Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter: NFDI4Memory

Von
Frank Kell, Geschäftsstelle, Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e.V.

Der Historikerverband (VHD) hat sich in den letzten Monaten und Jahren intensiv für den von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz beschlossenen Aufbau einer nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) engagiert. Diese NFDI soll Forschungsdaten, also die Datenbestände von Wissenschaft, Forschung und Lehre aller Art, nach den FAIR-Prinzipien (Findable, Accessible, Interoperable, and Re-usable) auffindbar, einheitlich zugänglich und (inter-)national vernetzbar machen sowie nachhaltig sichern. Diese von Bund und Ländern angestoßene und finanzierte Initiative ist eine große Chance für die historische Forschung.

An alle Fachdisziplinen der historisch arbeitenden Geisteswissenschaften

Die NFDI soll in einem aus der Wissenschaft getriebenen Prozess als vernetzte Struktur in eigeninitiativ sich zusammenfindenden Konsortien aufgebaut werden. Die einzelnen Fächer oder Fachgruppen sollen sich dabei selbst bestimmten Konsortien zuordnen, wobei inhaltlich begründete Doppelmitgliedschaften möglich sind. Der VHD hat sich entschieden, eine eigene Konsortialinitiative „NDFI4Memory“ mitanzustoßen, die sich an alle Fachdisziplinen der historisch arbeitenden Geisteswissenschaften wendet. Ziel ist es, eine nachhaltige und systematische Verbindung zwischen historischer Forschung, Informationswissenschaften und Daten- und Infrastrukturanbietern sowie kulturbewahrenden Institutionen (wie Archive, Sammlungen und Bibliotheken) zu entwickeln.

NFDI4Memory strebt eine dezentrale Struktur an, die alle beteiligten Akteure vernetzt und dabei die Forschenden möglichst breit auf der Grundlage ihrer wissenschaftlichen Bedarfe einbezieht. 4Memory ist als innovative digitale Forschungsumgebung sowohl von besonderer Bedeutung innerhalb der deutschen Fachcommunity als auch von internationaler Signalwirkung aufgrund der orts- und formatunabhängigen Nutzungsmöglichkeiten.

Die historisch-kritische Funktion für das digitale Zeitalter weiterentwickeln

Der Ansatz von 4Memory ist methodisch von der historischen Quellenkritik aus gedacht. In der systematischen Verbindung von Forschungs- und Ursprungsdaten, also Forschung, Quellen und Kontextinformationen, liegt nicht nur großes innovatives Forschungspotenzial, sondern vor allem auch die prinzipielle Möglichkeit, die Qualität von Forschungsdaten aller Art auf der Grundlage analoger, digitalisierter und genuin digitaler Quellen zu überprüfen. Hypertextuelle Strukturen sollen die Entwicklung einer neuen wissenschaftsgeleiteten und hinterfragbaren digitalen Wissensordnung ermöglichen. Eine digitale Ordnung muss – in gleicher Weise wie im analogen Raum – eine grundlegende Orientierung im digitalen Wissenssystem ermöglichen. Um datenbasierte Erkenntnisprozesse zu stimulieren und wissenschaftliches Arbeiten zu unterstützen, sollen nicht nur auffindbare Daten kritisch bewertbar (Etablierung eines Rezensionssystems), sondern auch „Leerstellen“ (d.h. bislang nur analog zugängliche, verlorene oder nicht vorhandene Daten) kenntlich gemacht werden. 4Memory möchte damit die wissenschaftliche und gesellschaftlich hochrelevante, historisch-kritische Funktion der Geisteswissenschaften stärken und für das digitale Zeitalter weiterentwickeln. Diese Infrastruktur soll digitales Arbeiten mit historischen Quellen und Fragestellungen in der gesamten Breite der Disziplinen verankern, international anschlussfähig und impulsgebend sein. Dringend erforderlich ist auch eine Reflexion der methodologischen und epistemologischen Dimensionen des digitalen Wandels, die im Rahmen von 4Memory geleistet werden soll.

Ein besonderes Anliegen von 4Memory ist es auch, dass die digitale Forschung eng verbunden mit der analogen Forschung bleibt, damit sich die Digital Humanities nicht zu einer „bubble“ entwickeln. Beim Aufbau der NFDI geht es für uns als Historikerinnen und Historiker also nicht zuletzt darum, die hohen qualitativen Standards unserer Fachwissenschaft ins digitale Zeitalter zu übertragen und entsprechend weiterzuentwickeln. Dieser Strukturwandel wird überspannt von der Frage, wie eine digitale Wissensordnung aus Sicht der Geschichtswissenschaft aussehen sollte.

Eine NFDI für historisch arbeitende Geisteswissenschaften muss nicht nur der großen Vielfalt und Heterogenität historischer Quellen, sondern auch der historischen Tiefe ihrer Genese und der wissenschaftlichen Einordnung der Forschungsdaten gerecht werden. Sie muss auch den Austausch mit anderen Disziplinen und Konsortien gewährleisten und den interdisziplinären Dialog fördern. Insgesamt sollen für alle Wissenschaften etwa 30 Konsortien etabliert werden. 4Memory arbeitet daher u.a. eng mit anderen geisteswissenschaftlich orientierten Konsortialinitiativen zusammen, um das breite Spektrum geistes- und kulturwissenschaftlicher Forschungsdaten zu adressieren und in einander ergänzenden Handlungsfeldern und zugleich mit klaren Aufgabenbereichen zu kooperieren. Ein gemeinsames Memorandum of Understanding finden Sie unter https://zenodo.org/record/3265763#.XUmFFHtCSUk.

Roadmap

Der Aufbau der Konsortien erfolgt in einem aufwendigen, von der DFG verantworteten Verfahren zu drei Antragsterminen in den Jahren 2019, 2020 und 2021. Wir haben uns entschlossen, zum zweiten Antragstermin im Oktober 2020 an den Start zu gehen. Der eigentliche Prozess, nämlich in enger Zusammenarbeit mit den Communities die Bedarfe zu ermitteln und adäquate Strukturen, Tools, Repositorien etc. zu entwickeln, beginnt also jetzt. Zur weiteren Information finden Sie unter https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/programme/nfdi/absichtserklaerungen/2020/2020_nfdi_4memory.pdf die Anfang Juli bei der DFG eingereichte Absichtserklärung von 4Memory (Letter of Intent). Diese Absichtserklärung ist das Ergebnis gemeinsamer Überlegungen auf zahlreichen Vernetzungstreffen in den vergangenen Monaten. Bei den beteiligten Personen und Institutionen möchte ich mich auch an dieser Stelle noch einmal für ihr großes Engagement in dieser Zukunftsfrage herzlich bedanken.

Damit der angestoßene Prozess nachhaltig im Fach verankert werden kann, müssen die damit verbundenen Fragen und Themen auch im Fach breit diskutiert werden. Dazu wird es demnächst eine Abfrage zu den vorhandenen digitalen Angeboten (wie Daten, Werkzeuge und Lehrangebote) und den wünschenswerten Entwicklungsperspektiven geben. Ab Herbst 2019 wird 4Memory dann verschiedene Regionalkonferenzen abhalten, auf denen der Entwicklungsbedarf diskutiert und für die Antragstellung gebündelt werden soll. Wenn Sie sich an diesem Prozess substantiell beteiligen möchten, wenden Sie sich bitte unter der Emailadresse 4Memory@ieg-mainz.de an Johannes Paulmann (Leibniz Institut für Europäische Geschichte Mainz), der den Prozess koordiniert und leitet, oder Frank Kell von der VHD-Geschäftsstelle.

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