Leviathan 42 (2014), 2

Titel der Ausgabe 
Leviathan 42 (2014), 2
Weiterer Titel 
Deliberation und Anerkennung

Erschienen
Baden Baden 2014: Nomos Verlag
Erscheint 
vierteljährlich
Anzahl Seiten
159 S
Preis
Abonnement 98,00 €, Studierende 59,00 €

 

Kontakt

Institution
LEVIATHAN. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft
Land
Deutschland
c/o
Leviathan, Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Redaktion Dr. Claudia Czingon, Wissenschaftszentrum Berlin, Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin; Tel. +49 30 25491 536; E-Mail: claudia.czingon@wzb.eu
Von
Blomert, Reinhard

Deliberation und Anerkennung

Verändern sich die Wissenschaften, weil den steigenden Studierendenzahlen keine entsprechend gewachsenen Professorenzahlen gegenüberstehen? Oder stehen die Wissenschaften grundsätzlich infrage, weil die globalisierte Welt neue Anforderungen stellt? Ist es beispielsweise eine „plausible Prognose“, dass in einer für jedermann offenen Wissenschaftswelt die sogenannten sozialen Medien die Rolle von Universitäten und Bibliotheken ersetzen, weil man glaubt erkannt zu haben, dass der Markt der „überlegene Informationsprozessor der Menschheitsgeschichte“ ist? Dass Wissenschaft also für jedermann greifbar nahe sein soll, die weltfremden Gelehrten damit aus dem Elfenbeinturm heraus an jede Straßenecke geholt werden können? Das ist die Vision Philip Mirowskis von der Zukunft der Wissenschaften. Und wird die Wissenschaft besser, wenn sie öffentlich zugänglicher wird, wenn alle mit allen vernetzt werden, wenn das System der wissenschaftlichen Begutachtung ersetzt wird durch eine Art marktbasierter Evaluation von Artikeln?

Eine solche Vorstellung verkennt das Entscheidende am wissenschaftlichen Prozess, die Fähigkeit der Deliberation, die Chance der Distanznahme, das Objektivieren-Können, also die Abwägungsmöglichkeit, die nur in einem Freiraum gegeben sein kann, in welchem keine Mehrheiten regieren, in dem ein tertium datur, also eine Methode Platz hat, die das Nachdenken ermöglicht und einen Verstehensprozess erlaubt, der in ein ökonomisches Schema nicht hineinpasst.

Wenn die Verwaltungen zwischen drittmittelstarken und solchen Fächern unterscheiden, in denen das Aufkommen externer Mittel schwach ist, dann regiert eine neue, von externen Zielen gesteuerte Orientierung den Wissenschaftsbetrieb, weit entfernt vom intrinsischen Ethos der Suche nach „Wahrheit“ oder nach Verstehen. Der sich hier abzeichnende Verlust der Autonomie der Wissenschaften zeigt eine Veränderung nicht nur darin, wie Universitäten heute gesehen werden, sondern spiegelt sich auch in einem neuen Verständnis ihrer Mitarbeiter wider: „Was heutzutage verlangt ist, sind flexible Arbeiter, die jeden Moment das Projekt fallenlassen können, an dem sie gerade sitzen, um sich einem anderen zuzuwenden, das gerade attraktiver erscheint. Disziplinäre Kenntnis wird für weniger wichtig gehalten als interdisziplinäre Beweglichkeit, die Marktsignalen folgen kann. Die immer kurzfristigere Natur der Forschungsfinanzierung bringt diese Imperative zum Ausdruck“.

Gibt es nicht zugleich eine Zunahme jenes Typus der multiplen Persönlichkeit, die geradezu dazu geschaffen wäre, Problemstellungen ohne eigene innere Reflexion von außen anzunehmen und sich für sie einzusetzen? Erfordern die gesellschaftlichen Veränderungen der „spätmodernen Multioptionsgesellschaft“ nicht die Multiplizität des Menschen? In der Debatte um die multiple Persönlichkeit stehen sich diese Diagnosen gegenüber: die postmoderne Position, welche die multiple Persönlichkeit als Anpassung an zeitgemäße Erfordernisse betrachtet, und die kritische Position derer, die die Diagnose „dissoziative Identitätsstörung“ als eine behandlungswürdige Krankheit beschreiben (vgl. Rosemarie Brucher in diesem Heft).

Wissenschaft braucht das, was am schwersten zu definieren ist: Freiräume, in denen der Geist schweifen kann. „Sieht man sich in der Geschichte um“, so Karl Mannheim, „bemerkt man, daß der Wille zur jeweiligen Synthese stets von sozial eindeutig bestimmbaren Schichten getragen wird, und zwar von jenen mittleren Klassen, die sich von unten und oben bedroht fühlen und sozial instinktiv von vornherein eine Vermittlung zwischen den Extremen suchen“, eine Vermittlung, die von einer Haltung getragen sein sollte, „die eine progressive Weiterbildung der Geschichte in der Weise fördert, daß in ihr möglichst viel von den akkumulierten Kulturgütern und sozialen Energien erhalten bleibt“. Eine solche Haltung werde aber nicht eine konkret in der Mitte gelagerte Klasse, sondern nur eine relativ klassenlose, nicht allzu fest gelagerte Schicht im sozialen Raume aufbringen, nämlich jene „sozial freischwebende Intelligenz“, wie Alfred Weber sie nannte. Der Wissenschaftsraum kreiert eine Synthese polyphoner Stimmen, und die Wissenschaftler sind in ihrer Orientierung stets mehrfach determiniert, was sie erst zur Deliberation befähigt, zur „freischwebenden Aufmerksamkeit“, wie sie nach Sigmund Freud zur Diagnose unabdingbar ist: Die Aufmerksamkeit darf also weder durch Interessen noch durch Voreinstellungen, also „Denkkategorien und Ordnungsschemata“, behindert sein – ein schwieriger Auftrag, bei dem interne gegenseitige Prüfungsprozesse als gute fachliche Praxis sich als hilfreich erwiesen haben. Bewertungen nach Produktivität und Kennzahlen haben demgegenüber zwar den Vorteil von Objektivität, aber es besteht die Gefahr, dass sie bestimmte Voreinstellungen und Denkkategorien fördern, weil sie für die Gewichtung neuer Synthesen gar keine Kriterien haben. Was aber ist mit dem Wissenschaftsraum, wenn die gesellschaftliche Mitte schrumpft? Sind es nicht gerade die Gesellschaften mit einer starken Mittelschicht, in der Universitäten hohe Qualität haben? Wenn aber das gesellschaftliche Rekrutierungsfeld austrocknet, wie verändert sich dann die Wissenschaft? Wie berechtigt ist überhaupt die Angst vor dem Verschwinden der Mittelschicht? Das wird von einer Gruppe Bremer Forscher untersucht (siehe den Aufsat z von Olaf Groh-Samberg, Steffen Mau und Uwe Schimank in diesem Heft).

Die abendländischen Universitäten sind im kirchlichen Raum entstanden, in einem Raum also, der, von den weltlichen Machtebenen der Zeit weit genug entfernt, eine Vermittlungsebene bilden konnte, in der auch Rekrutierungen möglich waren, die nicht an den Geburtsstand gebunden waren. Harold Berman hat seinerzeit darauf hingewiesen, dass durch die Einführung des römischen Rechts in den weltlichen Bereich das Strafrecht revolutioniert wurde, indem das germanische Gottesurteil abgeschafft wurde: Die analytische Trennung von Welt und Gott, des Zeitlichen und des Ewigen wurde möglich, und durch die Verschriftlichung des Rechts ergaben sich neue Sicherheiten und neue Rechtsinstitutionen, die differenzierter waren als die der Stammes- und Lokalkultur. Der Kern der vom Papst geförderten Universität Bologna war die juristische Fakultät, von wo aus sich das römische Recht und das christliche Menschenbild verbreiteten.

Inwieweit es auch das Christentum war, eine Religion, die unter den römischen Sklaven verbreitet war, das den Glauben an die universale Menschenwürde und die Menschenrechte entwickelte, ist umstritten. Daher ist die Sakralisierung des Menschen, die Heiligkeit des menschlichen Lebens, wie sie Hans Joas beschreibt, vor allem mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution verbunden, wo sie formuliert wurde als „heiliges Menschenrecht“. Während Joas mit der Sakralisierung der Person nach einer Möglichkeit suche, den Schutz der Person dem Politischen zu entziehen und ihr via Heiligkeit einen unverfügbaren Charakter zu geben, bleibe die Heiligkeit der Person bei Arendt dem Spiel der Kontingenz ausgesetzt und von Aushandlungen abhängig, schreibt Sybille De La Rosa in diesem Heft. Für Arendt, die 1933 aus Deutschland geflohen ist, bedeutete ihre Erfahrung als Staatenlose, dass es sinnlos ist, Gleichheit vor dem Gesetz für den zu verlangen, für den es kein Gesetz gibt. Das Menschenrecht beginnt deshalb für sie mit dem „Recht, Recht zu haben“, also Rechte zu besitzen, die einklagbar sind.

Darin liegt die Chance der Behauptung gegen alle Totalitarismen, und es ist kein Zufall, dass sie unter den „philosopher citizens“ in Frankreich Albert Camus schätzte, den sie 1952 persönlich kennengelernt hatte. Er war für sie „zweifellos der beste Mann, den es augenblicklich in Frankreich gibt“. Seinem Denken fühlte sie sich verwandt und hätte vermutlich Camus’ Satz „Die Revolte bejaht das Leben und die Freiheit und lehnt ab, was diese beiden bedroht“ unterschreiben können. Die existentialistische Grundfrage nach dem Sinn des Lebens beantwortet Camus zwar negativ – wie alle Existentialisten von Heidegger bis Sartre –, doch trotz der Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens spricht er sich für das Weiterleben in einer absurden Welt aus: „Weiterzuleben heißt, gegen deren Absurdität zu revoltieren im vollen Bewußtsein des unauflösbaren Widerspruchs: Ich revoltiere, also bin ich“14 (vgl. Markus Pausch in diesem Heft).

Die Ablehnung des Selbstmords beinhaltet auch die Ablehnung des Mordes, denn der Revoltierende verlangt Freiheit für sich selbst, aber keinesfalls das Recht, das Wesen und die Freiheit des anderen zu vernichten. Die Revolte richte sich gegen alle totalitären Herrschaftssysteme, verliere aber ihre Legitimität an jenem Punkt, wo sie zu den Waffen greife: „Camus, der selbst im Widerstand tätig war, lehnte Gewalt als Mittel zur Selbstverteidigung nicht grundsätzlich ab. Er wandte sich aber gegen die geplante Tötung von Menschen aus Prinzip. Und diese geplante und brutale Tötung warf er den Jakobinern wie den russischen Revolutionären vor. Sie verstoße gegen die existenziell begründeten Prinzipien der Revolte“.

Nach dem Ende des Zeitalters des Totalitarismus sieht sich die Menschheit einer neuen Gefahr gegenüber – dem des Selbstmords der Gattung durch die schleichende Zerstörung der Umwelt. Unter den vielen Programmen, die dieser Gefahr begegnen sollen, scheint das des Buen Vivir, des „guten Lebens“, sehr vielversprechend, sucht es doch zwischen wirtschaftlichen Zwängen und Ansprüchen an Umwelt und dem Schutz der indianischen Bevölkerung zu vermitteln. Aber wie realistisch ist dieses Programm? Wie stark sind die Regierungen der südamerikanischen Länder Ecuador, Bolivien und Uruguay gegenüber den Marktmächten? Das wird von Franziska Dübgen und Ana Agostino analysiert. Renate Mayntz stellt die Frage, ob es nicht unrealistisch sei, angesichts der Koordinationsprobleme in der Europäischen Union zwischen den beiden Extremen, zwischen Markt oder Staat, sich entscheiden zu müssen.

Inhaltsverzeichnis

INHALTSVERZEICHNIS

Zu diesem Heft … 157 – 162

Karsten Zimmermann, Marlon Barbehön und Sybille Münch
Eigenlogik der Städte: ein Beitrag zur Diskussion … 163 – 173

Sybille De La Rosa,
Hannah Arendt im Spannungsfeld zwischen Säkularisierung und Sakralisierung … 174 – 190

Rosemarie Brucher,
Das Narrativ der dissoziativen Identitätsstörung im Kontext ökonomischer Imperative … 191 – 218

Olaf Groh-Samberg, Steffen Mau und Uwe Schimank
Investieren in den Status: Der voraussetzungsvolle Lebensführungsmodus der Mittelschichten … 219 – 248

Markus Pausch,
Nur weil die Welt absurd ist, brauchen wir eine Demokratie Politiktheoretische Anknüpfungspunkte im Werk Albert Camus’ … 249 – 266

Ana Agostino und Franziska Dübgen,
Die Politik des guten Lebens. Zwischen Neo-Extraktivismus und dem Schutz der „Mutter Erde“ – Konfliktlinien und Potenziale lateinamerikanischer Transformationsmodelle … 267 – 291

Renate Mayntz,
Markt oder Staat? Kooperationsprobleme in der Europäischen Union … 292 – 304

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