auf ähnlichen Annahmen. Wiederherstellung jedoch schien, so die auf Argumentationen der Rettungshausbewegung basierende Ironie, nur durch soziale Dekontextualisierung der Kinder möglich. Doch bei der Umsetzung dieses Programms stießen die Diakonissen auf manifeste Probleme. Angesichts des Widerstandes der Familien mussten sie mehr Kontakt zwischen Kindern und Verwandten zulassen, angesichts weiterhin bestehender kultureller Praktiken v.a. im Bereich der Ehe ihre Erwartungen revidieren. Den Unterstützerkreisen daheim jedoch wurde dieser Wandel schon aus strategischen Überlegungen kaum vermittelt. So trug die Tätigkeit der Diakonissen nur wenig zur Wandlung des Bildes der orientalischen Familie im protestantischen Deutschland bei.

Julia Hauser: Gaining Orphans, or: Mission between Agenda and Agency. The Kaiserswerth Orphanage in Beirut since 1860:
Based on a middle-class notion of family life as a yardstick of progress, the restoration of familial structures took center stage in both home and foreign mission in the nineteenth century. Family life in the »Orient« in particular appeared to western travelers as antithetical to the one practised in Europe. When the Kaiserswerth deaconessate expanded to the Ottoman Empire, the activities of the deaconesses were framed by similar views. Ironically, as had first been argued by the protagonists of the Rettungshaus movement, restoration only seemed possible on condition that exisiting family ties were severed. Yet the implementation of this agenda confronted the deaconesses with manifest problems. Families’ opposition forced them to permit contact between children and their kin to a greater extent, while the persistence of cultural practices like marriage patterns forced them to revise their expectations. Supporters back home, however, were only sporadically informed of such adjustments. As a consequence, the deaconesses’ activities contributed but little to a transformation of the image of the »Oriental family« in Protestant Prussia and Germany.

Thomas Gerdes: Catholic Action and the social question in Argentina 1905–1919. Transfer and reception of Catholic knowledge:
The expansion of Argentina’s agro-export economy around 1900 was accompanied by socioeconomic hardships among the lower classes. By taking up the concept of ›Catholic action‹, this article examines the answers to this so-called ›social question‹ offered by contemporary Argentine Catholicism, particularly in the River Plate region. On the one hand, it can be shown that Europe served as an important frame of reference and source of legitimacy for local Social Catholicism. Analyzing the Catholic press of Buenos Aires enables us to retrace the extensive transatlantic transfer of Catholic knowledge between the ›Old‹ and the ›New World‹ in those years. On the other hand, this article distinguishes between two different currents within Social Catholicism in the River Plate area. The first one focused primarily on the (re-)Christianization of society. Its answer to the social question was therefore essentially a religious one. The second current was convinced that it would be indispensable for Social Catholicism to offer solutions to the material hardships as well. Its representatives modeled themselves mainly on German Catholicism with its decentralized and relatively independent forms of organization. The Argentine episcopacy, in contrast, intended to adapt the organizational model of Catholic Action, which Pius X had demanded in his 1905 encyclical »Il fermo proposito« for Italy, in order to strengthen its relatively weak position within local Catholicism.

Thomas Gerdes: Die Katholische Aktion und die Soziale Frage in Argentinien 1905–1919. Transfer und Rezeption von katholischem Wissen:
Die Expansion der argentinischen Agrarexportökonomie um 1900 ging einher mit einschneidenden ökonomischen und sozialen Krisen, von denen vor allem die unteren Gesellschaftsschichten betroffen waren. Ausgehend vom Konzept der ›katholischen Aktion‹ analysiert dieser Beitrag die zeitgenössischen katholischen Antworten auf die sogenannte ›Soziale Frage‹, speziell am Río de la Plata. Zum einen wird gezeigt, dass Europa als wichtiger Referenz- und Legitimationsraum für den dortigen Sozialkatholizismus diente. An Hand der konfessionellen Presse Buenos Aires’ werden hierzu die umfangreichen transatlantischen Wissenstransfers zwischen der ›Alten‹ und der ›Neuen Welt‹ in jenen Jahren nachvollzogen. Zum anderen unterscheidet dieser Beitrag zwei Strömungen innerhalb des sozialen Katholizismus am Río de la Plata. Die erste, die religiös-moralische, stellte dabei die (Re-)Christianisierung der Gesellschaft in den Vordergrund. Die Vertreter der sozial-praktischen Strömung zeigten sich hingegen überzeugt, dass es für den Sozialkatholizismus unabdingbar sei, auch Lösungen für die materiellen Auswirkungen der Sozialen Frage anzubieten. Hierzu orientierten sie sich vor allem an dem deutschen Katholizismus mit seinen relativ selbstständigen dezentralen Organisationsformen. Der argentinische Episkopat intendierte demgegenüber, das von Pius’ X. 1905 in der Enzyklika »Il fermo proposito« für Italien propagierte Organisationsmodell der Katholischen Aktion zu adaptieren und auf diese Weise seine relativ schwache Machtposition innerhalb des lokalen Katholizismus auszubauen.

Alexandra Przyrembel: Der Missionar Johann Hinrich Wichern, die Sünde und das unabänderliche Elend der städtischen Unterschichten um 1850:
Johann Hinrich Wichern war einer der zentralen Protagonisten der Vereine der Inneren Mission – einer Bewegung, die sich seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an die äußere Mission herausbildete. Sie hatte die Missionierung im Innern zum Ziel. Ausgehend von der Befürchtung, dass sich vor allem die unteren Schichten zunehmend vom Christentum lossagten, betrieben die Vereine der Inneren Mission Sozial- und Hilfsarbeit vor allem unter den städtischen Schichten. Johann Hinrich Wichern besuchte auf seinen social und religious tours, die ihn auch nach London führten, die Elendsquartiere der Metropole. In seiner privaten Korrespondenz wendet Wichern einerseits ›moderne‹ Strategien des Erwerbs von Wissen über das Elend der unteren Schichten an. Andererseits entwirft der Missionar Wichern entlang der Matrix von Reinheit und Unreinheit eine ›Sonderanthropologie‹ der städtischen Armen.

Alexandra Przyrembel: The Inner Mission, Sin and the Inevitable Destitution of the Urban Lower Classes around 1850:
Johann Hinrich Wichern was one of the most important representatives of the home mission movement in Germany. The aim of the ›Innere Mission‹ was to spread Christianity among those parts of the society who were perceived as not believing – the lower classes. On his religious and social tours through London, Wichern visited the slums of the metropolis. In his private correspondence the missionary developed ›modern‹ strategies of knowledge production. He created at the same time a special anthropology of the lower classes following the mechanisms of purity and impurity.

Frédéric Graber: Formen des Projekts in Frankreich. Bewilligungsverfahren der Verwaltung der Ponts et Chaussées im 18. und 19. Jahrhundert:
Projekte, vor allem technologische Projekte, sind selten als solche untersucht worden. Die historische Forschung konzentriert sich meistens auf die individuelle Aktivität eines Erfinders oder versteht Projekte als Geburtsprozesse bestimmter Objekte, und betont dann die technischen oder institutionellen Innovationen, die Singularität des technischen und sozialen Arrangements, die es möglich gemacht haben. Dieser Artikel schlägt einen anderen Weg für die historische Untersuchung von Projekten vor, der auf die kollektive und regelhafte Dimensionen von Projekten aufmerksam macht. Dabei geht es hauptsächlich um die Definition von technischen Anforderungen, Normen und Standards, um Regeln die die Konzeption, das Schreiben und Zeichnen, die Diskussion, die Entscheidung und die Umsetzung der Projekte in spezifischen Kontexten organisieren. Dieser Ansatz wird am Beispiel der Verfahren der Verwaltung der Ponts et Chaussées, der für öffentliche Bauten zuständigen Behörde, im Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts verdeutlicht. Analysiert werden hier besonders die Standardisierung der Dokumente, die Frage des geistigen Eigentums an Projekten und die Organisation der Arbeit innerhalb dieser Verwaltung.

Frédéric Graber: Forms of Projects. The Case of Public Works Projects in Eighteenth- and Nineteenth-Century France:
Projects, especially technological projects, are rarely studied as such. Historical scholarship usually insists on the activity of individual inventors or presents it as a process of birth of a given object, emphasizing techno-scientific and institutional innovations, the singularity of the technical and social arrangements that made it possible. This paper proposes an alternative approach to the study of projects in history, emphasizing the collective and regular dimensions of projects in specific contexts, involving the definition of requirements, norms and standards, of rules for conceiving, writing, drawing, discussing, deciding and implementing. This approach is illustrated by the case of public works projects in eighteenth and nineteenth century France, analysing various questions concerning the standardisation of project documents, the intellectual property on projects, and the organization of work in project-making. The paper shows that projects can be studied both as techno-scientific and as socio-political objects.

Brigitte Reinwald: Die Stimmen der Gefangenen des Kaisers in Philip Scheffners Dokumentation The Halfmoon Files:
Die Präsenz kolonialer Kombattanten aufseiten der Ententemächte während des Ersten Weltkrieges inspirierte deutsche Wissenschaftler zu verschiedenen ethnografischen Experimenten. So auch im Wünsdorfer Halbmondlager, wo zahlreiche Tonaufnahmen u.a. mit südasiatischen Internierten entstanden, die heute im Lautarchiv der Humboldt Universität zu Berlin aufbewahrt werden und das Kernstück der Halfmoon Files bilden. Philip Scheffner verwebt historische Ton-, Bild- und Filmmaterialien aus den Sonderlagern mit einer Reportage seines Rechercheverlaufes zu einer »Geistergeschichte«. Thematisch korrespondiert die Dokumentation mit neueren wissenschaftlichen Vorhaben, welche eine Rekontextualisierung des Ersten Weltkriegs aus der Perspektive der subordinierten kolonialen »Anderen« anstreben. Ihre narrative Struktur verweigert sich gleichwohl dem linearen (Nach-)Erzählen deren Lebens, was auf der Ebene von Dramaturgie und Erzählstrategie durch die kontrapunktische Montage von Bild und Ton sowie die inszenierte Vielstimmigkeit umgesetzt wird. Zuschauer/innen werden somit nicht nur für die Konstruiertheit der audiovisuellen Narration sensibilisiert, sondern vor allem auch dazu herausgefordert, Geschichte als vielfältige und unabgeschlossene Versionen vergangenen Geschehens und Handelns wahrzunehmen.

Brigitte Reinwald: The Voices of the Emperor’s Prisoners in Philip Scheffner’s Documentary Film The Halfmoon Files:
The presence of colonial service-men in the armies of the Entente during World War One induced German academics to conduct several ethnographic experiments. This was also the case for the Wünsdorf Halfmoon Camp where numerous sound recordings with among others South Asian detainees were made. Kept by the sound archive of Berlin’s Humboldt University, these Halfmoon Files form the core of Philip Scheffner’s documentary film. Here, Scheffner interweaves audio sources, visual and film material from the POW camp with a reportage of his own research to a »ghost story«. Thematically spoken, the Halfmoon Files correspond in many respects with recent research undertakings that aim at re-contextualising World War One from the perspective of the subordinate colonial »Other«. The dramaturgical and narrative strategies demonstrate however that the film maker does not dedicate himself to give linear life accounts, employing as he does the counterpoint montage of the sound and image tracks and stage-managing many voices. The viewers are thus not only sensitized to comprehend the constructedness of the audiovisual narration, but also invited to conceive of history as diverse and indefinite versions of past events and agency.

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