Eine Geschichte der Intellektuellen in Medien und Kultur der Bundesrepublik – das war das letzte Projekt des Hamburger Historikers Axel Schildt, der in der vergangenen Woche, am 5. April 2019, im Alter von nur 67 Jahren verstorben ist. Wissenschaftlich fundierte und politisch engagierte Interventionen in öffentlichen Debatten waren Teil auch seines eigenen intellektuellen Lebens, zuletzt in der Diskussion um die Resolution des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands 2018, aber auch in der städtischen Öffentlichkeit, wo er als langjähriger Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) immer wieder den Umgang mit der NS-Vergangenheit in Medien und Selbstdarstellungen von Institutionen kritisierte. Intellektuell waren aber auch seine privaten Beobachtungen von mancherlei alltäglichen, oft skurrilen Begegnungen, die er gern mit Kolleginnen und Kollegen teilte. Axel Schildt las alle verfügbaren Zeitungen, er sah viel fern, er hörte mit Hingabe Rockmusik der Gegenkultur, vor allem The Greatful Dead und natürlich Bob Dylan. Er genoss anregende Gespräche mit Freunden und er fühlte sich für die Menschen, die mit ihm beruflich verbunden waren, verantwortlich. Seine intellektuelle Neugier führte ihn nicht in den Elfenbeinturm, sondern mitten ins Getümmel: politisch und kritisch, offen für Argumente, anregend für seine Mitstreiter, verbindlich im Umgang und stets zielorientiert, effektiv. Axel Schildt gehörte selbst zur Gruppe der (Medien-)Intellektuellen; er war ein public intellectual mit Bodenhaftung.
Die Tätigkeit zunächst als stellvertretender, dann Direktor der FZH und zugleich Professor für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg von 2002 bis 2017 bot ihm dafür ein ideales Feld. Bis er dieses Feld gewinnbringend bestellen konnte, war es jedoch ein langer Weg, nicht unüblich für die Wissenschaft des späten 20. Jahrhunderts. Nach hervorragender Promotion bei Reinhard Kühnl in Marburg zur Rolle der Reichswehrführung am Ende der Weimarer Republik ging Axel Schildt ins Referendariat nach Hamburg. Er wäre sicher ein guter Lehrer geworden, aber die Forschung reizte den damals 30-Jährigen noch mehr. In den folgenden Jahren setzte er auf neue wissenschaftliche Themen und stieß damit innovative Forschungsfragen der Zeitgeschichte an. Seine Arbeiten zur westdeutschen Gesellschaft der fünfziger Jahre, die als Habilitation 1995 unter dem Titel „Moderne Zeiten“ erschienen und in denen er die vielfältigen Ambivalenzen zwischen Beharrungskräften und Modernisierungserscheinungen differenziert analysierte, stellten die Restaurationsthese nachhaltig in Frage. Diese Fragestellung behielt Axel Schildt auch in folgenden Untersuchungen bei. Was war neu, modern in den Sechzigern oder Siebzigern, wo zeigten sich rückwärtsgewandte Tendenzen? Wie entwickelten sich Kultur und Medien sowie ihre Vermittlungsinstanzen in der Bundesrepublik? Wie schreibt man eine Sozial- und Politikgeschichte des Konservatismus? Wie erzählen wir überhaupt die Geschichte der Bundesrepublik? Axel Schildts Antworten auf diese Fragen finden sich in zahlreichen Publikationen und Herausgeberschaften. Seine kurze Skizze zu den „fünf Möglichkeiten, die Geschichte der Bundesrepublik zu erzählen“ von 1999 war Ausgangspunkt für die Festschrift „Mehr als eine Erzählung“, die zu seinem 65. Geburtstag erschien.
1997, nach Jahren der Projektarbeit und Lehrstuhlvertretungen, bekam er seine erste unbefristete Stelle als stellvertretender Direktor der neu errichteten Stiftung FZH. In den folgenden Jahren stieg die Zahl seiner wissenschaftlichen Beiträge weiter kontinuierlich an; mehr als 270 Aufsätze1 hat Axel Schildt publiziert und außerdem viele Fachgremien über lange Zeiträume mit seiner Expertise bereichert, u. a. die Akademie der Wissenschaften in Hamburg, das Fachkollegium Geschichtswissenschaft der DFG und die Zentraljury des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten bei der Körber-Stiftung. Sein Rat war auch in vielen öffentlichen Gremien in der Stadt und im Bund gefragt. 2016 wurde ihm in Hamburg die „Medaille für Kunst und Wissenschaft“ verliehen.
Seine intellektuelle Neugier übertrug Axel Schildt ebenso auf seine Lehre als Professor. Er hielt vielbeachtete und gut besuchte Vorlesungen zur Deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, bot immer wieder neue Themen in seinen Seminaren an und fand auf diese Weise viele gute Studierende, die er zur Promotion oder darüber hinaus begleitete. Axel Schildt hat dabei keine im engeren Sinne eigene „Schule“ gegründet. Vielmehr war er offen für unterschiedliche Perspektiven und Methoden der Geschichtswissenschaft – allerdings musste quellengestützt und empirisch nachvollziehbar argumentiert werden.
Auch die Intellektuellengeschichte, an der er noch bis vor wenigen Tagen schrieb, berichtet nicht nur von geistigen Höhenflügen, sondern auch schlicht von Produktionsbedingungen der Medien und wie diese von Intellektuellen genutzt wurden, von Löhnen und Honoraren, vom Wert der intellektuellen Arbeit in einer kapitalistischen Welt. Dieses spannende Projekt eines so integren Wissenschaftlers und Kollegen ist unvollendet. Es bleiben seine intellektuellen Anregungen und die Erinnerung an einen warmherzigen, humorvollen Menschen.
Kirsten Heinsohn (11. April 2019)
Anmerkungen:
1 Zeugnis über das umfangreiche Schaffen Axel Schildts legt das folgende Publikationsverzeichnis auf der Website der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg ab: https://www.zeitgeschichte-hamburg.de/files/fzh/Publikationslisten/Schildt_Publikationen_PDF%20Anhang_akt.pdf (11.04.2019)
Ergänzende Materialsammlung zum Nachruf von der H-Soz-Kult Redaktion:
Zu folgende Publikationen von Axel Schildt als Autor oder Herausgeber hat H-Soz-Kult Rezensionen veröffentlicht:
Paul Steege: Rezension zu: Bajohr, Frank; Doering-Manteuffel, Anselm; Kemper, Claudia; Siegfried, Detlef (Hrsg.): Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik. Festschrift für Axel Schildt. Göttingen 2016, in: H-Soz-Kult, 17.03.2017, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26234.
Eva Oberloskamp: Rezension zu: Schildt, Axel (Hrsg.): Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990. Göttingen 2016, in: H-Soz-Kult, 18.11.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25370.
Christoph Lorke: Rezension zu: Gallus, Alexander; Schildt, Axel; Siegfried, Detlef (Hrsg.): Deutsche Zeitgeschichte – transnational. Göttingen 2015, in: H-Soz-Kult, 07.03.2016, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-24631.
Reiner Tosstorff: Rezension zu: Führer, Karl Christian; Mittag, Jürgen; Schildt, Axel; Tenfelde, Klaus: Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland 1918–1920. Essen 2013, in: H-Soz-Kult, 14.11.2013, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-14509.
Levke Harders: Rezension zu: Nicolaysen, Rainer; Schildt, Axel (Hrsg.): 100 Jahre Geschichtswissenschaft in Hamburg. Berlin 2010 / Richter, Myriam; Nottscheid, Mirko (Hrsg.): 100 Jahre Germanistik in Hamburg. Traditionen und Perspektiven. Berlin 2011, in: H-Soz-Kult, 04.05.2012, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-16448.
Benedikt Wintgens: Rezension zu: Gallus, Alexander; Schildt, Axel (Hrsg.): Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930. Göttingen 2011, in: H-Soz-Kult, 01.11.2011, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-16112.
Christian Henrich-Franke: Rezension zu: Daniel, Ute; Schildt, Axel (Hrsg.): Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts. Köln 2010, in: H-Soz-Kult, 27.01.2011, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-15227.
Kaspar Maase: Rezension zu: Schildt, Axel; Siegfried, Detlef: Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart. München 2009, in: H-Soz-Kult, 12.02.2010, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-13544.
Andreas Wirsching: Rezension zu: Haase, Christian; Schildt, Axel (Hrsg.): »DIE ZEIT« und die Bonner Republik. Eine meinungsbildende Wochenzeitung zwischen Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung. Göttingen 2008, in: H-Soz-Kult, 11.03.2009, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-11361.
Jörg Lesczenski: Rezension zu: Schildt, Axel: Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90. München 2007, in: H-Soz-Kult, 13.02.2008, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-8522.
Maria Stehle: Rezension zu: Schildt, Axel; Siegfried, Detlef (Hrsg.): Between Marx and Coca-Cola. Youth Cultures in Changing European Societies, 1960-1980. Oxford 2006, in: H-Soz-Kult, 26.05.2006, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-5644.
Rolf Steininger: Rezension zu: Schildt, Axel (Hrsg.): Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Ein Lexikon. München 2005, in: H-Soz-Kult, 26.05.2005, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-6010.
Mario Keßler: Rezension zu: Krohn, Claus-Dieter; Schildt, Axel (Hrsg.): Zwischen den Stühlen?. Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit. Hamburg 2002, in: H-Soz-Kult, 22.01.2003, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-2283.
Thomas Etzemüller: Rezension zu: Schildt, Axel; Siegfried, Detlef; Lammers, Karl Christian (Hrsg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg 2000, in: H-Soz-Kult, 26.02.2001, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-1229.
Axel Schildt hat zwischen 1999 und 2015 verschiedene Rezensionen für H-Soz-Kult verfasst. Seine Beiträge für H-Soz-Kult finden sich unter folgender URL: https://www.hsozkult.de/person/beitraeger-5846.
Weitere bisher erschienene Nachrufe:
Martin Sabrow: Die Jahre, die er kannte. Zum Tode des Hamburger Zeithistorikers Axel Schildt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.04.2019, S. 12 (bisher nicht online),
Norbert Frei: Moderne Zeiten. In: Süddeutsche Zeitung, https://www.sueddeutsche.de/kultur/geisteswissenschaften-moderne-zeiten-1.4402495 (09.04.2019)
Willy-Brandt-Stiftung: In Memoriam Prof. Dr. Axel Schildt, https://www.willy-brandt.de/die-stiftung/aktuelles/meldung/article/in-memoriam-prof-dr-axel-schildt/ (09.04.2019)
Universität Hamburg: Die Universität Hamburg trauert um Prof. Dr. Axel Schildt, https://www.uni-hamburg.de/newsroom/campus/2019/0411-nachruf-axel-schildt.html (11.04.2019)
Frank Bösch im Namen des Leibniz-Instituts Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam: https://zzf-potsdam.de/de/news/das-zzf-gedenkt-dem-verstorbenen-zeithistoriker-axel-schildt (12.04.2019)
Mario Keßlers Nachruf in Das Blättchen vom 15. April 2019: https://das-blaettchen.de/2019/04/axel-schildt-48014.html (23.04.2019)
Marianne Zepp, Christoph Becker-Schaum und Roman Schmidt gedenken Axel Schildt in einem Nachruf für die Heinrich-Böll-Stiftung vom 12. April 2019: https://www.boell.de/de/2019/04/12/nachruf-auf-axel-schildt (26.04.2019)
Interview mit Detlef Siegfried zum Tod von Axel Schildt auf dem L.I.S.A.-Wissenschaftsportal: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/axel_schildt (09.05.2019)
Jan-Holger Kirsch: Nachruf auf | Obituary for Axel Schildt (1951–2019), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 16 (2019), S. 15–18, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2019/5703 (dt./engl., 07.06.2019)