Berliner Debatte Initial 23 (2012), 4

Titel der Ausgabe 
Berliner Debatte Initial 23 (2012), 4
Weiterer Titel 
Literatur und Utopie

Erschienen
Potsdam 2012: WeltTrends
Erscheint 
4 Ausgaben jährlich
ISBN
9783941880481
Anzahl Seiten
162 S.
Preis
€ 15,00

 

Kontakt

Institution
Berliner Debatte Initial. Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal
Land
Deutschland
c/o
Berliner Debatte Initial, PF 580254, 10412 Berlin, Tel.: (+49-331) 977 4540, Fax: (+49-331) 977 4696, E-Mail: redaktion@berlinerdebatte.de; Redaktion: Ulrich Busch, Erhard Crome, Wolf-Dietrich Junghanns, Raj Kollmorgen, Thomas Möbius, Thomas Müller (verantwortlicher Redakteur), Gregor Ritschel, Robert Stock, Matthias Weinhold, Johanna Wischner. Redaktionelle Mitarbeit: Adrian Klein, Benjamin Sonntag.
Von
Müller, Thomas

Titel, in denen zwei Begriffe durch ein blasses „und“ zusammengehalten werden, erwecken leicht den Eindruck einer Verlegenheitslösung. Denn die Konjunktion lässt die Art der fraglichen Verbindung denkbar unbestimmt. Mutiger wäre in diesem Fall vielleicht „Literatur als Utopie“ gewesen. Wenn wir Ernst Bloch folgen, dem Philosophen des Expressionismus und dem Sachwalter geschichtlicher Hoffnungspotentiale, dann ist eine Literatur und Kunst, die ihren Namen verdient, immer mit der Utopie dialektisch verbunden. Die Utopie, jener berühmte Nicht-Ort, von dem wir nicht erst durch die Utopia des Thomas Morus etwas wissen, meint seit mehr als 2000 Jahren ein Gegenprojekt gegen jede Form der historischen Salviertheit, in der Faktisches als vernünftig ausgegeben wird, wobei der Streitpunkt nicht nur der ist, ob es sich dabei um ein vertretbares Projekt handelt, sondern auch, ob sich mit ihm ein Fluch oder ein Segen verbindet. Die Verteidiger verweisen stets darauf, dass es neuer, ausgreifender Utopien und Visionen bedarf, um uns im Hier und Heute zu orientieren, die Kritiker hingegen darauf, dass diese Utopien und Visionen im besten Falle sinnlos sind und im schlimmsten gefährlich.

Sicher, nach dem Verklappen des Realsozialismus ins Meer der Geschichte schien es für einen kurzen Moment so, dass nun auch all jene Utopie-Projekte um ihren Kredit gebracht wären, die dem „Zeitalter der Extreme“ diagnostisch auf die Sprünge kommen wollten – und die es dabei doch immer und immer wieder gnadenlos verfehlten. Aber, Ironie der Geschichte, die Utopie scheint immun gegen derartige „Wiederlegungen“ durch den Untergang von Staatsschiffen – und wie sollte man auch einen Nicht-Ort seiner Nichtigkeit überführen, wenn dieser doch von sich selbst sagt, ein Nicht-Ort zu sein?

Die Utopie jedenfalls hat den Untergang des Sozialismus überstanden, obgleich sich nicht wenige der utopischen Projekte seit Platon auf diesen bezogen haben sollen. Natürlich nicht auf den realen Sozialismus, dies wäre wohl niemandem in den Sinn gekommen, wenn wir einmal von seinen Parteisekretären absehen, wohl aber auf einen Sozialismus, der durch die Aufhebung aller Entfremdungen und Abständigkeiten im Sozialen charakterisiert ist. Und ist es nicht so, wie Johann Sebastian Bach in einem Vers sagte: „Bei der Welt ist gar kein Rat“, weshalb wir dann den Rat an anderer Stelle zu suchen haben, etwa in der Literatur und Kunst?

Von dieser wissen wir, dass sie heiter sei, im Unterschied zum Leben, jedenfalls sagt dies Schiller am Ende eines Theaterprologs, der sich dafür entschuldigt, dass das betreffende Stück „das düstre Bild der Wahrheit“ vermittels Vers und Reim „in das heitre Reich der Kunst“ hinüberspiele. Schiller war zwar kein utopischer Denker oder Denker der Utopie, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie später dieser Begriff Verwendung findet. Der Kunst attestierte jedoch auch er die Fähigkeit zur großen Synthese, die alles Abständige versöhnt und alle Gegensätze im Empirischen am Ende aufzuheben in der Lage sei.

Und heute? Was sind die Gehalte heutiger Utopie-Konzepte? Was sind ihre Chancen auf Verwirklichung im geschichtlichen Hier und Jetzt? Was ist der Preis, den ein utopisches Denken von uns und denen fordert, die uns folgen? Kann es sein, dass die Kosten eventuell erheblich höher ausfallen als die versprochenen Verheißungen? Der Schwerpunkt sucht diese Fragen zu beantworten – im Bewusstsein, den Streit pro und contra Utopie nicht beendet zu haben, was möglicherweise sogar eine Unmöglichkeit darstellt. Vielleicht hat er aber auch den Zusammenhang von Literatur und Utopie dahingehend konkretisiert, dass wir nun etwas besser über diesen Auskunft geben können – und dann wäre der Titel auch keine Verlegenheitslösung mehr.

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS

Themenschwerpunkt „Literatur und Utopie“. Zusammengestellt von Udo Tietz

Volker Caysa: Literatur und Utopie. Versuch einer Neuthematisierung (S. 3–4)

Henk de Berg: Warum wir keine Utopien brauchen (S. 5–17)

Frank M. Schuster: Der schöne Schein der Warenwelt und die Utopie des gerechten Krieges (S. 18–33)

Karolina Sidowska: Möglichkeit einer Utopie? Die literarischen Visionen Michel Houellebecqs (S. 34–40)

Steffen Dietzsch, Udo Tietz: Das Lachen und das Nichts (S. 41–49)

WEITERE BEITRÄGE

Veit Friemert: Der Arabische Frühling der sunnitischen Heiligen Allianz (S. 50–66)

Reinhard Mehring: Utopiker der Intellektuellenherrschaft: Karl Mannheim und Carl Schmitt (S. 67–81)

Peer Pasternack: Halle-New Town oder Halle-Novgorod? (S. 82–91)

Unsuk Han: Globalisierung aus asiatischer Sicht (S. 92–98)

Elisabeth Meyer-Renschhausen: Wozu noch promovieren? (S. 99–113)

Meinhard Creydt: Nachkapitalistische Gesellschaft und Probleme der Moderne (S. 114–125)

Antonia May: Eine Partei sucht ihre Wähler – Schatzsuche in politischen Fahrwassern (S. 126–140)

Christian Rademacher, Dennis Eversberg: „Von Krise zu Krise?“. Bericht von der Abschlusskonferenz des SFB „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ (S. 141–147)

BESPRECHUNGEN UND REZENSIONEN (S. 148–159)

Whitehead, Alfred North: Die Ziele von Erziehung und Bildung und andere Essays. Rezensiert von Christoph Sebastian Widdau

Christina von Braun: Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte. Rezensiert von Ulrich Busch

Wladislaw Hedeler: „Schwarzes Eis“ contra „schwarze Legenden“

Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ (Hg.): Die EU in der Krise. Zwischen autoritärem Eta-tismus und europäischem Frühling. Rezensiert von Oliver Römer

Weitere Hefte ⇓