Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), 1–2

Titel der Ausgabe 
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), 1–2
Weiterer Titel 
Internationale Schulbuchforschung

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monatlich

 

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Institution
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht
Land
Deutschland
c/o
Prof. Dr. Michael Sauer Universität Göttingen Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte Didaktik der Geschichte Waldweg 26 37073 Göttingen Tel. 0551/39-13388 Fax 0551/39-13385
Von
Sauer, Michael

Editorial von Michael Sauer

Drei unterschiedliche Ansätze werden bei der Schulbuchforschung üblicher Weise unterschieden. Die historische Schulbuchforschung betrachtet das Schulbuch als Quelle für Geschichtsbilder früherer Zeiten und mit diesen verbundene Vermittlungsziele. Wolfgang Jacobmeyers Formel von den Schulbüchern als „nationale Autobiographien“ ist dafür mittlerweile zum geflügelten Wort geworden. Die Überzeugung, dass Schulbücher als nationale Narrative, als spezifische Geschichts- und damit Identitätskonstruktionen gelesen und kritisch betrachtet werden können, liegt aber genauso auch dem Ansatz der internationalen Schulbuchforschung zugrunde. Dabei ging es hierzulande nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst um einen Ausgleich zwischen den (ehemaligen) Feindstaaten Deutschland und Frankreich, später dann auch Polen: Neuralgische Punkte der wechselseitigen Beziehungsgeschichte sollten miteinander besprochen, Feindbilder und Vorurteile nach Möglichkeit entschärft werden. Die didaktische Schulbuchforschung schließlich analysiert das Schulbuch als Lehr- und Lernmedium. Erstaunlicherweise ist dieser Ansatz in der Forschung am seltensten vertreten. Zudem beschränken sich vorliegende Untersuchungen meist auf eine Produktanalyse; die Untersuchung von schulbezogenen Rezeptionsprozessen dürfte wohl im Moment das größte Desiderat der Schulbuchforschung darstellen.

Das sich auch aus den beiden ersten, gewissermaßen klassischen Ansätzen der Schulbuchforschung neue Funken schlagen lassen, wenn innovative Ansätze genutzt werden, belegen die Themenbeiträge des vorliegenden Hefts. Zu Beginn bestimmt Simone Lässig prägnant die konzeptionellen und forschungsmethodologischen Koordinaten der Studien, die allesamt aus Forschungskontexten des Braunschweiger Georg-Eckert-Instituts stammen und sich schwerpunktmäßig mit Ostmitteleuropa beschäftigen. Alle Arbeiten untersuchen die Konstruktion von Grenzen, Räumen und Raumbezügen, die sich in Schulbüchern vorfinden lassen. In zwei Fällen geschieht dies in einer zwischen Polen und Deutschland vergleichenden Perspektive (Lucas Frederik Garske, Stephanie Zloch/Izabela Lewandowska). Passend zum raumbezogenen Ansatz nimmt Garske bei seiner Untersuchung insbesondere auch kartographische Darstellungen in den Blick; er verwendet dabei das noch wenig praktizierte Verfahren der Metakartierung. Marcin Wiatr befasst sich zwar ausschließlich mit polnischen Schulbüchern, dies aber am Beispiel einer Region (Oberschlesien), deren Darstellung ein besonderes Potenzial für nationale Vereindeutigungen oder umgekehrt für multiethnische Differenzierungen bietet. Besonders breit angelegt ist der methodische Ansatz von Barbara Christophe. Sie verwendet ein dreifach vergleichendes Untersuchungsdesign: Analysiert werden Schulbücher aus zwei Ländern (Polen und der Türkei) und aus zwei unterschiedlichen Schulbuchgenerationen (aktuell und kurz nach 1989 erschienene) im Hinblick darauf, wie das Verhältnis der eigenen Nation zu den Faktoren Religion und Europa dargestellt wird. Alle Beiträge befassen sich nicht nur mit der Darstellung neuerer Geschichte, sondern gehen zeitlich zurück bis mindestens auf die Präsentation mittelalterlicher Geschichte, um so auch in früheren Zeiten verankerte nationale Konstruktionen dingfest machen zu können.

Insgesamt zeigt sich, dass solche raumbezogenen, transnational angelegten Betrachtungsweisen in besonderer Weise dazu geeignet sind, bei der Analyse von Schulbüchern spezifische, eben raumgestützte Identitätskonstruktionen, -zuschreibungen, -legitimationen und -angebote zum Vorschein zu bringen. Diese sind nicht statisch, sondern unterliegen Wandlungs-, Relativierungs- und Differenzierungsprozessen. So erhält ein herkömmlicher Forschungsansatz zusätzliche historische wie kategoriale Tiefenschärfe.

Inhaltsverzeichnis

INHALT DER GWU 1–2/2013

ABSTRACTS (S. 2)

IN EIGENER SACHE (S. 4)

EDITORIAL (S. 5)

BEITRÄGE

Simone Lässig
Räume und Grenzen. Außenperspektiven und Innenansichten durch die Linse des Schulbuchs (S. 6)

Lucas Frederik Garske
Geschichte als / Raum / als Geschichte. Dekonstruktion symbolischer Grenzziehungen als Methode des historischen Lernens am Beispiel polnischer und deutscher Geschichtsschulbücher (S. 13)

Stephanie Zloch/Izabela Lewandowska
Grenzüberschreitungen im Schulbuch (S. 30)

Marcin Wiatr
Grenzräume neu vermessen. Multiethnische Raum-Perspektiven in polnischen Schulbüchern (S. 46)

Barbara Christophe
Religiös und doch modern? Nation und Europa in polnischen und türkischen Geschichtsschulbüchern (S. 61)

Christiane Eisenberg
Die Olympischen Spiele der Neuzeit – Wiederaufnahme der antiken Tradition? (S. 80)

Alexandra Przyrembel
Haben Tiere eine Geschichte? Europäische Zivilisierungsmissionen zum Schutze des Tiers im 19. Jahrhundert (S. 90)

INFORMATIONEN NEUE MEDIEN

Alessandra Sorbello Staub
Netzfibel zur Schul- und Bildungsgeschichte (S. 104)

LITERATURBERICHT

Christian Jansen
Deutsche Geschichte 1806 – 1870 im europäischen Kontext, Teil I (S. 107)

NACHRICHTEN (S. 125)

AUTORINNEN UND AUTOREN (S. 128)

ABSTRACTS DER GWU 1–2/2013

Simone Lässig
Räume und Grenzen. Außenperspektiven und Innenansichten durch die Linse des Schulbuchs
GWU 64, 2013, H. 1/2, S. 6 – 12

Räume, Raumbilder und symbolische Grenzziehungen werden in hohem Maße kommunikativ hergestellt und medial vermittelt. Insofern kommt dem Schulbuch als dem Leitmedium des Geschichtsunterrichts besondere Relevanz zu, wenn es um die räumliche Dimension historischen Lernens geht. Der Beitrag wirft die Frage auf, wie Räume und Grenzen im Schulbuch reflektiert, konstituiert, übersetzt und gedeutet werden. Er führt in neue Untersuchungen zu Räumen und Grenzen in Schulbüchern verschiedener Länder und Epochen ein und benennt Problemfelder, die – wie die Übersetzung von Raumkonzepten durch Lehrende und Lernende im Unterricht – in der Forschung noch (zu) wenig Aufmerksamkeit gefunden haben.

Lucas Frederik Garske
Geschichte als | Raum | als Geschichte. Dekonstruktion symbolischer Grenzziehungen als Methode des historischen Lernens am Beispiel polnischer und deutscher Geschichtsschulbücher
GWU 64, 2013, H. 1/2, S. 13 – 29

Jede Geschichte entsteht in einem begrenzten Raum, in dem nur bestimmte Dinge gesagt und andere ausgelassen werden. Entsprechend sind historische Erzählungen von symbolischen Grenzziehungen durchsetzt, die erst im Lichte alternativer Erzählungen sichtbar werden. Der vorliegende Text bespricht am Beispiel von Narrationen des Mittelalters in polnischen und deutschen Geschichtsschulbüchern Möglichkeiten der Dekonstruktion symbolischer Grenzziehungen und unterstreicht diese als integralen Bestandteil des historischen Lernens.

Stephanie Zloch/Isabela Lewandowska
Grenzüberschreitungen im Schulbuch
GWU 64, 2013, H. 1/2, S. 30 – 45

Grenzen und Grenzüberschreitungen wurden jüngst in der Geschichtswissenschaft häufiger thematisiert, da sie einen wichtigen Ansatzpunkt bieten, die langjährige Dominanz nationalstaatlicher Betrachtungsweisen zu erkennen und aufzubrechen. In einer vergleichenden qualitativen Analyse deutscher und polnischer Schulbücher von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart diskutiert der vorliegende Aufsatz drei unterschiedliche Formen von Grenzüberschreitungen: die mittelalterliche Siedlungsbewegung in Mittel- und Osteuropa, die Biographie des humanistischen Gelehrten Nikolaus Kopernikus und die Zwangsmigrationen am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Marcin Wiatr
Grenzräume neu vermessen. Multiethnische Raum-Perspektiven in polnischen Schulbüchern
GWU 64, 2013, H. 1/2, S. 46 – 60

Der Beitrag bringt die „multiethnische Raum-Perspektive“ mit dem Begriff Region in Verbindung und reflektiert diese als Möglichkeit, die Grenzen nationaler Geschichtsschreibung in Schulbüchern zu überschreiten und Multiethnizität als „Horizonterweiterung“ zu denken. Oberschlesien fungiert hier exemplarisch als eine Region, die für polnische Bildungspolitik eine Herausforderung, aber zugleich eine Chance darstellt, auf Geschichtsbücher und didaktische Konzepte zu setzen, die auf ein offenes Geschichtsbild, Kontroversität und Multiperspektivität abzielen.

Barbara Christophe
Religiös und doch modern? Nation und Europa in polnischen und türkischen Geschichtsbüchern
GWU 64, 2013, H. 1/2, S. 61 – 79

Der Artikel analysiert in doppelt vergleichender Perspektive, wie zwei Generationen von türkischen und polnischen Geschichtsschulbüchern das Verhältnis der eigenen Nation zu Religion und zu Europa definieren. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass sich zwischen 1990 und heute in beiden Länder eine deutliche Aufwertung des Faktors Religion bei der Gestaltung nationaler Selbstbilder beobachten lässt. Religion scheint in beiden Fällen zudem zur Überwindung von Tendenzen der Selbstperipherisierung im Verhältnis zu einem traditionell als überlegen wahrgenommenen (West) Europa beizutragen und die kritische Reflexion der Schattenseiten einer europäischen Moderne zu fördern.

Christiane Eisenberg
Die Olympischen Spiele der Neuzeit – Wiederaufnahme der antiken Tradition?
GWU 64, 2013, H. 1/2, S. 80 – 89

Der Beitrag analysiert die olympische Initiative des Baron de Coubertin Ende des 19. Jahrhunderts und zeigt, dass sie keineswegs durch das antike Vorbild inspiriert war. Seine Beweggründe sind vielmehr in politischen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen seiner Zeit zu suchen, die er als Problem wahrnahm. Coubertins Olympische Spiele lassen sich vor diesem Hintergrund mit einem Begriff des britischen Historikers Eric Hobsbawm als „Invention of Tradition“ beschreiben. Ein Vergleich der antiken und der Neuzeitspiele illustriert diese Interpretation. Vergleichskriterien sind: Organisationsrahmen, soziale Merkmale der Teilnehmer, der Kanon der Wettkampfdisziplinen, Strukturelemente des Wettkampfes. In dem Beitrag wird das Argument entwickelt, dass Coubertins Projekt gerade deshalb erfolgreich war, weil er sich um das antike Modell nicht weiter scherte und statt dessen die kulturellen Erwartungen des ‚Zeitgeists‘ bediente. Die meisten olympischen Symbole und Zeremonien ‚erfand‘ er nach dem Ersten Weltkrieg, als die Weiterführung der Spiele in Frage stand. Mit dem Schlüsselbegriff dieser Kampagne, „Menschheit“, gelang Coubertin schließlich eine zukunftweisende Überhöhung der Neuzeitspiele und des antiken Modells gleichermaßen.

Alexandra Przyrembel
Haben Tiere eine Geschichte? Europäische Zivilisierungsmissionen zum Schutze des Tiers im 19. Jahrhundert
GWU 64, 2013, H. 1/2, S. 90 – 103

Bereits Karl Marx und Friedrich Engels polemisierten in ihrem Kommunistischen Manifest (1848) gegen die Tierschutzbewegung, die sich in jenen Jahren über nationale Grenzen hinweg in Europa formiert hatte. Der Artikel untersucht die Motive und die medialen Inszenierungsformen dieser neuen Bewegung zum Schutze des Tiers. International vernetzt und mit ihren vielen Zeitschriften und Pamphleten in medialer Hinsicht durchaus wohl informiert, verbreiteten die Tierschützer in Tausenden von Artikeln ihre Forderung nach einem ‚zivilisierten‘ Umgang mit dem Tier. ‚Zivilisierung‘ meinte mit der Forderung des Mitleids mit der geschundenen Kreatur die Propagierung eines bisher unbekannten Gefühls, das paradoxerweise auch zum Synonym für das Konzept der ‚Humanität‘ wurde.

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