WerkstattGeschichte (2013), 62

Titel der Ausgabe 
WerkstattGeschichte (2013), 62
Zeitschriftentitel 
Weiterer Titel 
museum und zeitzeugenschaft

Erschienen
Essen 2013: Klartext Verlag
Erscheint 
erscheint dreimal im Jahr
Anzahl Seiten
141 S.
Preis
Abo 37,00 Euro (10,25 Euro je Heft zzgl. Versandkosten, 14,00 € je Einzelheft)

 

Kontakt

Institution
WerkstattGeschichte
Land
Deutschland
c/o
transcript Verlag, Hermannstraße 26, 33602 Bielefeld, Tel. +49 521 393797 0, Fax: (0521) 39 37 97 - 34
Von
Kleinschmidt, Julia

Liebe Leserinnen und Leser,

es ist uns eine große Freude, Ihnen das neue Heft der Zeitschrift WerkstattGeschichte unter dem Titel „museum und zeitzeugenschaft“ vorzustellen. In dieser Ausgabe werden aktuelle Musealisierungspraktiken von Zeitzeugenschaft auf drei Kontinenten besprochen: Der Blick der Autor_innen richtet sich nach Südafrika, Australien und Deutschland und wir eingeführt von einem Text, der die Transformationen von der Figur des Zeitzeugen in Medien und Museum bespricht. Wir hoffen, dass wir damit Ihr Interesse wecken können und wünschen viel Spaß bei der Lektüre.

Zugleich möchten wir Sie auch auf unser Online-Angebot hinweisen: Unter www.werkstattgeschichte.de stehen Ihnen die archivierten Texte zurückliegender Jahrgänge, derzeit bis Heft 51, zum freien Download zur Verfügung.

Mit den besten Wünschen,
Die Redaktion

EDITORIAL

An der University of Southern California (USC) wurde kürzlich eine mögliche Zukunft der Erinnerung vorgestellt: ein Hologramm, die dreidimensionale Ganzkörperabbildung des Holocaustüberlebenden Pinchas Gutter, der, in einem holografischen Sessel sitzend, Fragen zu Stationen seiner Kindheit im Warschauer Ghetto und dem Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek beantwortet.1 Diesem Prototyp eines digitalen 3D-Zeugen sollen weitere folgen. Entwickelt haben das Projekt unter dem passenden Titel „New Dimensions in Testimony“ die USC Shoah Foundation und das ebenfalls an der Universität ansässige Institute for Creative Technologies, das die fortgeschrittene holografische Bildtechnologie und die aufwändige Spracherkennungs-Software beisteuerte, mit deren Hilfe Fragen analysiert und passende Sequenzen aus den dreidimensional verfilmten Interviews ausgewählt werden. Noch kann der achtzigjährige Gutter, der in Toronto lebt, seine Geschichte selbst erzählen. Sein Hologramm und die der anderen betagten Überlebenden, die nun für das Projekt interviewt und digital vermessen werden, sollen schon bald in Museen zum Einsatz kommen und dort noch lange zum Dialog mit denen bereitstehen, die erst nach dem Tod der letzten leibhaftigen Zeuginnen und Zeugen geboren werden. Nicht nur das Zeugnis, auch die dialogische Kommunikationssituation des Zeugnisgebens, die unmittelbare Begegnung mit dem Zeugen oder der Zeugin, Augenkontakt inklusive, soll damit für die Ewigkeit konserviert werden. Diese Form der Begegnung schaffe größtmögliche Nähe und erleichtere das Eintauchen in die Geschichte, wie es vor allem ein jüngeres Publikum verlangt, hofft Paul Debevec, einer der führenden Köpfe des Projekts – er sagt „a more immersive experience“ und wählt damit wohl nicht von ungefähr eine Wendung, die sonst im Zusammenhang mit virtuellen Spiel-Realitäten gebräuchlich ist.2

Dieses aktuelle Schlaglicht auf mögliche, erhoffte oder erwartete Wirkungen von Akten des Bezeugens markiert nur einen Punkt in der langen Entwicklung des Zeitzeugen als kommunikative Figur. Der Themenschwerpunkt dieser Ausgabe von WerkstattGeschichte geht den Verbindungen und Überlagerungen von Phänomenen nach, die hier benannt oder jedenfalls durch den Kontext aufgerufen sind, Phänomene, denen für die öffentliche Wahrnehmung und Wirkung der Zeitgeschichte große Bedeutung zukommt: die wachsende Bedeutung des Zeitzeugen sowie die Musealisierung der Zeitgeschichte – und schließlich die zunehmende Mediatisierung von Geschichte, die die beiden erstgenannten Entwicklungen auf vielfache Weise prägt.

Die Entwicklung neuer Formen der Kommunikation über Geschichte und der (medialen) Präsentation historischer Themen, die mit der „Geburt des Zeitzeugen nach 1945“ im Zusammenhang stehen, erfährt in jüngster Zeit vermehrte Beachtung.3 Hierzulande ist die Entwicklung des Zeitzeugen als Figur, wie der Buchtitel schon nahelegt, eng mit den Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen und speziell mit den Überlebenden der Shoah verbunden. In anderen (nationalen) Erinnerungskulturen ist das nicht oder nicht in gleicher Weise der Fall. Wir wollen mit der Auswahl der Beiträge in diesem Heft, die Museen in verschiedenen europäischen Ländern sowie in Israel, Südafrika und Australien untersuchen, den Blick über den deutschen und europäischen Kontext hinaus erweitern und Vergleichsperspektiven eröffnen.

In Deutschland, wo die Berichte von Überlebenden in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in der Regel Gegenerzählungen darstellten, wandelte sich ihre Funktion in den 1990er Jahren. Sie sind zu einem zentralen Bestandteil medialer Darstellungen von Geschichte avanciert und dienen oft dazu, etablierte oder gar hegemoniale Narrative zu legitimieren oder zu authentifizieren. Die Präsentation von videografierten Interviews in Museen und Ausstellungen, die als Institutionen bzw. Medien des kulturellen Gedächtnisses einen spezifischen Platz in der Erinnerungslandschaft einnehmen, stellt einen (weiteren) Schritt in dieser Entwicklung dar. Was bedeutet die Musealisierung für die Entstehung, Verwendung und Rezeption solcher Berichte? Bringt die Musealisierung spezifische Formen von Zeitzeugenschaft hervor? Inwiefern wird das Fluide der Erinnerung durch die Musealisierung „versteinert“?

Umgekehrt lässt sich fragen, wie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, sei es durch ihre Präsenz in oder Beteiligung an Ausstellungen oder durch die Präsentation aufgenommener Interviews, die museale Darstellung von Geschichte verändern. In welchem Verhältnis stehen Zeitzeugenberichte zu gegenständlichen Überlieferungen, wie lassen sich die Beziehungen analysieren, die in konkreten Inszenierungen zwischen Interviews und Objekten oder auch zwischen persönlich anwesenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und Ausstellungsorten und -narrativen entstehen? Welche (neuen) Narrative entstehen auf diese Weise?

Der den Thementeil einleitende Beitrag von Inge Marszolek und Stefan Mörchen umreißt knapp die Diskussion darum, wie sich die Figur des Zeitzeugen in der deutschen Erinnerungskultur im Zuge der Mediatisierung und durch ihre begonnene Musealisierung verändert hat. Er fragt nach dem Spannungsverhältnis zwischen mediatisierten Erwartungen – den Sehgewohnheiten und den Bildern in den Köpfen, geprägt von den Doku-Fictions des Fernsehens, historischen Spielfilmen und neuen, digitalen Medienformaten – und den Möglichkeiten der Präsentation von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in Museen und Gedenkstätten.

Steffi de Jong vergleicht in ihrem Beitrag die Ausstellungen im Museo Diffuso (Turin), im Imperial War Museum in London, in Yad Vashem sowie in den Gedenkstätten Neuengamme und Bergen-Belsen. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die Beziehungen, die Zeitzeugenvideos und Objekte eingehen. Nationale Narrative konturieren die Ausstellungen sehr unterschiedlich, zumal die inhaltliche Fokussierung zwischen Krieg und Holocaust changiert. Beides hat Auswirkungen auf die Ausprägung der Figur des Zeitzeugen. Während beispielsweise in Yad Vashem den Stimmen der Überlebenden viel Platz eingeräumt wird und subjektive Narrative die historischen immer wieder ergänzen und kontrastieren, wurde im Imperial War Museum auf Videopräsentationen verzichtet, die Stimmen der Zeitzeugen sind nur noch zu hören. Als übergreifender Befund lässt sich feststellen, dass sich die Subjektauthentizität der Zeitzeugen und die Objektauthentizität ergänzen und in ihrer Unterschiedlichkeit gegenseitig bestärken.

Robben Island wurde als Gefängnis des südafrikanischen Apartheid-Regimes vor allem wegen seines prominentesten Häftlings, Nelson Mandela, weltbekannt. Der Artikel von Annett Schulze untersucht, wie heute die Geschichte der Apartheid im Robben Island Museum am historischen Ort dargestellt wird, und diskutiert die Rolle von Zeitzeugen im post-kolonialen Nation-Building in Südafrika. Auf dem ehemaligen Gefängnisgelände fungieren Widerstandskämpfer gegen die Apartheid, die entweder selber auf Robben Island inhaftiert oder aber im Exil waren, als tour guides. Die Art und Weise, wie sie sich selbst zu dem Ort in Beziehung setzen und zugleich in weiteren historischen und politischen Kontexten verorten, beschreibt Schulze als eine Narrativierung des Selbst. Die Erzählungen über das Gefängnis und die Bedeutung des Museums variieren stark, was bisweilen zu Auseinandersetzungen mit dem Management führt.

Der Beitrag von Olaf Kleist widmet sich der musealen Darstellung der australischen Migrationsgeschichte. Nach der Abschaffung der White Australia Policy und mit dem Wandel des nationalen Selbstbildes zu dem einer multikulturellen Gesellschaft entstanden in Australien schon früh Migrationsmuseen, die die Erfahrungen verschiedener Einwanderergruppen mit der Geschichte Australiens verbinden sollten. Die Art und Weise, wie Migrantinnen und Migranten in diesen Ausstellungen präsentiert werden, ist nicht allein historisch und kuratorisch, sondern auch politisch bestimmt. Museale Entwürfe der Einwanderungsgesellschaft versuchen, nationalgeschichtliche Narrative mit ihrer Tendenz zur Homogenisierung und individuelle Migrationserfahrungen mit ihren transnationalen Kontextualisierungen miteinander zu verbinden. Kleist untersucht die sich daraus ergebenden Spannungen am Beispiel dreier verschiedener Darstellungsweisen von Zeugen der Migration: als ‚kollektive Zeugen‘, als ‚exemplarische Zeugen‘ und als ‚Massenzeugenschaft‘.

Marco Pukrop untersucht in der Rubrik Werkstatt die gegensätzlichen Lebenswege zweier SS-Ärzte, die vor Kriegsbeginn im Konzentrationslager Sachsenhausen Dienst verrichteten. Die individuellen Motive zum Eintritt in den freiwilligen Lagerdienst sowie die Karriereverläufe nach der Quittierung des Dienstes belegen, so Pukrop, eine größere Heterogenität der Gruppe der SS-Mediziner, als die Forschung bisher angenommen hat.

In der Rubrik Filmkritik stellt Ulrike Weckel einen Film vor, den zu ihrem großen Bedauern heute kaum jemand kennt, weil er es schon bei seinem Erscheinen 1964 nur in wenige Kinos schaffte: Herrenpartie in der Regie von Wolfgang Staudte, eine bundesdeutsch-jugoslawische Koproduktion über einen westdeutschen Männergesangverein, der auf seiner Urlaubsreise in einem montenegrinischen Bergdorf strandet, in dem seit einem Geiselmord der Wehrmacht nur noch Frauen leben. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die Gründe, weshalb dieser Film seinerzeit floppte, als erheblich vielfältiger, als man angesichts des pessimistischen Fazits der Forschung über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik denken könnte.

Inge Marszolek, Stefan Mörchen und die Redaktion

Anmerkungen:
1 Weitere Informationen, Nachweise und eine Diskussion des Projekts bietet ein Beitrag von Bernd Körte-Braun, Erinnern in der Zukunft: Frag das Hologramm, veröffentlicht unter: <http://www.yadvashem.org/yv/de/education/newsletter/10/article_korte.asp#02> (28.08.2013). Ein kurzer Video-Clip, in dem der holografische Gutter Fragen beantwortet und ein Lied singt, ist auf youtube zu sehen: <http://www.youtube.com/watch?v=AnF630tCiEk> (28.8.2013).
2 <http://viterbi.usc.edu/news/news/2013/never-again.htm> (28.08.2013).
3 Vgl. den Tagungsband: Martin Sabrow/Norbert Frei (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012.

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS

Editorial

Thema

Inge Marszolek/Stefan Mörchen
Von der Mediatisierung zur Musealisierung. Transformationen der Figur des Zeitzeugen

Steffi de Jong
Im Spiegel der Geschichten. Objekte und Zeitzeugenvideos in Museen des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges

Annett Schulze
„To make Robben Island and its history relevant“
Zur Figur des Zeitzeugen im postkolonialen Nation-Building Südafrikas am Beispiel des Weltkulturerbes Robben Island

J. Olaf Kleist
Narrative eines Einwanderungslandes: Zeugen der Migration in australischen Museen

Werkstatt

Marco Pukrop
Die SS-Karrieren von Dr. Wilhelm Berndt und Dr. Walter Döhrn. Ein Beitrag zu den unbekannten KZ-Ärzten der Vorkriegszeit

Filmkritik

Ulrike Weckel
Herrenpartie. Eine bemerkenswerte Satire auf deutsche Vergangenheitsbewältigung, die nur wenige zu sehen bekamen

Expokritik

Lars Karl
Das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden (MHM). Dauerausstellung

Rezensionen

Sebastian Jobs/Alf Lüdtke (Hg.)
Archiving and Narrating in Historiography
Achim Landwehr

Angelika Epple/Angelika Schaser (Hg.)
Gendering Historiography
Andrea Pető

Carina L. Johnson
Cultural Hierarchy in Sixteenth-Century Europe
Stefan Hanß

Baki Tezcan
The Second Ottoman Empire
Tobias Heinzelmann

Daniel Hedinger
Japans Zeitalter der Ausstellungen
Tino Schölz

Blażej Białkowski
Deutsche Historiker an der Reichsuniversität Posen
Gernot Briesewitz

Geheimhaltung oder Offenes Geheimnis:
Sönke Neitzel/Harald Welzer
Soldaten
Alfred de Zayas
Völkermord als Staatsgeheimnis
Dagmar Reese

Kerstin Brückweh (Hg.)
The Voice of the Citizen Consumer
Oliver Kühschelm

Abstracts

Autorinnen und Autoren

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