Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt 35 (2015), 2

Titel der Ausgabe 
Peripherie. Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt 35 (2015), 2
Weiterer Titel 
Dis-Placement: Flüchtlinge zwischen Orten

Erschienen
Münster (Westf.) 2015: Westfälisches Dampfboot
Erscheint 
4 Nummern in 3 Ausgaben
ISBN
978-3-89691-840-6
Anzahl Seiten
252
Preis
Einzelheft 15,00 €, Doppelheft 30,00 €, Abo 32,00 €, Abo für Institutionen 58,00 €

 

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Institution
Peripherie: Politik • Ökonomie • Kultur
Land
Deutschland
c/o
PERIPHERIE Redaktionsbüro c/o Michael Korbmacher Stephanweg 24 48155 Münster Telefon: +49-(0)251/38349643
Von
Korbmacher, Michael

Der Genfer Flüchtlingskonvention zufolge ist ein Flüchtling eine Person, die sich aufgrund begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Diese Definition verleiht diesen Personen einen besonderen Status im internationalen Recht und erkennt ihnen zumindest formal das Recht auf Schutz durch das Aufnahmeland sowie auf internationale Hilfsleistungen zu. Andererseits spiegelt sie machtvolle Annahmen wider, die dem internationalen Flüchtlingsregime zugrunde liegen und den öffentlichen Diskurs um Flucht und Migration maßgeblich bestimmen. Mit besonderem Augenmerk auf den Globalen Süden beleuchtet PERIPHERIE 138/139 die Situation von Flüchtlingen zwischen Mobilität und Immobilität, Vulnerabilität und Handlungsmacht, hinterfragt die sedentaristischen und nationalstaatszentrierten Normen und Praktiken internationaler Flüchtlingspolitiken und verweist auf die Herausforderungen einer eigenständigen, interdisziplinären und selbstreflexiven Flüchtlingsforschung sowohl im internationalen als auch im deutschsprachigen Raum.

Zu diesem Heft

Die Themen Flucht und Asyl unterliegen hierzulande starken öffentlichen und politischen Konjunkturen. Gegenwärtig stehen sie wieder oben auf der Agenda. Täglich berichten deutsche Medien von im Mittelmeer Ertrunkenen, von der großen Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung, die Neuankömmlinge zu unterstützen, von sogenannten Anwohnerprotesten gegen geplante Gemeinschaftsunterkünfte und Erstaufnahmeeinrichtungen, von den Schwierigkeiten einiger Kommunen, genügend Unterkünfte für die Erstaufnahme bereitzustellen, aber auch von Gerichtsprozessen gegen "Schleuser" und politischen Debatten auf nationaler und europäischer Ebene zum Umgang mit Flüchtenden und Asylbewerber*innen.

Angesichts dieser großen Aufmerksamkeit kann der Eindruck entstehen, Europa nehme einen großen Teil der aktuell v.a. aus Syrien, aber auch aus Afghanistan, Somalia, Sudan, Südsudan, Kongo, DR Kongo, Myanmar, Zentralafrikanischen Republik, Irak und Eritrea geflüchteten Menschen auf. Tatsächlich aber bleiben die meisten Flüchtlinge in ihrer Herkunftsregion. Dies findet seinen Niederschlag in Flüchtlingslagern, in denen Menschen unter häufig desolaten humanitären Bedingungen leben. Laut dem Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) befanden sich 2014 neun von zehn Flüchtlingen in Ländern des Globalen Südens. In der aktuellen Debatte gerät darüber hinaus die Situation anderer Geflüchteter und Vertriebener weltweit in den Hintergrund. Zu denken ist hier etwa an die über 30 Millionen Binnenvertriebenen oder an die palästinensischen Flüchtlinge, die in den Statistiken des UNHCR nicht erfasst werden, da sie unter das Mandat des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) fallen. Zudem leben in verschiedenen Teilen der Welt Flüchtlinge Jahre oder Jahrzehnte in Flüchtlingslagern oder in schwierigen Situationen in Städten außerhalb der Lager. Viele von ihnen verbringen so eine lange Zeit "zwischen Orten". Während der UNHCR in Hochglanzbroschüren dramatische Zahlen, Rankings und die aktuellen Top Ten der Flüchtlingsbevölkerungen präsentiert, geraten die (geo-)politischen Ursachen dieser langwierigen Flüchtlingssituationen (protracted refugee situations) und v.a. ihre Lösung in den Hintergrund. Auch in Deutschland ist trotz der für einzelne Gruppen recht hohen Anerkennungsquoten das "Willkommen" aufgrund eines nur temporär gewährten, humanitären Schutzes lediglich eines "auf Zeit" oder "unter Vorbehalt" (s. Mouna Maaroufis Beitrag). Es ist abzusehen, dass die Zahl der Abschiebungen in den nächsten Jahren drastisch ansteigen wird. Im Falle anderer Gruppen, etwa Personen aus dem Kosovo oder Serbien, sind die Anerkennungsquoten schon jetzt sehr gering; viele müssen "freiwillig" ausreisen, weil ihnen anderenfalls Abschiebung droht.

Einführung in den Heftschwerpunkt

Ein Flüchtling wird durch das internationale Recht als eine Person definiert, die sich aufgrund begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt (s. das Stichwort zu "Flüchtling"). Durch die Genfer Flüchtlingskonvention haben diese Personen einen besonderen rechtlichen Status inne und genießen, zumindest formal, das Recht auf Schutz durch das Aufnahmeland sowie auf internationale Hilfsleistungen. Allerdings spiegelt diese Definition machtvolle Annahmen wider. Flüchtlingspolitiken beruhen auf dem Grundsatz einer eindeutigen territorialen, d.h. nationalstaatlichen Zugehörigkeit. Flüchtlinge werden gemeinhin als außerhalb dieser "national order of things" wahrgenommen und zwischen den Staaten lokalisiert. Sie hätten ihre Nation, Kultur und Identität verloren. Dies gilt insbesondere für Flüchtlingslager, die gemeinhin mit Chaos, Entwurzelung und Verlust von Heimat assoziiert werden und als "Nicht-Orte" gelten.

Die Vorstellung, dass Flüchtlinge sich am falschen oder an einem Nicht-Ort befinden und deshalb ein Problem darstellen (s. das Stichwort zu "Displacement"), führt zu bestimmten Politiken und Praktiken. Staatliche Institutionen verfügen über die Macht, Papiere auszustellen und zu entscheiden, wer bestimmte Rechte beanspruchen darf. Zugleich schafft das internationale Flüchtlingsregime ein System, in dem die betroffenen Menschen bestimmten Kategorien (Flüchtlinge, Binnenvertriebene, Asylbewerberinnen etc.) zugeordnet werden. Solche Unterscheidungen implizieren einen Gegensatz von freiwilliger und erzwungener Migration. Es ist notwendig, internationale Grenzen zu überschreiten, um als Flüchtling Recht auf Schutz und humanitäre Unterstützung erheben zu dürfen. Die Labels werden im öffentlichen Diskurs häufig unkritisch übernommen. Sie dienen politischen Interessen, sind aber gesellschaftlich verhandelbar und können auch von den Betroffenen selbst "manipuliert" werden, um sich neue Möglichkeiten zu erschließen und sich in prekären Lebenslagen abzusichern. Das Kategoriensystem verknüpft das weltweite Mobilitätsregime unmittelbar mit den Erfahrungen der Migrantinnen. Einen bestimmten Pass zu haben oder als Flüchtling anerkannt zu sein, eröffnet Handlungsoptionen und verschließt andere. Gleichzeitig werden durch das kategoriale System eindeutige Zugehörigkeiten fixiert, multiple Zugehörigkeiten unsichtbar gemacht und die nationalstaatliche Ordnung gestärkt.

Diese Staatszentrierung des Systems wird durch den Primat der Sesshaftigkeit ergänzt. Flucht wird als lineare Bewegung dargestellt: als eine Einheit, bestehend aus Abreise und Ankunft zwischen zwei Orten, dem Herkunftsland und dem Aufnahmeland (s. dagegen den Beitrag von Giulia Borri und Elena Fontanari). In dieser Lesart ist allein das Herkunftsland die "Heimat", in die zurückzukehren alle Menschen das Recht haben. So zieht beispielsweise der UNHCR die Ansiedlung von Flüchtlingen im Erstaufnahmeland oder in einem Drittstaat erst in Erwägung, wenn die freiwillige Rückkehr in das Herkunftsland nicht möglich scheint. Dementsprechend implizieren alle auf Dauer angelegten Lösungen eine permanente Ansiedlung der Flüchtlinge. Sie basieren auf der Idee, dass Lösungen erst gefunden werden, wenn Mobilität endet. Auch Interimslösungen, wie self-settlement oder Flüchtlingslager, werden herkömmlich mit Immobilität assoziiert.

Im Gegensatz dazu stellen Mobilität und transnationale Netzwerke wichtige Bewältigungsstrategien für viele Geflohene dar, insbesondere in langwierigen Flüchtlingssituationen (s. Maja Zwicks Beitrag). Exil und Diaspora wurden als Ausdruck solchen transnationalen Lebens untersucht. Mobilität war häufig auch die Lebensweise vieler Menschen, bevor sie zu Flüchtlingen wurden. Dementsprechend werden statische Konzepte von Rückkehr und Heimat kritisiert. So wird darauf hingewiesen, dass Rückkehr nicht das "Ende des Flüchtlingszyklus", sondern häufig der Beginn eines neuen, langwierigen Integrationsprozesses oder möglicherweise Ausgangspunkt eines neuen Displacement ist. Denn aufgrund politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Transformationen in den Herkunftsorten existiert das frühere Zuhause nicht mehr in der Weise, wie es die Flüchtlinge hinter sich ließen. Andererseits durchleben die Geflohenen selbst persönliche Veränderungen. Trotzdem bleiben vielfach im Bewusstsein der Akteure des internationalen Flüchtlingsregimes, aber auch der Flüchtlinge selbst, die Vorstellung und der Wunsch einer (schnellen) Rückkehr verankert. Diese Hoffnung erfüllt sich meist nicht, und so lebt gegenwärtig fast die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit in langwierigen Flüchtlingssituationen.

In diesem Zusammenhang sind Flüchtlingslager besonders relevant, wie vor allem die Beiträge von Ulrike Krause und Sophia Hoffmann zeigen. Über lange Zeiträume werden Lager zu Orten, in denen Menschen Nachbarschaften aufbauen, ihren Lebensunterhalt verdienen und ihre Kinder großziehen. Dadurch entstehen eigene urbane, soziale und politische Beziehungen und Institutionen. Zugleich gelten hier spezifische Regeln und Machtverhältnisse. Diese Lager sind jedoch auch in lokale Kontexte eingebunden, die Insider-Outsider-Verhältnisse sowie wirtschaftliche Beziehungen zwischen Alteingesessenen und Flüchtlinge entstehen lassen. Auch Stadtteile, Städte und Länder erfahren soziale, ökonomische und politische Veränderungen, wie zurzeit bei der Aufnahme syrischer Flüchtlingen im Libanon deutlich wird. So werden die Aufnahmegesellschaften Teil von transnationalen Netzwerken und von Migrationsbewegungen.

Übersicht über die Beiträge

Den Auftakt bildet der Überblicksartikel Olaf J. Kleists, der sich mit zentralen Begriffen der Forschung zu Flucht und Asyl, rechtlichen Rahmenbedingungen und deren Implikationen sowie mit dem Stand der Forschung in diesem interdisziplinären Feld befasst. Der Autor konstatiert, dass neben den eingangs beschriebenen Tendenzen und Problemen die Flüchtlingsforschung in Deutschland noch wenig verankert ist, wohingegen die Institutionalisierung in anderen Ländern stärker ist, u.a. aufgrund der engen Verquickung mit internationalen Organisationen und staatlichen Akteuren.

Von Displacement sind Flüchtlinge auch in sogenannten Transitländern betroffen, die sie auf dem Weg vom Herkunfts- ins Zufluchtsland durchqueren müssen. Angesichts zunehmender Abschottung des Globalen Nordens bleiben die Migrantinnen häufig für lange Perioden in diesen Ländern, in denen sie ohne Schutz verschiedenen Formen der Ausbeutung ausgeliefert sind, wie Antje Missbach und Melissa Phillips darlegen. Am Beispiel Indonesiens und Libyens zeigen die Autorinnen, wie Flüchtlinge, die versuchen, aus diesen Ländern weiter nach Australien beziehungsweise Europa zu gelangen, aufgrund ihrer Schutzlosigkeit und Prekarität systematisch ausgebeutet werden. Dieser "ausbeuterische Transit" verlängert die unfreiwillige Anwesenheit der Migrantinnen, die auf informelle Netzwerke nutznießender Schmugglerinnen, Beamtinnen und Unternehmer*innen angewiesen sind.

Viele Menschen aus afrikanischen Ländern flohen während der Bombardierung Libyens durch die NATO nach Italien. Seitdem pendeln sie zwischen italienischen Städten, in denen sie Verwaltungsangelegenheit zu regeln haben, und nördlicheren europäischen Ländern hin und her. Diese zirkuläre, binneneuropäische Migration analysieren Giulia Borri und Elena Fontanari mit Schwerpunkt auf einer aufgrund ihres politischen Protests bekannt gewordenen Gruppe namens Lampedusa in Berlin. Auf Grundlage ihrer aktivistisch-ethnographischen Forschung kommen sie zu dem Ergebnis, dass sich in den Pendelbewegungen der Geflüchteten eine "Europäisierung von unten" abzeichnet, die der bürokratischen Ver-Ortung der Geflüchteten entgegenläuft.

Mit der staatlichen Reaktion der BRD auf syrische Geflüchtete setzt sich Mouna Maaroufi auseinander, die die temporären Aufnahmeprogramme für syrische Flüchtlinge analysiert. Diese Programme werden auf europäischer Ebene als Vorzeigeprogramme gefeiert und weisen tatsächlich innovative Aspekte des Umgangs mit großen Fluchtbewegungen auf. Der Artikel macht allerdings deutlich, dass sie globale und innersyrische Ungleichheiten durch klassenbasierte Auswahlkriterien verstärken, vornehmlich am Eigeninteresse der Bundesrepublik ausgerichtet sind und keinen langfristigen, sicheren Schutz gewähren.

Drei Beiträge beleuchten verschiedene Aspekte von Flüchtlingslagern. Ulrike Krause befasst sich mit geschlechtsbasierter Gewalt in konfliktbedingten Flüchtlingslagern am Beispiel der Siedlung Kyaka in Uganda. Sie zeigt auf, dass diese Gewalt zum einen aus den Geschlechterverhältnissen in den Herkunftsländern rührt, zum anderen aber auch aus den spezifischen Erfahrungen auf der Flucht und aus den Bedingungen in der Flüchtlingssiedlung zu erklären ist.

Maja Zwick widmet sich dem fast in Vergessenheit geratenen Westsahara-Konflikt und den saharauischen Flüchtlingslagern in Algerien. Sie geht der Frage nach, ob transnationale Migration eine dauerhafte Lösung der äußerst langwierigen Exilsituation der Saharauis sein kann. Dabei zeigt sie, dass Mobilität zwar die Handlungsfähigkeit der Exilbevölkerung stärkt, zugleich jedoch zu neuer Prekarität führt. Sie kommt zu dem Schluss, dass transnationale Migration zwar eine lebenswichtige Bewältigungsstrategie ist, aber das eigentliche Problem der saharauischen Flüchtlinge -- die anhaltende marokkanische Okkupation und noch immer ausstehende Dekolonisierung der Westsahara -- nicht löst.

Vor dem Hintergrund der syrischen Krise beleuchtet Sophia Hoffmann eine neue Entwicklung im Umgang mit Flüchtenden in der östlichen Nah-Ost-Region, speziell in Jordanien. Neu daran sei, dass sich internationale Organisationen, allen voran der UNHCR, und Nichtregierungsorganisationen an der Bewältigung einer Flüchtlingssituation massiv beteiligten. Die Autorin untersucht, wie sich die nationalstaats- und sicherheitszentrierten Normen und Praktiken des internationalen Flüchtlingsregimes in der Einrichtung und Führung des 2014 inmitten der Wüste eröffneten Lagers Azraq widerspiegeln. Sie zeigt, dass diese Prinzipien zu wachsender Repression und Ausgrenzung syrischer Flüchtlinge in Jordanien führen -- ganz gleich, ob die Flüchtlinge innerhalb oder außerhalb der Lager leben.

Die Stichworte dieser Ausgabe beleuchten die beiden ins Auge fallenden Begriffe des Hefttitels: Ulrike Schultz und Maja Zwick erläutern Facetten von "Displacement"; Albert Scherr führt in den Begriff "Flüchtling" ein.

Philipp Ratfisch und Helge Schwiertz zeigen in ihrem aktualitätsbezogenen Text Zusammenhänge zwischen dem Massensterben im Mittelmeer, den migrationspolitischen Entscheidungen auf nationaler und EU-Ebene sowie lokalen Rassismen auf. So eigne sich auf europäischer Ebene der Topos der Bekämpfung von Schlepper*innen als "den befeindeten Anderen", die europäische Migrationspolitik in ihrer Krise zusammenzuhalten. Als politische Perspektive regen sie neue Allianzen zwischen bürgerlich-liberalen, humanitär geprägten und linksradikalen Spektren an, die "lokale Solidarität [mit der] Skandalisierung des menschenfeindlichen Normalzustands" vereinen.

Die Lebenssituation vieler flüchtender Menschen ist durch Warten auf administrative Entscheidungen oder Weiterreise, durch Unsicherheit oder staatlich verhängte Arbeitsverbote geprägt. Bildungsinstitutionen, zivilgesellschaftliche und künstlerische Gruppen haben Initiativen gegründet, um Geflüchteten den Zugang zu Arbeit und Bildung zu ermöglichen. Interviews von Ricarda Wiese mit den zwei Aktiven Marenka Krasomil und Ayhan Tasdemir führen in das Projekt der Silent University ein.

Außerhalb des Heftschwerpunkts beschreibt Daniel Fuchs vor dem Hintergrund eines deutlichen Anstiegs der Arbeitskämpfe in der Volksrepublik China die Formierung einer Arbeiterinnenklasse und die Potenziale für die Entstehung einer neuen Arbeiterinnenbewegung in China. Er nimmt Beverly Silvers These zum Ausgangspunkt, nach der China derzeit das Epizentrum des Klassenkampfes innerhalb des kapitalistischen Weltsystems ist. Silvers Analyse gleicht er mit Erkenntnissen aus der ethnografischen Forschung chinesischer Arbeitswissenschaftlerinnen sowie aus eigenen Untersuchungen ab. Dabei zeigt er zum einen, dass die Neuzusammensetzung der chinesischen Arbeiterinnenklasse in bestimmten Perioden des Protests durch unterschiedliche gesellschaftliche, regionale, lokale und betriebliche Konstellationen gekennzeichnet ist. Zum zweiten argumentiert er, dass neue Formen der Streiks der zweiten Generation der Arbeitsmigrant*innen seit Mitte der 2000er Jahre auf eine zunehmende Verallgemeinerung der Klassenkonflikte hindeuten.

Raina Zimmering nimmt die Ermordung von 43 Studenten in Iguala im September 2014 zum Anlass, die Polizeikooperation zwischen Mexiko und Deutschland kritisch zu analysieren. Legale "Sicherheitskräfte" hatten die Studenten illegalen "Sicherheitskräften" des Drogenkartells Guerreros Unidos überantwortet. Seitdem sind die Studenten verschwunden. Der Vorfall ist ein Beispiel für die Praxis des Verschwindenlassens in diesem Land. Vor diesem Hintergrund erscheint das Abkommen über eine Zusammenarbeit der mexikanischen und der deutschen Polizei in einem fahlen Licht. So ist die mexikanische Polizei mittlerweile Teil eines einheitlichen, militärischen Sicherheitsapparats, der auch von den USA zur "Sicherung" der Nord- und Südgrenze Mexikos gefördert und gelenkt wird. Die Bundesregierung möchte sich auch hier als verlässlicher Teil des US-Sicherheitsregimes zeigen und fragt offensichtlich nicht danach, wer Opfer deutscher Waffen und Polizeistrategien wird.

Die letzte Ausgabe dieses Jahres wird sich mit der deutschen Entwicklungspolitik als Außenpolitik mit anderen Mitteln (Nr. 140) auseinandersetzen. Die erste Ausgabe des 36. Jahrgangs soll sich mit dem Thema "Konfliktfeld Stadt" (Nr. 141) beschäftigen. Ferner ist für den Sommer nächsten Jahres eine Ausgabe zur Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung geplant (Nr. 142/143) Zu diesen und anderen Themen sind Beiträge wie immer sehr willkommen. Die entsprechenden Calls for Papers finden sich auf unserer Homepage, sobald sie veröffentlicht werden.

Für unsere weitgehend ehrenamtliche Arbeit sind wir auch weiterhin auf die Beiträge der Mitglieder der WVEE, der Herausgeberin der PERIPHERIE, und auf Spenden angewiesen. Wir freuen uns daher über neue Vereinsmitglieder ebenso wie über einmalige Spenden. Unsere Bankverbindung ist im Impressum zu finden.

Summaries

J. Olaf Kleist: Researching Refugees: Challenges of Refugee Research.
Refugee research is hardly institutionalised as a field of research in Germany but is widely established internationally. Despite various debates about methodology in and implications of refugee research, a comprehensive discussion about its foundational challenges is still missing. This paper first outlines refugee research as a research field and briefly illustrates its history and its object of research. It is argued that refugee research is an element of migration studies historically and thematically, yet constitutes its own field of research due to its specific focus on refugees' rights and protection. This is followed by a discussion of central challenges that research projects in this field find themselves confronted with. Firstly, the definition of "refugee" is contested and, therefore, the object of research depends on disciplines, thematic approaches, and context, making efforts to define terminology a fixture of refugee research. This makes interdisciplinary cooperation, which requires clarity about different approaches and common research frameworks, particularly difficult in a research field where such cooperation is so crucial. Transparency is also important in regards to refugee research's relevance for practice, which is aimed at reducing suffering on the one hand and requires independence from terms and goals of practice on the other. Considering the specific vulnerability of refugees, research has to employ particularly high ethical standards of methodology and be extremely sensitive to the political implications of its research outcomes. Due to these challenges, refugee research must implement continuous reflections about its foundations in order to do justice to its subject.

Antje Missbach & Melissa Phillips: The economics of exploitative transit: conditions for migrants and refugees in Indonesia and Libya.
Faced with increasingly restrictive border protection measures, such as Australia's "Operation Sovereign Borders" and externalised border controls in "Fortress Europe", more asylum seekers and refugees attempt to reach their destinations by unauthorised means. Smuggling networks, funds to pay for journeys, and access to transit sites where onward passage can be negotiated, are critical to the success of irregular migration. This article explores access to transit sites by comparing Indonesia and Libya -- two key transit locations for people seeking to reach Australia and Italy respectively. It investigates practices in such sites and focuses on the exploitation of transit migrants, especially on the economic benefit they bring to smugglers, corrupt officials, and locals. Through analysis of the unintended consequences of border protection measures, it argues that while the economics of exploitative transit are unique to each country, in both Indonesian and Libya they operate to encourage informal networks that prey on transit migrants. Increased understanding of the economics of exploitative transit should help ensure a more protective environment for transit migrants, one that reduces their reliance on irregular means and the risk of getting stuck in unsafe environments. If the reality of exploitative transit is acknowledged, steps can be taken to reduce reliance on transit sites.

Giulia Borri & Elena Fontanari: Lampedusa in Berlin. Im-mobility of Migrants within the European Border Regime.
This paper analyses the mobility practices of forced migrants within the European border regime. It investigates the relation between the control and management mechanisms of migration and the attempts of forced migrants to move freely, crisscrossing territorial and juridical borders in Europe. The paper focuses on the experiences of a group of forced migrants, who, after escaping the war in Libya, obtained humanitarian protection in Italy, but because of the current precarious socio-economic conditions in Southern Europe, decided to leave for North European countries. A group settled in Berlin, which gave rise to a protest claiming the right to stay and work against what is foreseen by European Union law. This paper draws on ethnographic work to show the tension between individual desires and practices of free mobility and the structural and juridical constraints implemented by institutions in order to control it and contain it. Focusing on this (im)mobility highlights the internal borders of Europe and how they are continuously challenged by migrant subjects. Three different kinds of mobility emerge across the European space: mobility within national territory, infra-national mobility, and "commuting-mobility". In this way, migrant subjects create new geographies and experience the whole European territory as one place: living in Berlin, renewing documents in Milan, attending education courses in Turin, and working seasonally in Sicily or Apulia. Such mobilities are supported by networks of migrants, who continuously move, and their supporters. This suggests a process of "Europeanisation from below" that continuously challenges EU internal borders.

Mouna Maaroufi: Deserving protection: The selective process of humanitarian admission for Syrian refugees in Germany.
The often praised temporary humanitarian admission programme through which Germany grants two year residence permits to Syrian refugees in Syria and its neighbouring countries Egypt and Libya, uses several criteria, such as family and other ties to Germany, vulnerability, and useful skills for the reconstruction of Syria, in its admission selection process. This paper argues that these criteria and the temporary character of the programme allow the German state to carefully select refugees in order to minimize its legal and economic responsibilities towards them. Though some aspects of the programme facilitate the application process and economic integration of refugees and encourage a more flexible approach taking into account transnational ties and mobile solutions, the programme also risks enabling tendencies in the global refugee regime which could lead to a reduction of assumed responsibility among Northern states and to more inequality among states and refugees.

Ulrike Krause: Between Protection and Shame? Conflict-induced Refugee Settlements, Violence and Gender Relations.
This article discusses how gender relations change in refugee camps and the role sexual and gender-based violence plays. The majority of refugees are displaced due to conflicts, making refugee camps post-conflict spaces. Despite protection and assistance measures, such camps are criticized for prevailing restrictions and the prevalence of sexual and gender-based violence. Based on an empirical study of a refugee camp in Uganda, this article explores and analyses the structures in the refugee settlement, the forms and conditions of sexual and gender-based violence, as well as changing gender relations. It is argued, on the one hand, that diverse interdependent forms of sexual and gender-based violence, as well as victims and perpetrator structures exist, and, on the other hand, that the violence is linked with the changing gender relations as well as traumatic experiences made in the refugee contexts, during conflict and flight.

Maja Zwick: Transnational migration -- a durable solution? Saharawi refugees between agency and vulnerability.
Recently, scholars have advocated transnationalism as a viable and durable solution to displacement, stating that transnational mobility and networks have become an important means of sustaining refugees and, thus, increasing their agency. Drawing on the case of the Saharawi refugee camps, one of the most protracted refugee situations worldwide, this paper takes a critical approach to these assumptions. First, it shows that while transnational migration may strengthen refugees' agency it is also accompanied by new vulnerabilities. Second, it is argued that favouring transnational migration as a "durable" solution risks normalising the status quo of the Saharawi's protracted displacement, instead of engaging with solutions for the Western Sahara conflict itself; that is, ending the Moroccan occupation and decolonising Western Sahara.

Sophia Hoffmann: Who do refugee camps protect? An analysis of "care and control" in Azraq Camp, Jordan.
The Middle East has a long history of integrating refugee populations, which today is being transformed by a newly arising large international humanitarian sector. This article considers how humanitarian knowledge and practice is shaping the social environment available to Syrian refugees in Jordan via an investigation of the recently opened Azraq refugee camp. Arguing that the concept and form of Azraq can be explained in part by international refugee aid's political underpinnings of nationalism, the article focuses on the question of humanitarianism's security logic. Azraq's order is shaped by three security concerns: the security of the refugees, the security of the Jordanian state, and the security of the aid workers themselves. At the same time, this order constitutes refugees as vulnerable and as a security risk that needs to be controlled and managed.

Daniel Fuchs: The New "Epicenter of World Labour Unrest"? Class Composition and Workers' Struggles in China since the 1980s.
Against the backdrop of a significant rise in workers' struggles in the People's Republic of China since the beginning of "reform and opening up" in 1978, this article discusses processes of working class formation and the potential for the emergence of a new labour movement in China. It takes Beverly Silver's proposition that China is currently becoming the epicentre of class struggle within the capitalist world system as its starting point. Silver's world-historical and macro-sociological analysis is confronted with findings from ethnographic research undertaken by Chinese labour scholars as well as data collected by the author via qualitative interviews with a variety of labour activists and academics on the specific forms and contents of workers' struggles in China. Through an overview and contextualisation of labour unrest over the last thirty-plus years, it is firstly shown that the recomposition of the Chinese working class is characterised by specific periods of labour protest with distinct qualitative characteristics. Secondly, it is argued that since the mid-2000s one can see new patterns of strikes, originating in the second generation of migrant workers, which point towards an increasing generalisation of class action. Finally, the article discusses factors that inhibit more stable forms of working class organisation.

Inhaltsverzeichnis

INHALT

Zu diesem Heft, S. 143

J. Olaf Kleist: Über Flucht forschen. Herausforderungen der Flüchtlingsforschung, S. 150

Antje Missbach & Melissa Phillips: Die Ökonomie des ausbeuterischen Transits. Lebensbedingungen von Migrant*innen und Asylsuchenden in Indonesien und Libyen, S. 170

Giulia Borri & Elena Fontanari: Lampedusa in Berlin: (Im)Mobilität innerhalb des europäischen Grenzregimes, S. 193

Mouna Maaroufi: Selektiver Schutz. Das humanitäre Aufnahmeprogramm für syrische Flüchtlinge in Deutschland, S. 212

Ulrike Krause: Zwischen Schutz und Scham? Konfliktbedingte Flüchtlingssiedlungen, Gewalt und Geschlechterverhältnisse, S. 235

Maja Zwick: Transnationale Migration – eine dauerhafte Perspektive? Saharauische Flüchtlinge zwischen agency und vulnerability, S. 260

Sophia Hoffmann: Wen schützen Flüchtlingslager? „Care and Control“ im jordanischen Lager Azraq, S. 281

Daniel Fuchs: Das neue „Epizentrum weltweiter Arbeiterunruhe“? Klassenzusammensetzung und Arbeitskämpfe in China seit den 1980er Jahren, S. 303

DISKUSSION

Philipp Ratfisch & Helge Schwiertz: Konsequenzen anti-migrantischer Politik Von den europäischen Außengrenzen bis in die deutsche Provinz, S. 327

Raina Zimmering: Trägt das deutsch-mexikanische Sicherheitsabkommen zur Eingrenzung oder zur Verstärkung von Menschenrechtsverletzungen in Mexiko bei? S. 336

PERIPHERIE-Stichwort

Ulrike Schultz & Maja Zwick: Displacement, S. 355
Albert Scherr: Flüchtling, S. 358

DOKMENTATION

Ricarda Wiese: The Silent University – Wie geflüchtete Akademiker_innen ihr Recht auf Arbeit einfordern, S. 361

REZENSIONEN, S. 368

Elena Fiddian-Qasmiyeh, Gil Loescher, Katy Long & Nando Sigona: The Oxford Handbook of Refugee and Forced Migration Studies (J. Olaf Kleist); Clifton Crais & Thomas V. McClendon (Hg.): The South Africa Reader. History, Culture, Politics (Rita Schäfer); Simbabwe – Autoritäre Herrschaft und Gewalt als Machtinstrument. Sammelrezension zu Michael Bratton: Power Politics in Zimbabwe, Abiodun Alao: Mugabe and the Politics of Security in Zimbabwe, Martin Rupiya (Hg.): Zimbabwe‘s Military. Examining its Veto Power in the Transition to Democracy 2008-2013, Alois Mlambo: A History of Zimbabwe (Rita Schäfer); Alexander Anievas, Nivi Manchanda & Robbie Shilliam (Hg.): Race and Racism in International Relations. Confronting the Global Colour Line (Daniel Bendix); Yash Tandon: Trade is War. The West‘s War Against the World (Arndt Hopfmann); Birgit Englert & Barbara Gärber (Hg.): Landgrabbing. Landnahmen in historischer und globaler Perspektive (Benedikt Kamski); Rita Barnard (Hg.): The Cambridge Companion to Nelson Mandela (Rita Schäfer)

Eingegangene Bücher, S. 386
Summaries, S. 388
Zu den Autorinnen und Autoren, S. 391

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