Akteure (post-)sowjetischer Territorialkonflikte: Die separatistischen Bewegungen in Transnistrien und auf der Krim im Vergleich (1989-1995)

Akteure (post-)sowjetischer Territorialkonflikte: Die separatistischen Bewegungen in Transnistrien und auf der Krim im Vergleich (1989-1995)

Projektträger
Global and European Studies Institute (GESI) der Universität Leipzig ()
Ausrichter
Ort des Projektträgers
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.08.2010 - 14.08.2012
Von
Stefan Troebst

Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte historisch-sozialwissenschaftliche Projekt fragt nach der sozialen Zusammensetzung und der Funktionsweise kollektiver Akteure in den Territorialkonflikten im Zerfall der Sowjetunion. Verglichen werden die Russland-orientierten Bewegungen auf der Halbinsel Krim in der Ukraine und in der Region Transnistrien der Republik Moldova. Die Ergebnisse sollen ein weiterer Baustein sein im Versuch, die Territorialkonflikte am Ende des Staatssozialismus sowjetischen Typs zu erklären und begrifflich zu fassen. Wie in anderen Teilen der untergehenden UdSSR entwickelten sich auf der Halbinsel Krim und in der Region Transnistrien starke politische Bestrebungen für eine Abspaltung der Regionen von den neu entstandenen Staaten Ukraine bzw. Moldova. Die Auseinandersetzungen in Transnistrien mündeten in einen Kurzkrieg im Jahr 1992 mit dem Resultat einer de facto unabhängigen „Transnistrischen Moldauischen Republik“ (Pridnestrovskaja Moldovskaja Respublika – PMR). Auf der Krim dagegen gewann zwar der Kandidat der russischen Nationalisten die Präsidentschaftswahl 1994, musste aber aufgrund interner Auseinandersetzungen im von ihm geführten politischen Block nach nur wenigen Monaten wieder abtreten. Die Krim verblieb nach einem Verfassungsstreit zwischen Simferopol’ und Kiev ohne relevante gewalttätige Auseinandersetzungen als autonome Republik bei der Ukraine. Dieser Ausgang entsprach ganz und gar nicht den Erwartungen westlicher Sozialwissenschaftler, die in der Krim ein multiethnisches Pulverfass („the next Bosnia“) ausgemacht hatten, wohingegen niemand eine Sezession der bis dahin völlig unbekannten Region „Transnistrien“ erwartet hatte.

Davon ausgehend, dass es sich bei den Territorialkonflikten im Zerfall der Sowjetunion nicht um „ethnische“ bzw. kulturell determinierte Auseinandersetzungen handelt, sondern um Verteilungskämpfe über politische Macht, wirtschaftliche Vorteile und sozialen Status, werden deren Akteure als politische Bewegungen betrachtet. Diese vereinen Protagonist/innen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen, Milieus und Netzwerken, welche ihre gemeinsame Handlungsfähigkeit herstellen müssen. Deshalb wird danach gefragt, wie diese Koalition jeweils zustande kommt und wie die unterschiedlichen Interessen zu einem kollektiven Handeln und dem politischen Ziel der Separation verschmolzen werden – wie die Bewegung „funktioniert“. Aus welchen sozialen Gruppen kommen die Führenden, die Aktivist/innen, die Anhänger/innen? An welchen sozialen Orten werden sie rekrutiert und wie ist die Machtverteilung innerhalb der Bewegung? Mit welchen Mobilisierungsdiskursen wird das kollektive Handeln ermöglicht und legitimiert? Vor welchem regionalen Hintergrund sozioökonomischen Wandels formieren sich die Bewegungen? Und welche Rolle spielt der Gender-Aspekt, speziell die hohe Zahl weiblicher Protagonistinnen auf allen Hierarchiebenen?

Die Resultate des Projekts sollen einen Beitrag zur Debatte um Beschaffenheit und Ursachen der Territorialkonflikte im Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten leisten. Die lange Zeit vorherrschende Kodierung dieser Konflikte als „ethnisch“ ist in der Forschung zunehmend als unbrauchbar oder wenigstens als zu kurz gegriffen zurückgewiesen worden. Vielmehr hat sich herausgestellt, dass die Handlungsgruppen nationalistischer Mobilisierungen nicht mit der von ihnen postulierten Großgruppe identisch sind und dass die angenommenen Grenzen durch den Einsatz von Gewalt erst hergestellt werden. Zentrale Akteure der Mobilisierungen sind lokale und nationale Eliten, die im Rahmen der Konflikte politische und ökonomische Interessen verfolgen. Dennoch sind die Erkenntnisse über die Akteure, die Antworten auf die Fragen danach, aus welchen sozialen Gruppen, die Protagonist/innen kommen, über welche Netzwerke und Sozialisationen sie rekrutiert werden, und mit welcher inneren Dynamik der kollektive Akteur agiert, tendenziell oberflächlich oder schemenhaft geblieben. Das gilt im Konkreten auch für den Stand der Forschung über die hier untersuchten Fälle. Für den Transnistrien-Konflikt ist eine zentrale Beteiligung einer regionalen (post-)sowjetischen Elite aus Industriebetrieben und Staatsstrukturen herausgearbeitet worden. Auch für Krim sind die wichtigsten Organisationen und Protagonistinnen benannt worden. Eine umfassende Soziologie dieser Bewegungseliten und eine Analyse der sozialen Position der Anhänger stehen aber in beiden Fällen noch aus - an dieser Stelle setzt das Forschungsprojekt an. Neben dem Forschungsstand zu den Konflikten um 1989 sind die theoretischen Vorannahmen von drei Quellen inspiriert: einer Interpretation dieser Konflikte in den Begriffen der Regulationstheorien, den Konzepten der Bewegungsforschung/-soziologie und den konstruktivistischen Nationalismustheorien.

Das Projekt stützt sich neben der Forschungsliteratur auf verschiedene Quellenarten: Zeitungen, Publikationen der Akteure, Interviews mit Aktivist/innen der Bewegungen und – soweit zugänglich – Protokolle von Versammlungen der untersuchten Organisationen.
Aus den Publikationen der Akteure, nämlich Periodika aus dem betreffenden Zeitraum und später verfasste politische Autobiographien, und den Interviews sollen die zentralen „Wir-Gruppen“-Erzählungen und Geschichtsnarrative herausgelesen werden und als Mobilisierungsdiskurse analysiert werden. Zeitungsberichte und Erinnerungsbände liefern die Grundlage für einen Überblick über die Mobilisierungsereignisse der Bewegungen. Eine Geographie der Bewegung soll aus einer Analyse der Mobilisierungsereignisse, veröffentlichten Abstimmungs- und Wahlanalysen und einer Erfassung von sozialen Orten (Betrieb, Partei, Militär, Stadtviertel o.ä.), an denen der Separatismus stark bzw. umstritten war, erarbeitet werden. Diese Geographie wird Aufschlüsse über die soziale Verankerung der Bewegungen erlauben. Auf der Basis von biographischen Daten aus Zeitungsartikeln, Erinnerungsbänden, (Auto-)Biographien und den gemachten Interviews soll eine Kollektivbiographie der zentralen Aktivisten herausgearbeitet werden. Soziale Herkunft und die gesellschaftliche Position der Beteiligten werden aus diesen biographischen Daten zusammengetragen. Mit Hilfe der biographischen Interviews mit Aktivist/innen aus den mittleren bis oberen Hierarchieebenen werden Erkenntnisse über Rekrutierungsmuster, Machtverteilung und Karrieremöglichkeiten in den Bewegungen gewonnen. Nach diesen erarbeiteten Kriterien werden dann beide Bewegungen verglichen – die unterschiedlichen Ereignisverläufe lassen dabei qualitative Unterschiede erwarten. Die Ergebnisse des Vergleichs sind schließlich im Hinblick auf die begrifflich-theoretische Einordnung der Territorialkonflikte im Zerfall der realsozialistischen Staaten zu interpretieren.

Die Ergebnisse des Projekts sollen in einer Monographie sowie Aufsätzen in internationalen Fachzeitschriften dargestellt werden. Auf einer Tagung zum Thema „Akteure und Ökonomie in den Territorialkonflikten 1989/1991“ sollen die Resultate vergleichend diskutiert werden, nicht zuletzt auch mit Wissenschaftler/innen, die sich mit anderen Regionen als dem postsozialistischem Europa beschäftigen. In Simferopol‘ wird im Rahmen des Projekts ein Workshop zum Thema „Nationalismus, Territorialitätsregime und Gewalt“ organisiert.

Projektleiter ist der Osteuropahistoriker und Slavist Prof. Dr. Stefan Troebst, Professur für Kulturstudien Ostmitteleuropas der Universität Leipzig, Projektkoordinator und -bearbeiter der Zeithistoriker und Politikwissenschaftler Jan Zofka M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Global and European Studies Institute der Universität Leipzig.