Jahrbuch für Universitätsgeschichte 6 (2003)

Titel der Ausgabe 
Jahrbuch für Universitätsgeschichte 6 (2003)
Weiterer Titel 
Universität im Mittelalter

Erschienen
Stuttgart 2003: Franz Steiner Verlag
Erscheint 
jährlich
Preis
Jahresabonnement € 44,--, Einzelheft € 52,--

 

Kontakt

Institution
Jahrbuch für Universitätsgeschichte
Land
Deutschland
c/o
Redaktion: Prof. Dr. Martin Kintzinger, Universität Münster, Historisches Seminar, Domplatz 20–22, 48143 Münster; E-Mail: <m.kintzinger@uni-muenster.de>
Von
Bott, Marie-Luise

Jahrbuch für Universitätsgeschichte

Band 6 / 2002

Universität im Mittelalter

Gastherausgeber
Rainer C. Schwinges

EDITORIAL

Die historische Bildungsforschung hat sich insbesondere im Teilgebiet der Universitätsgeschichte in den beiden letzten Jahrzehnten international sehr rasch und fruchtbar entwickelt. Zeugnisse dafür sind etwa das Fachjournal History of Universities im 17. Jahrgang, die mehrbändige von Walter Rüegg und Hilde de Ridder-Symoens seit 1992 herausgegebene History of the University in Europe, die u. a. auch in deutscher Sprache erschienen ist, das ebenso mehrbändige Werk Le Università dell’Europa, besorgt von Gian Paolo Brizzi und Jacques Verger in den Jahren 1990 bis 1995, die Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (seit 1999) sowie die Annali di Storia delle Università Italiane und nicht zuletzt das vorliegende Jahrbuch für Universitätsgeschichte, beide Zeitschriften nunmehr bereits im sechsten Jahrgang. Alle genannten Unternehmungen sind grundsätzlich epochenübergreifend angelegt, doch ist in der Bildungsforschung auch jede Epoche für sich in Bewegung geraten; man blicke für die Neuzeit nur einmal ins Jahrbuch für Historische Bildungsforschung (seit 1993) oder ins Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte (seit 1995).

Während die historische Bildungsforschung der Moderne dabei viel stärker von der Nachbarschaft zur historischen Pädagogik und zur Wissenschaftsgeschichte oder gar zur Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung profitieren kann, ist für die ältere Zeit, namentlich das spätere Mittelalter, nach langer Dominanz der Institutionengeschichte die Begegnung mit der Sozialgeschichte und zuletzt auch mit der neueren Kulturgeschichte das prägende Moment geworden.

Dies hat gerade für die deutschsprachige Forschung, die sich allerdings stets auf das Gesamtgebiet des Alten Reiches bezieht, entscheidende Konsequenzen. Betrachtet man die Geschichte mittelalterlicher Bildung und Wissenschaft nebst ihrer Institutionen rein chronologisch, so wird man selbstverständlich zuerst auf Frankreich und Italien blicken – mit ihren europawichtigen Zentren für Theologie und Philosophie in Paris, für Rechtswesen und Medizin in Bologna, Padua oder Ferrara. Die „deutschen Ereignisse“, rund 150 Jahre später beginnend mit Prag (1348) als der ersten Universität auf nordalpinem Reichsboden, wird man deutlich nachordnen müssen, selbst wenn man in der späteren Entwicklung einen eigenen „deutschen Typus“ der Universität in Europa erkennen kann. Sieht man aber auf die Sozialgeschichte der Universitätsbesucher und die der Absolventen der Theologie, des weltlichen und kirchlichen Rechts, der Medizin und der Artes Liberales und darauf, was diese wirklich getan und in der Gesellschaft bewirkt haben, dann wird man das Alte Reich mit weitem Abstand in den Mittelpunkt des Interesses rücken dürfen. Denn nirgends in Europa kann man so viel über so viele Universitätsbesucher und gelehrte Personen in Erfahrung bringen wie gerade hier: über Herkunft, Studium, Leben und Lebenswege, über Netzwerke, Akzeptanz und Einfluss und nicht zuletzt über die „Macht des Wissens“, die zwischen 1350 und 1550 von über 300.000 Köpfen in der Gesellschaft des Reiches entfaltet worden ist. Dass man eine solche Zahl mit allen Implikationen überhaupt nennen kann, hängt fundamental mit der vorzüglichen Quellenlage zusammen, damit, dass die „deutschen“ Universitätsmatrikeln und die anderen Universitäts- und Fakultätsakten einschliesslich jener der „deutschen Nationen“ in Frankreich und Italien in unerreichter und unerreichbarer Fülle überliefert und erhalten sind. Diese Fülle ist ein Pfund, mit dem in der deutschen wie auch gesamteuropäischen Universitätsgeschichte unbedingt zu wuchern ist.

Die Beiträge zum Schwerpunkt „Universität im Mittelalter“ dieses Bandes gehen aus verschiedenen Perspektiven mit dieser Fülle des Universitätsbesuchs um, bewegen sich jedoch – mehr oder weniger prosopographisch fundiert – auf gemeinsam geteiltem sozial- und kulturgeschichtlichem Feld. Den Auftakt macht Rainer C. Schwinges (Bern), der das Thema „Fest und Freizeit“ mit seinen früheren sozialgeschichtlichen Studien verknüpft und die vergleichsweise rauheren Festsitten im Alten Reich mit den grossen sozialen Unterschieden zwischen Universitätstypen und Fakultäten in Europa, insbesondere dem enormen Übergewicht der sozial wenig geschlossenen deutschen Artistenfakultäten in Verbindung bringt. Mit grossen sozialen Unterschieden zwischen Universitätsbesuchern beschäftigt sich auch der Beitrag von Christian Hebeisen und Thomas Schmid (Bern), allerdings in einer sozialräumlichen Perspektive. Sie gehen v. a. der Frage nach, ob und unter welchen Bedingungen es in universitären Rekrutierungsräumen spezifische Herkunftsräume von pauperes scholares gegeben habe? Als Beispiele dienen die Universitäten von Wien, Köln und Löwen vom 14. zum 16. Jahrhundert. Und in der Tat lassen sich solche Räume mit entsprechenden „studentischen“ Armutsmigrationen zu verschiedenen Zeiten beobachten. Der Beitrag steht überdies im Zusammenhang mit dem Berner Atlas-Programm zur kartographischen Darstellung der Rekrutierungsräume der deutschen Universitäten bis 1550.

In gewisser Verwandtschaft zur Rekrutierungs- bzw. Migrationsfrage steht der Beitrag von Stephanie Irrgang (Berlin), der den „fahrenden Scholaren“ gewidmet ist, vielmehr der Rezeption des Begriffs, der zum Schlagwort verkommen war und so die mittelalterliche im Gegensatz zur frühneuzeitlichen peregrinatio academica in ein schlechtes und überaus schiefes Bild setzte. Mit vollem Recht plädiert sie für eine komplette Neubewertung des Phänomens, die alle wirklichkeitsfernen und oft sozialromantischen Klischees ausmerzt. Das mittelalterliche Fahren erweist sich nämlich als ein sehr handfestes, ganz den sozialen Regeln der Zeit verhaftetes Verhalten, es ist – so die Autorin in zupackender Formulierung – „ein pfründenfundiertes, klientelgetragenes, statusbedingtes, kleinräumiges und durch geistige Interessen motiviertes Bewegungsmuster.“

Zu den schon klassischen Untersuchungen des Universitätsbesuchs gehören jene, die sich der Frequenz annehmen. Beat Immenhauser (Bern) geht in seinem Beitrag der alten, aber noch keineswegs plausibel beantworteten Frage nach, warum die deutschen Universitäten zur Reformationszeit – ausgehend von Wittenberg, Frankfurt und Erfurt – und v. a. deren Artes-Fakultäten innerhalb kürzester Zeit nach 1520 einen derart dramatischen Einbruch der Besucherzahlen erleben mussten, sowohl in evangelisch und protestantisch gewordenen als bald auch in katholisch gebliebenen Universitäten, dass an einen ordnungsgemässen akademischen Betrieb schlicht mangels Masse kaum noch zu denken war. Erst 30 bis 40 Jahre später konnte man an das schon im ausgehenden Mittelalter erreichte Frequenzniveau wieder anknüpfen. Luthers Kritik am studienplanbeherrschenden Aristotelismus und an der universitätsbeherrschenden päpstlichen Pfründenkirche scheint im Verein mit einem breitgestreuten Antiklerikalismus Tausende potentieller Universitätsbesucher so verunsichert zu haben, dass bei künftig ausbleibenden Pfründen Immatrikulationen immer seltener wurden. Denn nach wie vor – daran hat auch die Reformation nichts geändert – war es für sehr viele der Hauptzweck des Universitätsbesuchs, Karriere im Klerus zu machen und dazu Pfründen zu erwerben.

Diesem Umstand, Universitätsbesuch und Karrieren in Kirche und Gesellschaft, widmen sich die beiden folgenden Beiträge, die den Mittelalterschwerpunkt dieses Bandes zugleich beschliessen. Eva Doležalová (Prag) unterzieht die grossartig überlieferte Ordinationsliste der Prager Erzdiözese aus den Jahren 1395 bis 1416 einer genauen Prüfung und sucht die dort verzeichneten Priesteramtskandidaten als Studenten oder Graduierte der Prager Universitäten in den Dekanatsbüchern der Artisten und der Matrikel der Juristen nachzuweisen. Bemerkenswerterweise trifft auch diese Autorin, so wie andere im Band, auf die sozialräumlichen Fundamentalkategorien von Nähe und Ferne im Universitätsbesuch; sie kann feststellen, dass der Anteil der studierten Kandidaten aus weiter entfernten Diözesen sehr viel höher gewesen ist als der aus Prag selbst, dass also die fehlende soziale Nähe zum Personalgeschehen in Prag offenbar karrierenotwendig durch Studium und Graduierung ausgeglichen werden musste, besonders zahlreich, wie es scheint, bei Kandidaten aus dem Bistum Breslau. Suse Baeriswyl (Bern) verfolgt schliesslich in ihrer Miszelle zwei Ziele: Sie orientiert einerseits über die ersten Schritte in ihren Forschungen zur Geschichte der gelehrten Räte des Kurfürsten Albrecht Achilles von Brandenburg auf der Grundlage von dessen berühmter Korrespondenz und führt andererseits in das Projekt des „Repertorium Academicum Germanicum“ ein, an dem sie mit ihren Räte-Forschungen Anteil hat. Dazu gehört auch die dort erläuterte, im wesentlichen von ihr entwickelte „modellorientierte“ Datenbankstruktur. Das RAG, erarbeitet derzeit an den Universitäten Giessen und Bern, bietet die personengeschichtliche Grundlage für eine künftige Gelehrtengeschichte sowie nicht minder eine Geschichte des Wissens im Alten Reich zwischen etwa 1250 und 1550. Es widmet sich den graduierten Gelehrten in der akademischen Hierarchie von den Magistern der Artes an aufwärts bis zu den Doktoren der Theologie, der Rechte und der Medizin. Es mag einmal – wie auch für den Augenblick dieser 6. Band des Jahrbuchs – mit seinen geschätzten ca. 35.000 Personen dem besseren Verständnis von Wirkung und Leistung der mittelalterlichen deutschen Universitäten im Kreise ihrer europäischen Schwestern dienen.

Rainer Christoph Schwinges

Wenn auch das Jahrbuch seit Band 3 (2000) zu Themenschwerpunkten mit Gastherausgebern übergegangen ist, sei es hier noch einmal ausdrücklich gesagt: Mindestens ein Drittel des Platzes steht immer anderen Beiträgen frei. Für den vorliegenden Band erhielten wir eine materialreiche Studie der Göttinger Osteuropahistorikerin Trude Maurer zu der Frage, ob der I. Weltkrieg für Frauen an deutschen Universitäten tatsächlich ein „Emanzipationshelfer“ war. Matthias Steinbach blickt am Beispiel Jena mit unverkennbarem Reforminteresse auf das Spannungsverhältnis von Lehrerbildung und Universität im 19. und 20. Jahrhundert. Die Rubrik „Editionen“ wird diesmal allein von Klaus-Peter Horn aufrechterhalten, der zweierlei Einspruch gegen die Entlassung von Paul Tillich 1933 in ihrem universitären und politischen Kontext analysiert. Welche Hindernisse der Kalte Krieg in beiden deutschen Staaten einem Wissenschaftler und homo politicus in den Weg legen konnte, bezeugt das Leben des Altphilologen und Philosophen Rudolf Schottlaender. Zum hundertsten Geburtstag im November 2000 veranstaltete Guntolf Herzberg (Berlin) erstmals ein Symposium zu Ehren Schottlaenders an der Humboldt-Universität. Wir drucken hier die Rede von Götz Aly. Die Miszelle von Dieter Hoffmann setzt ein Thema fort, das schon in Band 1 und 5 des Jahrbuchs behandelt wurde: Denkmäler in der Geschichte der Universitäten. Nicht weniger interessant als ihre Aufstellung kann, wie im Falle des Berliner Max-Planck-Denkmals, auch die Geschichte ihrer Nicht-Aufstellung sein.

In Band 5 des Jahrbuchs hatten wir neu die Rubrik „Aus den Universitätsarchiven“ eröffnet. Ein Rundbrief der Redaktion im November 2001 an alle deutschsprachigen Universitäts- und Hochschularchive, in dem wir zur Mitarbeit speziell in dieser Rubrik einluden, fand erfreulichen Widerhall. Drei der daraufhin eingetroffenen Beiträge drucken wir hier. Dietmar Schenk vom Berliner Archiv der Universität der Künste und Angela Dolgner von der Hochschule für Kunst und Design in Halle schließen mit ihren Präsentationen an unser vorangegangenes Thema „Universität und Kunst“ an. Dieter Speck widmet sich dem durch die gegenwärtige Rechtsprechung aktuellen Problem der Zwangsarbeit im Bereich der Universität während der NS-Zeit. Im nächsten Band wird Wolfgang Müller über institutionelle Besonderheiten, die sich aus der französischen Besatzungszeit für die Universität des Saarlandes ergaben, berichten. Doch noch einmal möchten wir alle Universitäts- und Hochschularchivare einladen, uns zu neuen unbekannten Quellen der Universitätsgeschichte zu führen.

Ergänzend zum Schwerpunktthema „Universität im Mittelalter“ bat die Redaktion Stefan Ehrenpreis, über Neuerscheinungen zur bisher von uns vernachlässigten Universitätsgeschichte der Frühen Neuzeit zu berichten. Vielleicht regt sein Forschungsbericht zu neuen Studien für unser Jahrbuch an. Reinhard Mehring bespricht aktuelle Publikationen zur Universitätsgeschichte von Politikwissenschaft und Philosophie.

Bereits seit zwei Jahren kooperiert die Redaktion des Jahrbuchs mit der Oxforder History of Universities, für deren fortlaufende Bibliographie wir universitätsgeschichtliche Neuerscheinungen deutscher Verlage anzeigen. Jetzt haben wir auch Kontakt aufgenommen zu den 1997 in Bologna gegründeten Annali di Storia delle Università Italiane, die Gian Paolo Brizzi herausgibt.

Andreas Eckert (Hamburg) ist der Gastherausgeber unseres nächsten Jahrbuchs zum Thema „Universitäten und Kolonialismus“.

Marie-Luise Bott, Oktober 2002

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Rainer C. Schwinges, Marie-Luise Bott:
Editorial (7)

I. Abhandlungen

Rainer C. Schwinges:
Mit Mückensenf und Hellschepoff. Fest und Freizeit in der Universität des Mittelalters (14. bis 16. Jahrhundert) (11)

Christian Hebeisen, Thomas Schmid:
De Zusato, Coloniensis dioecesis. Über Herkunftsräume armer Universitätsbesucher im Alten Reich (1375 bis 1550) (28)

Stephanie Irrgang:
Scholar vagus, goliardus, ioculator. Zur Rezeption des „fahrenden Scholaren“ im Mittelalter (51)

Beat Immenhauser:
Universitätsbesuch zur Reformationszeit. Überlegungen zum Rückgang der Immatrikulationen nach 1521 (69)

Eva Doležalová:
Kleriker an der Prager Universität am Vorabend der hussitischen Revolution (89)

Trude Maurer:
Der Krieg als Chance? Frauen im Streben nach Gleichberechtigung an deutschen Universitäten 1914-1918 (107)

Matthias Steinbach:
Kuckucksei im akademischen Nest? Zum Einfluß von Lehrerbildung und Pädagogik auf eine deutsche Traditionsuniversität im 18. und 19. Jahrhundert (139)

II. Editionen

Klaus-Peter Horn:
Unklare Fronten. Zwei Dokumente zur Situation an den Universitäten im Frühjahr 1933 (161)

III. Miszellen

Suse Baeriswyl:
Die graduierten Gelehrten des Alten Reiches und die Räte des Kurfürsten. Forschungen zur Geschichte der Räte des Kurfürsten Albrecht Achilles von Brandenburg-Ansbach im Rahmen des internationalen Projektes „Repertorium Academicum Germanicum“ (169)

Dieter Hoffmann:
„... weder schön noch typisch für die Zeit.“ Das Max-Planck-Denkmal von Bernhard Heiliger (1949/50) (184)

Götz Aly:
„Von den tragenden Volkskräften isoliert.“ Zum 100. Geburtstag von Rudolf Schottlaender (197)

IV. Aus den Universitätsarchiven

Dieter Speck:
Zwangsarbeit in Universität und Universitätsklinikum in Freiburg (205)

Dietmar Schenk:
Vorlagensammlungen für den Unterricht gewerblicher und akademischer Künstler. Zu den Beständen an Fotografien und Druckgrafik im Archiv der Berliner Universität der Künste (234)

Angela Dolgner:
Burg Giebichenstein – Hochschule für Kunst und Design Halle. Geschichte und Geschichtsdokumentation einer Kunstschule (251)

V. Rezensionen

Stefan Ehrenpreis:
Frühneuzeitliche Universitätsgeschichte – Leistungen und Defizite der deutschen Forschung seit 1990 (262)

Reinhard Mehring:
Neuere Literatur zur Institutionengeschichte der Politikwissenschaft und Universitätsphilosophie (267)

Autorenverzeichnis (273)

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