Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016), 2

Titel der Ausgabe 
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64 (2016), 2
Weiterer Titel 

Erschienen
München 2016: Oldenbourg Verlag
Erscheint 
vierteljährlich
Preis
Jahresabo: 59,80€, Stud.abo: 34,80€ Mitgl.abo. hist. u pol. Fachverbände: 49,80€, Online-Zugang: 49€, Print+Online-Abo 72€

 

Kontakt

Institution
Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Land
Deutschland
c/o
Redaktion Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Institut für Zeitgeschichte, Leonrodstraße 46b, 80636 München, vfz@ifz-muenchen.de
Von
Klehr-Stiglbauer, Evelyn

Abstracts deutsch

Thomas Wolf, Die Anfänge des BND. Gehlens Organisation – Prozess, Legende und Hypothek

Der lange verbreitete Gründungsmythos des Bundesnachrichtendienstes über die Anfänge der Organisation Gehlen hat nichts mit der tatsächlichen historischen Entwicklung zu tun. Unter der Leitung des Abwehroffiziers Hermann Baun und großzügig von der US-Army finanziert, entstand wenige Monate nach Kriegsende ein heterogener Nachrichtendienst, dem bald hunderte Personen angehörten, der aber wenig erfolgreich arbeitete. Reinhard Gehlen besaß zunächst kaum Einfluss, setzte sich aber dank seiner uneingeschränkten Anlehnung an die USA im Führungskonflikt gegen Baun durch. Die wenig strukturierte Organisation wurde mit ihren dysfunktionalen Arbeitsweisen unter seiner Leitung nolens volens fortgeführt. Mittels gezielter Legendenbildung gelang es Gehlen unter politischem Erfolgsdruck, den Wildwuchs zum Strukturprinzip des entstehenden BND zu machen. Bundesregierung, Parlamentarier und Öffentlichkeit nahmen seine Vorstellungen bereitwillig auf, wodurch sich der BND der üblichen administrativen Kontrolle weitgehend entziehen konnte. Das erklärt auch, weshalb aus Gehlens Organisation Personen mit teils schwerster NS-Belastung in den BND übernommen wurden.

Paul Fröhlich und Alexander Kranz, Generäle auf Abwegen? Ludwig Ritter von Radlmeier und Adolf von Schell und die Rüstungsbürokratie des Dritten Reiches zwischen militärischer Tradition und „Neuer Staatlichkeit“

Neuere Forschungen zum Wesen des „Dritten Reiches“ reduzieren das nationalsozialistische Herrschaftsgefüge nicht ausschließlich auf ein ineffizientes Chaos. Vielmehr attestieren sie dem polykratischen NS-Staat auf der Grundlage von Konkurrenz, Personalisierung und Informalisierung von Politik und Kommunikation ein hohes Mobilisierungspotenzial. In diesem Kontext hat die Einbindung „der“ Wehrmacht bisher kaum Eingang in aktuelle Diskussionen gefunden. Die Position und Funktion der militärischen Ebene ist vielfach als passiv wahrgenommen worden und ihr Wirken auf eine kriegführende Domäne beschränkt worden. Am Beispiel der beiden Generäle Ludwig Ritter von Radlmaier und Adolf von Schell, die bereits bei der Aufrüstung der Reichswehr als zentrale Akteure in der Organisation und Mobilisierung der Panzertruppe hervorgetreten waren, zeigt sich beispielhaft, dass informelle Praktiken in der Wehrmacht adaptiert wurden. Die Grenzen der militärischen Ordnung wurden überschritten und eine vermeintliche Integrität des Offizierkorps wurde partiell aufgehoben. Die militärische Rüstungsbürokratie des Heeres reagierte nicht einheitlich auf die dynamischen Praktiken des NS-Systems, sondern entwickelte sich zu einem heterogenen Konstrukt von Eigeninitiativen.

Max Plassmann, „Auftretende Härten gehen ausschließlich zu Lasten der SS“. Die Reichsumsiedlungsgesellschaft im besetzten Polen

Der Aufsatz beschäftigt sich auf der Basis neu entdeckter Quellen mit den Aktivitäten der Reichsumsiedlungsgesellschaft (RUGES) in Polen und in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs. Ähnlich wie im Deutschen Reich hatte die 1935 gegründete RUGES dort die Aufgabe, Land für Truppenübungsplätze der Wehrmacht und der Waffen-SS zu beschaffen. Seit 1940 wurden zwischen 200.000 und 400.000 Polen und Ukrainer für diese Zwecke enteignet und zwangsumgesiedelt. Den Druck, so rasch wie möglich die geforderten Übungsplätze einzurichten, gab die Reichsumsiedlungsgesellschaft häufig an die Bevölkerung weiter, auf deren Kosten sich die unterschiedlichen deutschen Akteure am schnellsten einigen konnten. Wenn sie im Gesamtzusammenhang der NS-Verbrechen auch keine Schlüsselstellung einnahm, so kann die Tätigkeit der Reichsumsiedlungsgesellschaft davon keineswegs getrennt gesehen werden. Nach 1945 entwickelten ihre Mitarbeiter dennoch eine Entlastungsstrategie, der zufolge alle Verbrechen anderen zuzurechnen waren und sie selbst bis hart an die Grenze zum Widerstand die Interessen der Polen und Ukrainer vertreten hätten.

Jacob S. Eder, Liberale Flügelkämpfe. Hildegard Hamm-Brücher im Diskurs über den Liberalismus in der frühen Bundesrepublik

Bis in die sechziger Jahre spalteten Flügelkämpfe zwischen linksliberalen und nationalliberalen Kräften, welche vor allem auf der Ebene der Landesverbände ausgetragen wurden, die FDP. Gut erforscht ist beispielsweise der Fall Nordrhein-Westfalen. Über die Entwicklung des organisierten Liberalismus im Nachkriegsbayern ist hingegen relativ wenig bekannt. Auch hier rangen „Liberale“ auf der einen und „Nationale“ (darunter etliche ehemalige Nationalsozialisten), welche die FDP auf einen Rechtskurs bringen wollten, auf der anderen Seite um die Vorherrschaft in der Partei. In diesem Kontext profilierte sich die Hildegard Hamm-Brücher im Laufe der fünfziger Jahre als eine der prominentesten Repräsentantinnen des linksliberalen Flügels und zog dabei das Interesse der Öffentlichkeit und der Presse auch jenseits Bayerns auf sich. Der Aufsatz ist nicht nur der Analyse ihrer Politik gewidmet, sondern auch der Frage, wie im öffentlichen Diskurs über und um die Politikerin Hamm-Brücher Erwartungen an die Zukunft des Liberalismus sowie an zukünftige Gestaltungsformen von Politik verhandelt wurden. Untersucht wird, wie sie, die in der Partei zunächst über wenig Rückhalt verfügte, sich im Flügelstreit behaupten konnte, und warum sie zu einer Symbolfigur für liberale Politik in der gesamten Bundesrepublik wurde. Besonderes Augenmerk gilt der medialen Vermittlung von Politik und der Konstruktion des Images einer modernen Politikerin.

William Glenn Gray, Waffen aus Deutschland? Bundestag, Rüstungshilfe und Waffenexport 1961 bis 1975

Für die Mütter und Väter des Grundgesetzes gab es einen klaren moralischen Imperativ: Die Deutschen sollten keine Angriffskriege anheizen, ob in Europa oder anderswo. Während der 1960er Jahre entwickelte sich die Bundesrepublik allerdings zu einem wichtigem weltweiten Waffenlieferanten und Rüstungshelfer. Der Beitrag untersucht Versuche des Bundestags, den Waffenexport in nicht-westliche oder nicht-demokratische Länder zu verhindern. Es zeigt sich, dass aufeinanderfolgende Bundesregierungen enge parlamentarische Beschränkungen umgingen und stattdessen administrative Prinzipien verabschiedeten, die zwar in einem strengen Duktus verfasst waren, sich aber in der Praxis als recht elastisch erwiesen. Als sich Mitte der 1970er Jahre das Kabinett Helmut Schmidt mit Massenarbeitslosigkeit konfrontiert sah, warb es aktiv um Kunden in der „Dritten Welt“ – auch wenn negative Publicity und der Gegendruck von SPD-Parteiorganisationen die Ambitionen der Regierung einschränkten. Jahrzehnte später hat allerdings die Regierung Merkel das laxe administrative System der Ausfuhrgenehmigungen ausgenutzt, mit dem Resultat eines steilen Anstiegs der deutschen Rüstungsexporte.

Abstracts englisch

Thomas Wolf, The Beginnings of the Bundesnachrichtendienst. Gehlen’s Organisation – Process, Legend and Burden

The prevalent founding myth of the Bundesnachrichtendienst (the West German Federal Intelligence Service, abbreviated BND) about its beginnings as “Organisation Gehlen” has nothing in common with its actual historical development. A few months after the end of the Second World War, a heterogeneous intelligence service of soon hundreds of operatives developed under the leadership of Abwehr officer Hermann Baun. It was financed lavishly by the US Army, but did not generate many successes. At first, Reinhard Gehlen hardly had any influence, but soon succeeded in his leadership struggle with Baun due to his absolute conformity with the USA. The highly unstructured organisation with its dysfunctional operations was continued under his willy-nilly leadership. Through targeted myth formation and under political pressure, Gehlen succeeded in making uncontrolled growth the structural principle of the nascent BND. The Federal Government, parliamentarians and the general public eagerly took up his ideas. In this way, the BND was able to mostly avoid the usual administrative control measures. This also explains, why Gehlen’s organisation took on persons with a sometimes highly incriminating Nazi past.

Paul Fröhlich and Alexander Kranz, Generals Going Astray? Ludwig Ritter von Radlmeier, Adolf von Schell and the Third Reich Armaments Bureaucracy Between Military Tradition and the “New State”

Recent research on the nature of the “Third Reich” does not merely reduce Nazi power structures to an inefficient chaos. Rather, it attests that the polycratic Nazi state was capable of reaching a high degree of mobilization on the basis of competition, personalization and informality in politics and communication. In this context, the integration of the Wehrmacht has scarcely entered into current discussions. The position and function of the military leadership has been widely perceived as passive and their output limited to the belligerent domain. The article investigates the example of two generals, Ludwig Ritter von Radlmaier and Adolf von Schell, who had already emerged as central players in the organization and mobilization of the Armored Corps during the armament of the Reichswehr. They perfectly exemplify that informal practices were adapted in the Wehrmacht. The limits of regular military order were exceeded and the perceived integrity of the officer corps was partially suspended. The army armaments bureaucracy did not react uniformly to the dynamic practices of the Nazi system, instead evolving into a heterogeneous construct of their own initiatives.

Max Plassmann, “Any Occurring Hardships Are Exclusively on Account of the SS”. On the Activities of the Reichsumsiedlungsgesellschaft in occupied Poland

Based on previously unknown sources, the article focuses on the Reichsumsiedlungsgesellschaft (Reich Resettlement Corporation, abbreviated RUGES) in Poland and in Ukraine during the Second World War. Like in the Reich since 1935, its duty there was to seize land for Wehrmacht and Waffen-SS military training areas. Since 1940, 200 000 to 400 000 Poles and Ukrainians were dispossessed and forcibly relocated for this reason. The Reichsumsiedlungsgesellschaft often passed on the pressure to establish the required training areas as quickly as possible to the population, since the various German institutions could most easily reach agreements at the expense of the locals. Even if RUGES was not a key player in the overall picture of Nazi crimes, its activities cannot be separated from their overall context. However, after 1945 its personnel developed a relief strategy, according to which all crimes were attributed to others, while they were themselves almost part of the opposition by taking sides with the dispossessed population.

Jacob S. Eder, Liberal Factional Infighting: Hildegard Hamm-Brücher in the Discourse on Liberalism During the Early Federal Republic

Until the 1960s, factional infighting between the left-liberal and national liberal forces, particularly in the state parties, split the FDP (Freie Demokratische Partei, or Free Democratic Party). The case of North Rhine-Westphalia is, for example, well explored. The development of organised liberalism in post-war Bavaria is, however, relatively unknown. Here too, “Liberals” on the one hand and “Nationals”, who wanted to take the FDP on a right-wing course, on the other (among the latter many former National Socialists) struggled for predominance in the party. During the 1950s, Hildegard Hamm-Brücher stood out as one of the most prominent representatives of the left-liberal wing and thus received attention from the general public and the press even from beyond the borders of Bavaria. The article is not only dedicated to an analysis of her politics, but is also devoted to the question, how the public discourse negotiated expectations regarding the future of liberalism as well as future forms of shaping policy by focusing on the politican Hamm-Brücher. The article investigates, how she was able to assert herself despite not having much support in the party at first, and why she became a symbol for liberal politics throughout the whole Federal Republic. Special attention is given to the dissemination of policy in the media and the construction of the image of a modern politician.

William Glenn Gray, Weapons from Germany? The German Parliament, Military Aid and Weapons Exports, 1961 to 1975

To the authors of West Germany’s Basic Law, the moral imperative was clear: Germans must refrain from stoking wars of aggression, whether in Europe or overseas. During the 1960s, however, the Federal Republic emerged as an arms merchant and supplier of military aid on a global scale. This article examines efforts by the Bundestag to block the export of weapons to non-Western or non-democratic regimes. It shows that successive German cabinets eluded tight parliamentary constraints, choosing instead to adopt administrative principles that sounded severe but proved to be quite elastic in practice. When confronted in the mid-1970s with high unemployment, Helmut Schmidt’s cabinet actively courted customers in the Third World ¬– though adverse publicity and pressure from SPD party organizations kept government ambitions in check. Decades later, however, the lax administrative system for granting export permits has been exploited by Angela Merkel’s government, resulting in a steep surge in German arms exports.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Aprilheft VfZ 2016

Aufsätze

Thomas Wolf
Die Anfänge des BND
Gehlens Organisation – Prozess, Legende und Hypothek

Paul Fröhlich und Alexander Kranz
Generäle auf Abwegen?
Ludwig Ritter von Radlmaier, Adolf von Schell und die Rüstungsbürokratie des Dritten Reiches zwischen militärischer Tradition und „Neuer Staatlichkeit“

Max Plassmann
„Auftretende Härten gehen ausschließlich zu Lasten der SS“
Zur Tätigkeit der Reichsumsiedlungsgesellschaft im besetzten Polen

Jacob S. Eder
Liberale Flügelkämpfe
Hildegard Hamm-Brücher im Diskurs über den Liberalismus in der frühen Bundesrepublik

William Glenn Gray
Waffen aus Deutschland?
Bundestag, Rüstungshilfe und Waffenexport 1961 bis 1975

Notiz

Quellen zur Geschichte der Neuen Frauenbewegung im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz nach zehn Jahren

Rezensionen online

William Gray, Waffen aus Deutschland? Bundestag, Rüstungshilfe und Waffenexport 1961 bis 1975

William Gray, Weapons from Germany? The German Parliament, Military Aid and Weapons Exports, 1961 to 1975

Weitere Hefte ⇓
Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
rda_languageOfExpression_z6ann
Bestandsnachweise 0042-5702