Ein politischer Wissenschaftler, kein eingeschlossener Ordinarius. Nachruf auf Alf Lüdtke (18. Oktober 1943 – 29. Januar 2019)

Von
Michael Wildt, Humboldt Universität zu Berlin

Bereits in einem frühen Aufsatz aus dem Jahr 1978 mit dem Titel „Alltagswirklichkeit, Lebensweise und Bedürfnisartikulation“ entfaltete Alf Lüdtke sein „Arbeitsprogramm“, wie er es nannte: „Es geht aus von der Frage, wie ein gleichsam ‚breiterer‘ und sensiblerer Zugriff für die Vielfalt und den Zusammenhang der Wünsche, Strebungen, Erfahrungen und Aktionen der Menschen zu entwickeln ist.“1 Stets hat er für die Uneindeutigkeit historischer Bedingungen und Akteur/innen plädiert, für die Gleichzeitigkeit von Potentialitäten, die widersprüchliche Verflechtung von Mittun, Distanz, Gleichgültigkeit, Abkehr oder Widerstand, eben für den Eigen-Sinn der „Vielen“.

Am 18. Oktober 1943 wurde Alf Lüdtke in Dresden geboren; 1947 flüchtete seine Mutter mit ihm über die „grüne Grenze“ nach Leer in Ostfriesland, wo der Vater bereits vor dem Krieg eine Gymnasiallehrerstelle erhalten hatte. Nach Abitur und Wehrdienst begann er 1965 in Tübingen ein Studium der Neueren und Osteuropäischen Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie und war anschließend für kurze Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter von Hans Rothfels. 1965 hatte Alf Lüdtke auf Mykonos Helga Müller kennengelernt; beide heirateten 1968; 1972 wurde die Tochter Insa geboren und es war Alf, der – damals noch sehr ungewöhnlich – als „Hausmann“ fungierte, während Helga als Bibliothekarin am Institut für Politikwissenschaft für den Lebensunterhalt der Familie sorgte.

Hans Medick bemühte sich erfolgreich darum, dass Alf Lüdtke 1975 an das Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen wechselte. Gefördert vom Direktor des neuzeitlichen Arbeitsbereiches, Rudolf Vierhaus, bildeten Hans Medick und Alf Lüdtke zusammen mit Peter Kriedte und Jürgen Schlumbohm eine ungemein innovative Forschergruppe: Kriedte, Medick und Schlumbohm arbeiteten an dem Konzept der „Protoindustrialisierung“, während Lüdtke und Medick sich kritisch mit der Sozialgeschichte Bielefelder Prägung auseinandersetzten. Sie brachten erste Überlegungen zu einer sozialanthropologisch fundierten Alltagsgeschichte ein. In einem gemeinsamen, 1976/77 verfassten Text „Geschichte für wen?“, der erst drei Jahrzehnte später veröffentlicht wurde,2 kritisierten sie den modernisierungstheoretischen, eurozentrischen Ansatz der Historischen Sozialwissenschaft und forderten stattdessen eine Orientierung auf das „Alltagsleben“, verstanden als „Focus“, der „nicht nur einen Arbeitsbereich unter anderen“ umreißt. „Im Gegenteil: Der Zusammenhang von Produktion und Reproduktion liefert einen thematischen Schlüssel für die Verknüpfung der gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen.“3

Was in diesem Text – Pierre Bourdieus Überlegungen zum „symbolischen Kapital“ und einer „violence douce“ aufgreifend – über das Verhältnis von Herrschaft, Macht und Gewalt angelegt war, arbeitete Alf Lüdtke in seiner Dissertation über den Zusammenhang von staatlicher Gewalt und Vorstellungen „guter Ordnung“ in Preußen im 19. Jahrhundert weiter aus. Im Zentrum dieser Studie, die 1982 unter dem Titel: „‚Gemeinwohl‘, Polizei und ‚Festungspraxis‘. Innere Verwaltung und staatliche Gewaltsamkeit in Preußen, 1815–1850“, bei Vandenhoeck & Ruprecht erschien, stand die Gleichzeitigkeit von physischer und symbolischer Gewalt. Herrschaft konstituierte sich nicht allein durch Zwang und Gewalthandeln von oben, sondern ebenso durch Mitwirkung von unten: Herrschaft als soziale Praxis. Konsequent forschte Alf Lüdtke an einer umfassenden Geschichte der Polizei weiter, die neben Kontrolle und Gewalt ebenso obrigkeitsstaatliche Fürsorge („Policey“), „Sicherheit“ wie „Wohlfahrt“ im Blick hat. Er initiierte das internationale Kolloquium zur Polizeigeschichte, das seit 1990 bis heute jährlich stattfindet und vor allem Forschungen jüngerer Wissenschaftler/innen diskutiert.

Physische Gewalt blieb ein wichtiges Arbeitsfeld für Alf Lüdtke. Der gleichnamige Aufsatzband, den er 1995 zusammen mit Thomas Lindenberger herausgab, ist bis heute eine unverzichtbare Lektüre. Alf Lüdtke interessierte die „kleine Gewalt“, die im Schatten der „großen Gewalt“ der Kriege von der Forschung lange kaum beachtet wurde, die jedoch im Alltag keineswegs „klein“ war. Am Beispiel der Ohrfeige wies er sowohl auf deren Alltäglichkeit in der Schule oder Familie hin als auch auf die nachwirkende Erschütterung bei den Geohrfeigten. „Ohrfeigen waren unspektakulär. Ohrfeigen signalisierten den Geschlagenen auch, daß ‚mehr‘ beabsichtigt war als momentane Demütigung. Ohrfeigen machten sprachlos und blieben sprachlos: Ohrfeigen waren Gewalt.“4

Aber auch auf die Tötungs- und Vernichtungsgewalt im Nationalsozialismus richtete sich sein Interesse. Alf Lüdtke wandte sich gegen die Metapher eines industriellen, fabrikmäßigen Mordens, insistierte vielmehr darauf, dass der nationalsozialistische Massenmord unmittelbare, physische Gewalt bedeutete. Beides, der körperliche Akt des Mordes wie die konkreten Mörder, drohten hinter dem Bild einer Vernichtungsmaschinerie zu verschwinden. In den Briefen deutscher Arbeiter, die als Soldaten an der Ostfront kämpften und an ihre Kollegen im heimischen Betrieb schrieben, fand er eine wichtige Rechtfertigung für das Töten: Vernichtung als Arbeit. „War was work“.5

Arbeit, das heißt industrielle, manuelle Arbeit, stand im Mittelpunkt seiner Forschungen. In Kritik einer Sozialgeschichtsschreibung, die industrielle Arbeitsprozesse auf statistische Beschreibungen verkürzte, unter Politik vornehmlich Staatsbildung, Organisationsentwicklung und Programmdebatten verstand, war es Alf Lüdtke wichtig, die Spannbreite tatsächlicher Lebensweisen und Widersprüche, die Körperlichkeit der Arbeit, die manuelle Handfertigkeit wie die Mühen und Anstrengungen zu erhellen, kurz: die „Formen“, wie er es später in der Einleitung zum Band über Alltagsgeschichte formulierte, „in denen Menschen sich ‚ihre’ Welt ‚angeeignet’ – und dabei stets auch verändert haben“.6

In den Studien zum Alltag der Fabrikarbeit, insbesondere zur Körperlichkeit sozialer Beziehungen, der „Neckereien“ wie der physischen Gewalt, gewann Alf Lüdtke sein Konzept des Eigen-Sinns, das wohl am stärksten mit ihm verbunden ist. In den 1980er-Jahren noch weitgehend ungeläufig, erfreut sich „Eigensinn“ mittlerweile in zahlreichen Veröffentlichungen einer positiven, Kreativität und Unangepasstheit vermittelnden Konnotation. Lüdtkes Konzept des Eigen-Sinns ist dagegen weit offener, mehrdeutiger und subtiler gedacht. In einem der letzten Texte, die Alf Lüdtke vor seinem Tod zusammen mit Thomas Lindenberger verfasste, der Einleitung zu einem polnischen Band mit Beiträgen zum Eigen-Sinn, heißt es: „Im Konzept des Eigensinns geht es um diejenigen Sinnproduktionen und Sinnbezüge, die dem Individuum zugehörig bleiben, insbesondere auch in einer Herrschaftsbeziehung, und zwar beim der Herrschaft unterworfenen Individuum. Sie sind an die Sinne und den Körper dieses Individuums gebunden.“7 Mörderischer Übereifer in Gewaltsituationen wie das beflissene Mitmachen standen ebenso im eigensinnigen Ermessen wie gleichgültige Distanz, die zögerliche Teilhabe oder der Versuch des unbeschadeten Durchkommens. Das Konzept des Eigen-Sinns stellt an Forscher/innen stets die Aufgabe, genau hinzuschauen, die Vielfalt von Handlungen und Bedeutungen, die Widersprüchlichkeit von Verhaltensweisen, die Uneindeutigkeit von Akteur/innen in den Blick zu nehmen.

Eigen-Sinn zu erforschen, hieß auch, Selbstzeugnisse als Dokumente ernstzunehmen. Fotografien waren für Alf Lüdtke ebenso unverzichtbare Quellen wie Tagebücher. Sein Aufsatz über „Gesichter der Belegschaft. Porträts der Arbeit“ in dem von Klaus Tenfelde herausgegebenen Band „Bilder von Krupp“ (1994) ist ein Glanzstück einer visuellen Alltagsgeschichte der Industriearbeit von Männern wie Frauen. Etliche weitere Studien zur Fotografie folgten. Eingehend beschäftigte er sich mit dem „Erinnerungsbuch“ des 1891 geborenen Krupparbeiters Paul Maik. Dabei war ihm auch die Materialität der Quellen wichtig, die Stofflichkeit der Dokumente, das bröckelnde Papier wie das vergilbte Foto, die Gebrauchsspuren des Notizbuches wie der steife Bogen, mit dem die Akten eingeschlagen sind. Die Sprödigkeit des historischen Materials, der „Geschmack des Archivs“ (Arlette Farge) stellte für ihn einen unerlässlichen Bestandteil wissenschaftlicher Arbeit dar.

Alf Lüdtke war ein politischer Wissenschaftler, kein im akademischen Elfenbeinturm eingeschlossener Ordinarius. Die Zeitschrift „Sozialwissenschaftliche Informationen für Wissenschaft und Unterricht“, die er 1972 als Tübinger Student mitbegründete und deren langjähriger, engagierter geschäftsführender Herausgeber er war, wandte sich, wie es im Editorial hieß, gegen die „Fragwürdigkeit überkommener Fächergrenzen“ und trat für die Überzeugung ein, dass „praktische Vernunft in ihren gesellschaftlichen Bedingungen und Konsequenzen, dass Selbstbestimmung und Spontaneität zu fördern sind“. 1982 luden er und Hans Medick die Berliner Geschichtswerkstatt nach Göttingen ein, um die gerade im Entstehen begriffene Geschichtswerkstattbewegung mit der Wissenschaft zu verbinden. Zusammen mit Peter Schöttler verfasste er ein Plädoyer für eine bundesweite Geschichtswerkstatt. Die Zeitschrift „Geschichtswerkstatt“ und nachfolgend „WerkstattGeschichte“ wären ohne Alf Lüdtkes Initiative und Unterstützung kaum entstanden. Beide Zeitschriften hat er mit stets engagiertem Rat begleitet. Mit der Gründung der Zeitschrift „Historische Anthropologie“ 1993 zusammen mit Richard van Dülmen, Hans Medick und Michael Mitterauer setzte er auch innerhalb des akademischen Betriebes einen deutlich vernehmbaren, eigenständigen Beitrag für eine sozial- und kulturanthropologische Perspektive in der Geschichtswissenschaft. Und er knüpfte früh Beziehungen zu Kolleginnen und Kollegen in der DDR an, aus denen Freundschaften wie zu Wolfgang und Sigrid Jacobeit oder Harald Dehne erwachsen sind.

Von Anfang an schloss dieser Austausch auch die außereuropäische Welt ein. Man würde Alf Lüdtke nicht begreifen, ohne sein Verständnis von Wissenschaft als kollegialer, gemeinsamer Praxis in den Mittelpunkt zu stellen. Dazu gehörten die Zusammenarbeit mit Dipesh Chakrabarty, Gerald Sider oder David Sabean sowie Alf Lüdtkes langjährige Lehraufenthalte in Ann Arbor und in Seoul sowie die dortige Kooperation mit Jie-Hyun Lim und anderen südkoreanischen Kolleg/innen. Im Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ (re:work) an der Humboldt-Universität zu Berlin konnte er in den vergangenen Jahren seine Erfahrungen und Überlegungen mit etlichen Fellows aus aller Welt teilen.

1999 erhielten Alf Lüdtke und Hans Medick die Möglichkeit, an der Universität Erfurt eine Arbeitsstelle für Historische Anthropologie aufzubauen. Trotz aller universitär-bürokratischen Widrigkeiten – beide wurden nicht als ordentliche Professoren berufen, sondern hatten vom MPI für Geschichte finanzierte Forschungsprofessuren inne (2008 wurde Alf Lüdtke Honorarprofessor der Universität Erfurt) – stellten die Erfurter Jahre sicher eine besonders erfüllte Zeit dar. Denn hier konnte Alf Lüdtke erfahren, dass zahlreiche junge Leute bei ihm studieren und promovieren wollten. Nach all den mühseligen und zuweilen auch demütigenden Jahren des Kampfes um Anerkennung in der „Zunft“ gab es nun den Austausch, das produktive Miteinander, das gegenseitige Lernen mit jungen Wissenschaftler/innen.

Alf Lüdtke war ein herausragender Lehrender, weil er keinen hierarchischen Dünkel besaß, sondern gleichberechtigt Wissenschaft betrieb. Er hörte zu, ohne auf den akademischen Status zu achten. Neugierig, aufmerksam, aber stets auf Genauigkeit und Differenzierung pochend, hat er wie kaum ein anderer deutscher Historiker nachfolgende Wissenschaftler/innen geprägt und gefördert. Wir trauern um einen unschätzbaren Kollegen und Freund, aber verloren haben wir ihn nicht. Denn mit all dem, was wir mit ihm erleben, erfahren, forschen, diskutieren konnten, wird er uns weiter begleiten.

Anmerkungen:
1 Alf Lüdtke, Alltagswirklichkeit, Lebensweise und Bedürfnisartikulation. Ein Arbeitsprogramm zu den Bedingungen „proletarischen Bewußtseins“ in der Entfaltung der Fabrikindustrie, in: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 11, Frankfurt am Main 1978, abgedruckt in: Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Neuausgabe, Münster 2015, S. 43–79, hier S. 47f. Eine umfassende Bibliographie der Publikationen von Alf Lüdtke findet sich auf der Homepage der Universität Erfurt: https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/public-docs/Geschichte/Erfurter_Geschichtswissenschaften/Forschung/Bibliographie_komplett_Luedtke.docx (29.06.2019).
2 Der Text wurde erstmals, eingeleitet von Hans Medick, publiziert in: Belinda Davis/Thomas Lindenberger/Michael Wildt (Hrsg.), Alltag, Erfahrung, Eigensinn. Historisch-anthropologische Erkundungen, Frankfurt am Main 2008, S. 29–58.
3 Ebd., S. 57.
4 Alf Lüdtke, Die Sprachlosigkeit der rituellen „kleinen Gewalt“: Ein Beispiel, in: Thomas Lindenberger / Alf Lüdtke (Hrsg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt am Main 1995, S. 22–27, hier S. 27.
5 Alf Lüdtke, The Appeal of Exterminating „Others”. German Workers and the Limits of Resistance, in: Journal of Modern History 64 (1992), Supplement: Resistance in the Third Reich, S. S46–S67, hier S. S66.
6 Alf Lüdtke, Einleitung: Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?, in: ders. (Hrsg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt am Main 1989, S. 9–47, hier S. 12.
7 Die polnische Ausgabe ist noch zu Lebzeiten von Alf Lüdtke erschienen; eine deutsche Fassung wird von Thomas Lindenberger vorbereitet, dem ich für die Erlaubnis, aus dem Manuskript zu zitieren, herzlich danke.

Weitere bisher erschienene Nachrufe:

Thomas Lindenberger: Nachruf, in: WerkstattGeschichte, 80 (2018), S. 9–15, https://werkstattgeschichte.de/wp-content/uploads/2019/09/WG80_009-015_Nachruf-Alf-L%C3%BCdtke.pdf (27.09.2019).

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