soziologiemagazin Sonderheft 2 (2012), 2

Titel der Ausgabe 
soziologiemagazin Sonderheft 2 (2012), 2
Zeitschriftentitel 
Weiterer Titel 
Komplexe neue Welt

Erschienen
Opladen u.a. 2012: Barbara Budrich Verlag
Erscheint 
halbjährlich April/Oktober
Anzahl Seiten
S. 156
Preis
€ 3,00

 

Kontakt

Institution
soziologiemagazin
Land
Deutschland
c/o
Benjamin Köhler <benjamin.koehler@soziologiemagazin.de> <redaktion@soziologiemagazin.de> <vorstand@soziologiemagazin.de>
Von
Köhler, Benjamin

Unter diesem Motto fand im Oktober 2011 der 3. Studentische Soziologiekongress an der Technischen Universität Berlin statt. Ein Kongress von Studierenden für Studierende, der neben wissenschaftlich-etablierten Tagungen und Kongressen eine bestehende Lücke im nachwuchswissenschaftlichen Austausch schließen sollte. Nach dem Debüt in Halle/Saale im Jahr 2007 und dem Folgekongress an der LMU München 2009 gelang der dritten Auflage 2011 in Berlin eine deutliche Steigerung gemessen an Teilnehmenden und Beiträgen. Die Entwicklung deutet auf eine kontinuierliche Etablierung des Formats hin.

Allein die Zahlen sprechen für sich. Der Kongress zog über drei Tage hinweg mehr als 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer von nah und fern an. Inhaltlich bot sich eine unübersehbare Fülle verschiedenster Beiträgen aus der Soziologie und ihren Nachbardisziplinen. So wurden in insgesamt 16 Panels verteilt 58 Vorträge gehalten und diskutiert. Neben dem klassischen Panel-Format gab es drei Workshops, zwei Podiumsdiskussionen – eine zum Studium zwischen Autonomieversprechen und Fremdbestimmung sowie zum Thema Internet und Gesellschaft – und eine Fokusgruppendiskussion zur „komplexen neuen digitalen Welt“. Zudem beschäftigte sich ein Forumtheater mit dem Thema Rassismus an Universitäten und in einem ausgedehnten Open Space gab es Raum für spontane Inputs. Ein umfangreicher Basar studentischer Initiativen und Magazine trug zur Vernetzung bei und die Mitmach-Küche unterstrich den selbstorganisierten, ehrenamtlichen Charakter des gesamten Kongresses.

Mit der im Kongresstitel ad hoc formulierten Zeitdiagnose „KOMPLEXE NEUE WELT“ wollten wir als Organisator_innen das Thema so wenig wie möglich einschränken, um möglichst vielen Studierenden, die an eigenen wissenschaftlichen Projekten arbeiten, ein Podium zu bieten und vielfältige Perspektiven zuzulassen.

Im Resultat bot sich damit ein sehr bunter Blumenstrauß verschiedenster Themen, die ein breites Interessenfeld sozialwissenschaftlich arbeitender Studierender widerspiegeln. Dies ist natürlich auch vor dem Hintergrund der fortgeschrittenen Ausdifferenzierung der Sozialwissenschaften selbst zu betrachten. Dennoch zeigen die Kongressbeiträge, dass besonders lebensnahe Themen von Studierenden bevorzugt werden. Die professionelle, etablierte Soziologie bietet hierbei den theoretisch-methodischen Rahmen und liefert somit das Werkzeug, um eigene Themen- und Interessenfelder besser verstehen und bearbeiten zu können. Die Beiträge des Kongresses bestanden überwiegend aus eigenständigen Arbeiten von Studierenden, denen sich bisher nur wenig Gelegenheit zum wissenschaftlichen Austausch bot. Der gesamte Kongress und viele Beiträge wurden von diesem starken Bedürfnis nach Diskussion und Feedback geprägt. Gleichzeitig ist allerdings auch ein deutliches Interesse an einer frühzeitigen und eigenständigen Publikation erkennbar, um sich möglichst gute Voraussetzungen für eine angestrebte wissenschaftliche Karriere zu schaffen. Der Studentische Soziologiekongress hat unserer Ansicht nach die (Nachwuchs-)Wissenschaft belebt. Das umfangreiche, selbstorganisierte Rahmenprogramm schuf eine lebendige Atmosphäre zum Austausch und regte zum Mitmachen an. Innerhalb dieses Rahmens begegneten sich Referierende und Teilnehmende auf Augenhöhe. Für viele war es der erste wissenschaftliche Kongress und bot somit vielen Studierenden die einmalige Gelegenheit, sich mit Themen von Kommiliton_innen anderer Universitäten auseinanderzusetzen und zu sehen, woran und wie sie arbeiten.

Angesichts der Themenvielfalt kann die Feststellung, nach der die heutige Soziologie sehr breit aufgestellt ist, auch auf studentischer Ebene nur bestätigt werden. Dennoch möchten wir rückblickend auf drei Schwerpunkte hinweisen, die unserer Auffassung nach besonders viele bzw. besonders hochwertige Beiträge enthielten haben. Hierzu zählten insbesondere die Panels „Geschlecht und Sexualität“ und „Wissen, Gedächtnis, Erfahrung“. Dort wurde mit großem Publikumsinteresse eine intensive und theoretisch hochwertige Debatte geführt. Die dort besonders konzentrierte Behandlung diskurstheoretischer und diskursanalytischer Ansätze setzte sich aber auch in anderen Panels fort. Die Auswahl der Artikel in diesem Sonderheft spiegelt das wider. Weiterhin möchten wir auf die vielfältige Auseinandersetzung mit dem Thema Internet und Gesellschaft hinweisen, welches in mehreren Panels, einem Workshop sowie in Podiums- bzw. Fokusgruppendiskussionen diskutiert wurde. Zusätzlich wurde der weite Themenbereich Migrationssoziologie beispielsweise in den Panels zu „Stadt und Raum“ und vor allem „Ausgrenzungsprozesse in Europa“ intensiv behandelt.

Unser im Call for Papers und im Titel KOMPLEXE NEUE WELT geäußerter Anspruch, mit dem Kongress eine Art Zeitdiagnose abbilden zu können, war sehr hoch und konnte nicht in Gänze eingelöst werden. Allerdings wurden wir mit einer beeindruckenden Themenvielfalt und vielen hochwertigen Beiträgen belohnt! Dieses Heft ist nun eine Art Krönung dessen, was wir auf dem Kongress erlebt haben.

Nach Abschluss der drei Kongresstage wollen wir nun die Beiträge nachhaltig greifbar machen und diese aus ihrer raum-zeitlichen Verortung herausheben. Neben Audio- und Videomitschnitten der einzelnen Panels, die auf der Kongress-Website (www.soziologiekongress.de) einsehbar sind, entstand die Idee, den Beitragenden eine eigenständige Publikation ihrer Arbeiten in Zusammenarbeit mit dem Studentischen Soziologiemagazin zu ermöglichen. Die für dieses Heft ausgewählten neun Beiträge werden dem gesamten Themenumfang des Kongresses selbstverständlich nicht gerecht. Zudem stehen die Artikel an dieser Stelle eher losgelöst und nur schwach verbunden durch das Kongressthema nebeneinander. Die Auswahl der Artikel spiegelt keine Dramaturgie des Kongresses wider, sondern ist vielmehr eine Art Stichprobe, eine Tiefenbohrung in spannende und aktuelle Themen studentischer Arbeiten, die im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Der erste Artikel mit dem Titel „Entfachen Funken ein Feuer?“ setzt an der Schnittstelle von Bildung und Wissenschaft an. Die Autor_innen Leopold Ringel, Georg Reischauer, Daniela Suchy und Eva Wimmer des Panels „Wissenschaft, Bildung, Professionalisierung“ untersuchen im Rahmen einer qualitativen Fallstudie die Bedingungen zur Entfachung von Leidenschaft für die Wissenschaft. Sie stellen fest, dass solch ein loderndes Feuer der Leidenschaft für die Wissenschaft nur sehr bedingt konstatiert werden kann. Vielmehr zeigt sich, wie nicht-intendierte Effekte des zweckgerichteten Handelns formale Absichten untergraben und zur Bildung von hierarchischen quasi-organisationalen Strukturen beitragen.

Weiter geht es mit Benjamin Lipp aus dem Panel „Wissen, Gedächtnis, Erfahrung‟. In dem Artikel „Amok und Organisation“ beschäftigt er sich mit der breiten öffentlichen Diskussion im Gefolge des Amoklaufes von Winnenden 2009. Um diese Diskussion als einen Diskurs auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen – im Artikel beispielhaft in Tageszeitung und Schule – beobachten zu können, nahm der Autor eine originelle Kopplung von Elementen der Systemtheorie mit dem diskurstheoretischen Ansatz Foucaults vor, und zwar auf der Grundlage der Konzepte von „Operativität“ und „Ereignis“, welche beide Ansätze enthalten. Diese organisationssoziologisch orientierte Erweiterung der Diskursanalyse ermöglicht es dem Autor, die Reaktion der Organisation Schule als Teil eines gesellschaftlichen Diskurses zu analysieren.

Die Autorin Kristin Neumann aus dem Panel „Leben, Lieben, Sterben“ widmet sich in ihrem Artikel „ … es ist ein Hardlinerkurs, Familie und Promovieren“ der Frage, mit welchen Handlungsstrategien junge, männliche Nachwuchswissenschaftler den konfligierendenden Ansprüchen von Arbeits- und Lebenswelt begegnen. Die zunehmende Flexibilisierung und Entgrenzung stellt die Arbeitnehmer_innen vor neue Anforderungen. Zugleich erfährt aktive Elternschaft bei Männern in jüngerer Zeit eine Aufwertung. Arbeits- und Lebenswelt können nicht länger als zwei voneinander getrennte Sphären betrachtet werden. Das somit erforderliche „Grenzmanagement“ der Sphären Lebens- und Arbeitswelt wurde von der Autorin auf der Basis qualitativer Interviews mit Vätern im wissenschaftlichen Mittelbau untersucht.

Der Beitrag von Daniel Drewski mit dem Titel „Hugo Chávez’ ‚Bolivarianische Revolution‘ als postkoloniale Identitätspolitik?“ ist ein Beispiel für den interdisziplinären Aspekt des 3. Studentischen Soziologiekongresses. Der Autor, der in dem Panel „Politik und Staat“ vorgetragen hat, untersucht in einem eher kulturwissenschaftlich orientierten Artikel die Identitätspolitik des venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez. Die „Bolivarianische Revolution“ in Venezuela beruft sich in spezifischer Weise auf den politischen Mythos des Nationalhelden Simón Bolívar. Dadurch wird ein politisches Identitätsangebot gemacht, das sich als emanzipatorische Reaktion auf kolonialistische und neokolonialistische Bestandteile im westlichen Diskurs der Moderne versteht – oder verkürzt: als Reaktion auf den westlichen Diskurs der Moderne. Letztendlich mündet diese postkoloniale Identitätspolitik in eine bedenkliche Selbstdarstellung als „antagonistischer Anderer“ zum euro-amerikanischen Westen.

Die Autorin Sophie Maria Ruby, die auf dem Panel „Geschlecht und Sexualität“ referierte, widmet sich in ihrem Artikel „Prostitution im feministischen Diskurs“ der Frage, wie Prostitution diskursiv verhandelt wird. Anhand von Ergebnissen einer Diskursanalyse deutscher und englischsprachiger Debatten zur Beziehung von Prostitution und der patriarchalen Ordnung in der Gesellschaft wird deutlich, wie viele und vor allem welche unterschiedlichen Deutungsangebote vorhanden sind. Kann Prostitution das Patriarchat aufbrechen oder wird es dadurch verfestigt? Ist Prostitution ein normaler, freiwillig ausgeübter Beruf oder basiert sie auf Zwang? Die teils konträren Deutungen werfen abschließend die Frage auf: „Was ist feministisch?“

Wahlverhalten und Wahlforschung sind Gegenstand des Artikels „Psychologische Widersprüche und Wählerverhalten. Eine Anwendung des mikrosoziologischen Ansatzes und des Retrospective-Voting-Modells“. Die Autorinnen Jasmin Fitzpatrick, Gloria Remlein und Regina Renner des Panels „Politik und Staat“ beschäftigen sich mit zwei Ansätzen der Wahlforschung, die auf unterschiedliche Weise die Auswirkungen psychologischer Widersprüche, sogenannter cross pressures, auf die Konstanz von Wahlverhalten erklären. Hierfür wird eine Variante des in der Wahlforschung etablierten mikrosoziologischen Ansatzes der Columbia School vorgeschlagen und das eher selten benutzte Retrospective-Voting-Modell von Morris P. Fiorina angewendet. Die Ergebnisse bestätigen Fiorinas Modell, zeigen aber auch, dass kein Einfluss der cross pressures in den politischen Einstellungen des sozialen Netzwerkes festgestellt werden kann.

Der folgende Artikel mit dem Titel „Über das Sprechen der ‚Einen‘ und das Schweigen der ‚Anderen‘. Ein queer/feministischer Beitrag zur Emanzipation durch FrauenMenschenrechte“ beschäftigt sich mit Geschlechternormen und Emanzipation und wurde auf dem Panel „Geschlecht und Sexualität“ vorgetragen. Der Autor Stefan Wendermann wirft die Frage auf, wie Gleichstellungsinitiativen (am Beispiel „Frauenrecht ist Menschenrecht“) in ihren Emanzipationsbemühungen Homosexuelle ausschließen und somit erneut regulative Geschlechternormen reproduzieren. Die theoretische Arbeit verbindet Ansätze von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe mit dem von Judith Butler und beleuchtet anhand dessen die Ambivalenzen derartiger Bestrebungen.

Der englischsprachige Artikel „Obviously I’m Not a Dick, Right?“ von Linus Westheuser geht ebenfalls aus dem Panel „Geschlecht und Sexualität“ hervor und beschäftigt sich mit Männlichkeit und der Positionierung männlicher Identitäten beim kollektiven Schauen der britischen Datingshow „Take Me Out“. Im Zusammenspiel von Fernsehshow als mediatisierter Kommunikationsebene und dem parallel stattfindenden Gespräch wird deutlich, wie ganz unbemerkt gender im Alltag reproduziert wird. Anhand ausgewählter Beispiele der transkribierten Unterhaltung zeigt der Autor Techniken auf, die die Teilnehmenden nutzen, um sich selbst zu gegenderten Identitäten zu positionieren.

Der abschließende Artikel stammt aus dem Panel „Familie und Arbeit“. In „Neuro-Romantik? Der Liebesdiskurs unter Einfluss der Hirnforschung“ legt Carola Klinkert dar, dass mit dem medialen Erfolg der Neurowissenschaften die Leitsemantiken der romantischen und der sachlich-partnerschaftlichen Liebe neu verhandelt werden. Basierend auf einer wissenssoziologischen Diskursanalyse, erweitert um die Methode der Metaphernanalyse und das Konzept des Interdiskurses, zeigt sich, dass in populärwissenschaftlichen Publikationen neben theoretischen vor allem auf symbolische Mechanismen der Wissensintegration zurückgegriffen wird. Verschiedenste Wissensfragmente fügen sich zu einer allgemein verständlichen Erzählstruktur. Diese Perspektive ermöglicht der Autorin einen kritischen Blick auf die dem Diskurs zu Grunde liegenden kulturellen Legitimationsmuster und deren unausgesprochene Implikationen.

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Der Inhalt der Sonderausgabe „Komplexe neue Welt“ als PDF-Download:

S. 2–10 Vorwort und Editorial

S. 3 Inhaltsverzeichnis

S. 156 Impressum

Artikel:

S. 11–26 Verursachen Funken ein Feuer? – Von Leopold Ringel, Georg Reischauer, Daniela Suchy und Eva Wimmer

S. 27–41 Amok und Organisation – Von Benjamin Lipp

S. 42–63 „…es ist ein Hardlinerkurs ,Familie und Promovieren“ – Von Kristin Neumann

S. 64–67 Graphical Recording – Zeichnungen von Ansgar Lorenz und Parastu Karimi

S. 68–83 Hugo Chávez’ „Bolivarianische Revolution“ als postkoloniale Identitätspolitik? – Von Daniel Drewski

S. 84–97 Prostitution im feministischen Diskurs – Von Sophie Maria Ruby

S. 98–111 Psychologische Widersprüche und Wählerverhalten – Von Jasmin Fitzpatrick, Gloria Remlein und Regina Renner

S. 112–123 Über das Sprechen der „Einen“ und das Schweigen der „Anderen“ – Von Stefan Wedermann

S. 124–137 „Obviously I’m not a dick, right?“ – Von Linus Westheuser

S. 138–151 Neuro-Romantik? – Von Carola Klinkert

S. 152–155 Grußwort aus Bamberg. Der 4. Studentische Soziologiekongress steht bevor

Das gesamte eJournal zum Download als PDF:
<http://soziologieblog.hypotheses.org/sonderheft-2-komplexe-neue-welt>

Weitere Hefte ⇓