Nachruf auf Dr. Alfred Gottwaldt

Von
Borgmann, Maria

„Mit der Nachricht von Alfred Gottwaldts Tod blieb die Zeit stehen …“ Mit diesen Worten eröffnete Dr. Susanne Kill, Deutsche Bahn, ihre Trauerrede. Die Worte treffen wohl auf Kollegen, Eisenbahnfans und Freunde von Alfred Gottwaldt in Deutschland und weltweit zu, von Yad Vashem bis zum National Research Institute for Cultural Properties in Tokio reichten die Trauerbekundungen und Nachrufe.

Geboren 1949, studierte Alfred Gottwaldt in Frankfurt am Main Rechts- und Staatswissenschaften sowie Neuere Geschichte und arbeitete dann als Jurist, Autor und Herausgeber. Bereits 1979 gab der seit frühester Kindheit vom „Eisenbahnvirus“ Infizierte das Buch über Kriegslokomotiven heraus, mit dem er bekannt wurde. Bereits hierin benennt er Vorgänge unter der NS-Herrschaft als zentrales Problem der Forschung und bezeichnet die Darstellung als ein Wagnis, weil sie keine rein eisenbahngeschichtliche sei. In der 3. Auflage 1983 heißt es, dass viele der beschriebenen Maschinen mit Hilfe von Zwangsarbeit und Kriegsgefangenen gebaut wurden und Truppentransporte, Munitionszüge und Güterwagen mit Verfolgten zogen. Er hatte also schon längst mit der Arbeit an seinem Lebensthema begonnen: der Rolle der Reichsbahn im Nationalsozialismus, beim Antisemitismus und bei den „Judendeportationen“ in die Vernichtungslager. Auf Nachfrage, warum er sich diesem schweren Thema so engagiert widme, nannte er den ersten großen Auschwitz-Prozess in Frankfurt Mitte der 1960er-Jahre, wobei ihn die Rolle des Staatsanwalts Fritz Bauer besonders beeindruckt hatte – als 15-jährigen Gymnasiasten!

1983 begann er als Kustos am damals gerade gegründeten Museum für Verkehr und Technik, heute Deutsches Technikmuseum, in Berlin mit den Vorbereitungen für den Aufbau einer circa 6.000 Quadratmeter großen Dauerausstellung zum Schienenverkehr unter dem Titel „Züge, Loks und Leute“. Er sorgte dafür, dass etliche Bestände aus dem früheren Verkehrs- und Baumuseum im Hamburger Bahnhof dem Technikmuseum übereignet wurden. Nicht zuletzt gelang es ihm, den seit langem „versteckten“ legendären Wagen 11 aus dem Hofzug Kaiser Wilhelms II. zu finden und ins Museum zu holen.

1985 wirkte Gottwaldt an der 150-Jahr-Ausstellung der Deutschen Bundesbahn „Zug der Zeit – Zeit der Züge“ in Nürnberg mit. In der Ausstellung des Deutschen Technikmuseums unter dem Titel „Mit der Reichsbahn in den Tod“ wurde die Rolle der Reichsbahn im Nationalsozialismus erstmals in größerem Umfang dargestellt. Unter anderem machte Gottwaldt einen gedeckten Güterwagen, wie sie für die Deportationen in die Vernichtungslager eingesetzt wurden, „zu einem gleichberechtigten Exponat neben den Lokomotiven und anderen eisenbahntechnischen Glanzstücken“ (Andreas Nachama).

Damit stieß Gottwaldt, der nicht nur als Eisenbahn-Fachmann und Autor zahlreicher Bücher zur Technik-, Kultur- und politischen Geschichte der Eisenbahn bereits weithin bekannt war, mit seiner Arbeit in eine andere Dimension vor, die eng mit der Prämisse verknüpft war, den Objekten sichtbar die Spuren ihrer Geschichte zu belassen – das konnten auch verrostete Teile ausgemusterter und verwitterter Lokomotiven sein –, ihre Zusammenhänge zu zeigen und sie zum Sprechen zu bringen mit Dokumenten und „Alltagsobjekten“. Sonderausstellungen zur Kulturgeschichte der Eisenbahn wie „Speisen auf Reisen“ sowie zu den Architekten Berliner Eisenbahn- und S-Bahnbauten Alfred Grenander und Richard Brademann erweiterten den Rahmen der Dauerausstellung.

Immer intensiver widmete sich Alfred Gottwaldt seinen Forschungen zur NS-Zeit und wirkte unter anderem beratend an der Wanderausstellung der Deutschen Bahn „Sonderzüge in den Tod“ mit. 2007 erstellte er mit Diana Schulle im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung das Forschungsgutachten „,Juden ist die Benutzung von Speisewagen untersagt’. Die antijüdische Politik des Reichsverkehrsministeriums zwischen 1933 bis 1945“. 2009 kam „Eisenbahner gegen Hitler. Widerstand und Verfolgung bei der Reichsbahn 1933–1945“ heraus. 2011 erschien sein Buch „Die Reichsbahn und die Juden 1933–1939. Antisemitismus bei der Eisenbahn in der Vorkriegszeit“. Es war geplant, mit Unterstützung der Deutschen Bahn dieses Thema bis 1945 in einem zweiten Band fortzusetzen.

Auch die mit Diana Schulle erarbeitete, 2013 veröffentlichte Publikation „Die ,Judendeportationen’ aus dem Dritten Reich 1941–1945“ reiht sich in die grundlegenden Arbeiten zur Rolle der Eisenbahn im NS und beim Holocaust ein. Akribische Aktenstudien weltweit, insbesondere aber die Fähigkeit, mit den technikhistorischen, logistischen und politischen Fakten die ganz persönlichen Biografien von Tätern und vor allem von Opfern und ihren Nachfahren zu verbinden, die er häufig nach geradezu detektivischen internationalen Recherchen ausfindig machte, zeichnen Gottwaldts Publikationen aus und verleihen ihnen Authentizität und „Lebensnähe“. Zugleich konnte er die komplexe Problematik in einer klaren, einfachen Sprache darstellen, was ihn auch zu einem rhetorisch glänzenden und sehr gefragten Redner machte. Forschungs- und Vortragsreisen führten ihn regelmäßig zu internationalen Institutionen wie Yad Vashem in Jerusalem oder dem United States Holocaust Memorial Museum in Washington, DC.

Die biografische Komponente kam besonders in der Ausstellung „Orenstein & Loewe. 20 deutsch-jüdische Techniker, Ingenieure und Fotografen“ von 2013 zum Tragen, die Gottwaldt mit einem Team junger Wissenschaftler konzipierte. Sie hat in Teilen eine Fortsetzung in der vom Centrum Judaicum herausgegebenen Reihe „Jüdische Miniaturen“ gefunden, so in den Bänden zu Ernst Spiro, Benno Orenstein und Paul Levy.

Mit großer Empathie stand er im Kontakt mit den NS-Gedenkstätten und setzte sich vehement dafür ein, dass das Gleis 17 am Bahnhof Berlin-Grunewald zu einem Gedenkort wurde. Vor einigen Monaten erschien im Verlag Hentrich und Hentrich seine Recherche „Mahnort Güterbahnhof Moabit. Die Deportation von Juden aus Berlin“, auch hierin bewegende persönliche Dokumente von Deportierten.

Alfred Gottwaldt verband seine wissenschaftliche und ausstellungsbezogene Arbeit immer wieder mit einem sehr engagierten Mentoring jünger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Das international ausstrahlende Netzwerk, die Fähigkeit, Freundschaften zu schließen und zu bewahren, auch seine Unterstützung sozialer Projekte wie der Jenny-de-la-Torre-Stiftung, seine Empathie für Menschen, denen er nicht selten sperrig und kritikfreudig, aber dann wieder charmant und liebenswert begegnete, zeigen Alfred Gottwaldt als einen tiefgründigen, lebensfreudigen, klugen, ehrlichen, manches Mal gewitzten, nachdenklichen und durchaus auch kindlich-fröhlichen Menschen, der sein schwieriges Lebensthema unerbittlich verfolgte. Erst ein halbes Jahr im Ruhestand, saß er dennoch fast jeden Tag am Schreibtisch, plante zahlreiche Vortragsreisen und Buchprojekte, fand – mit übermütiger Entdeckerfreude – immer wieder Überraschendes auf Flohmärkten.

Alfred Gottwaldt starb am 16. August unerwartet mit gerade 65 Jahren. In seiner Arbeit hat er Maßstäbe gesetzt. Als Forscher, Mensch und Freund hinterlässt er eine nicht zu schließende Lücke.

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