Elektrifizierte Stimmen. Medientechnische, sozialhistorische und kulturvergleichende Aspekte der Stimmübertragung

Elektrifizierte Stimmen. Medientechnische, sozialhistorische und kulturvergleichende Aspekte der Stimmübertragung

Projektträger
Universität Konstanz ()
Ausrichter
Ort des Projektträgers
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.06.2011 - 31.12.2011
Von
PD DR Dmitri Zakharine

Konzept und Organisation:
PD Dr. Dmitri Zakharine, Universität Konstanz

Zusammenfassung
Das Ziel des Projekts besteht darin, das Phänomen der elektrifizierten Stimme mit interdisziplinären Zugängen aus medientechnischen, sozialhistorischen und kulturvergleichenden Perspektiven zu erschließen. Der Fokus richtet sich auf drei Problemkomplexe, welche die gesellschaftliche Reflexion über Aufgaben der elektrischen Stimmübertragung, die Mediation von gender- und berufsspezifischen Stimmstereotypen in audio- und audiovisuellen Formaten und die Genese dieser Stimmstereotypen in nationalen Radio- und Filmkulturen enthalten. Die Historisierung der gesellschaftlichen Erfahrung im Bereich der Stimmmediation, Stimmmediennutzung und Stimmmediendeutung hat eine hohe Relevanz im Hinblick auf das Verständnis von zeitgenössischen kollektiven Lernprozessen, die durch den rasanten Technikwandel ausgelöst werden.

Ziele und Arbeitsprogramm
Die Auseinandersetzung mit elektroakustischen Stimmmedien prägt heute zunehmend die Alltagserfahrung des modernen Geschichtszeugen. Dieser Geschichtszeuge kann zwar gelassen beim Frühstück etwas über Katastrophen lesen, doch vergeht ihm schnell der Appetit, wenn er Stimmen von Katastrophenopfern im audio- und audio-visuellen Realzeitformat erlebt. Durch die kalkulierten Strategien des Hören-Lassens kann eine individuelle Wahrnehmung in eine bestimmte Richtung manipuliert werden. Und umgekehrt: Durch den Zugang zu elektroakustischen Produktionsverfahren ergreift das Individuum die Möglichkeit zur Manipulation der fremden Wahrnehmung. Mithilfe der Änderung von Amplituden, Frequenzen und Phasenlagen ermöglichen elektronische Stimmverfremder die Modellierung neuer Identitäten, indem sie schrille Stimmen verfeinern oder Fehler im Sprachakzent unterdrücken.

Die Analyse der Hörerfahrung, die der neue Geschichtszeuge akkumuliert, erwartet von Stimmforschern ein geeignetes Untersuchungsinstrumentarium. Die Entwicklung eines solchen Instrumentariums, das an der Grenze zwischen Philosophie und Medienphilosophie, Linguistik und Medienlinguistik, Literaturwissenschaft und Filmwissenschaft, Soziologie und Mediensoziologie, Geschichte und Mediengeschichte angesiedelt werden soll, gilt als Hauptdesiderat des geplanten Projekts. Das Arbeitsprogramm des Projekts ist in vier Blöcke aufgeteilt, wobei der erste Block sich mit allgemeinen Problemen der Stimmübertragung auseinandersetzt, während sich der zweite bzw. der dritte Block mit kommunikativen Funktionen von audio- bzw. audiovisuellen Stimmformaten befasst; dagegen legt der vierte Themenblock seinen Hauptakzent auf den Wandel von Stimmstereotypen in den nationalen Filmkulturen.

Die Ausarbeitung des Begriffsapparats
A. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit allgemeinen philosophischen und ästhetischen Reflexionen über die Menschenstimme wird mit dem ersten Themenblock ein Versuch unternommen, das Phänomen Medienstimme zu historisieren und kontextuell einzubinden. Der Schwerpunkt der Diskussion bezieht sich daher weniger auf das Subversions- und Transgressionspotenzial der Stimme, das im Rahmen der Opposition ‚Performanz vs. Sprachstruktur‘ zum Tragen kommt. Vielmehr geht es um die Art der akustischen Kommunikation, die sich über die etablierten Stimmmedien in Sozialkontexten vollzieht.

B. Der Kontext, um den es im Projekt geht, ist nicht der einzige historische Kontext, in dem die Stimme kommuniziert wird. In einem großen historischen Bogen betrachtet, lässt sich dieser Kontext in Anlehnung an Walter Ong als Kontext der „sekundären Oralität“ definieren. Nach der Anpassung von oralen Ausdrucksweisen an das phonetische Alphabet der Griechen und nach der Trennung von oralen und schriftbezogenen Sprachkulturen im Zeitalter der frühneuzeitlichen Buchdruckrevolution erleben Stimmmedien mit dem Aufkommen von elektroakustischen Produktionsverfahren zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren dritten epochalen Entwicklungsschub. Das erste Anliegen, dem sich der erste Themenblock widmet, besteht deswegen darin, elektroakustische Stimmmedien im Zusammenhang mit schriftfundierten Mediationsverfahren zu erschließen. Hiermit gilt es, die folgende Frage zu erörtern: Wie setzen sich neue Stimmmedien mit der Literatur auseinander und wie reflektiert die Literatur das Vorrücken von elektroakustischen Stimmmedien?

C. Das zweite Anliegen besteht darin, den Zusammenhang zwischen der Stimme, dem Sprechakt und den Medienträgern zum Zweck der systematischen Erfassung von Medienstimmen auszuarbeiten. Der Begriffsapparat der nonverbalen Kommunikationsforschung und der Medienlinguistik, die ihren Akzent auf die sozialen und sozialpsychologischen Aspekte der Artikulation, der Prosodie und des Phrasierens legen, scheint für die Erfüllung dieser Aufgabe besonders gut geeignet zu sein. Denn anhand dieses Begriffsapparats lassen sich die folgenden Fragen behandeln. Wie sind Klangmerkmale zu erfassen, die durch die Stimmen von führenden Film- und Fernsehsprechern/-innen vermittelt und vom Testpublikum in Hörproben positiv bewertet werden? Wie hängt die Artikulation von kommunikationsrelevanten Nachrichten von Erwartungen des Zielpublikums ab? Weitere Fragen kommunikationswissenschaftlicher und kultursoziologischer Art lassen sich nahtlos an die primär medienlinguistischen Fragestellungen anschließen: Wie etablieren sich soziale Normen der Stimmbildung und wie werden diese Normen bei der Entwicklung von künstlichen Stimmen bzw. während der Aufnahme von automatischen Sprachansagen umgesetzt? Welche Rolle spielen stimmbezogene Identifikatoren und Desidentifikatoren in sozialen Interaktionen? Welche Stimmmerkmale können durch ein Stimmtraining im erwachsenen Zustand verbessert werden bzw. werden ausschließlich in der Phase der Frühsozialisation angeeignet?

Indoktrination durch Stimmmedien
Anhand der Vorträge aus den Themenblöcken II – III und der anschließenden Diskussionen soll des Weiteren festgestellt werden, welche Stimmmerkmale in diversen sozialen Kontexten für Zwecke der Propaganda, der Indoktrination, aber auch der Information und der Unterhaltung instrumentalisiert werden. Audio- und audiovisuelle Formate von elektrifizierten Stimmen werden in zwei getrennten Blöcken behandelt.
Das Audioformat bezieht sich im Regelfall auf einen akusmatischen Wahrnehmungskontext, in dem die akustische Wahrnehmung der Stimme durch eine synchrone optische Wahrnehmung der Person des Sprechenden nicht erweitert werden kann. Als Illustrationsfolie für eine akusmatische Stimmwahrnehmung kann das Hören hinter einem Vorhang dienen: Einer Legende nach versteckten sich die mithörenden (griech. akusmatikoi) Schüler von Pythagoras hinter einer Säule, um ungestört von visuellen Erlebnissen der Stimme des Lehrers zuhören zu können. Solange die Stimmquelle nicht sichtbar ist, bleibt die Zuordnung der Stimme zur konkreten Person in jedem Fall erschwert – egal, ob es sich um eine direkte oder medial vermittelte Kommunikation handelt. Die Vorwegnahmen von Zuschreibungsfehlern bei Telefonaten oder bei Gesprächen, die aus getrennten Zimmern geführt werden, sprechen für sich: „Hör mal, ist jemand bei dir im Zimmer oder ist es das Radio, das eine so nervig penetrante Stimme hat?“

Die Ausarbeitung von Stimmkomponenten, die nur akustisch wahrgenommen werden können, stellt Radioregisseure und Schallplattenstudios vor eine Reihe von Aufgaben, die im Zusammenhang mit dem zweiten Themenblock diskutiert werden sollen. Wie unterscheiden sich z.B. die Wirkungen und Deutungen von weiblichen und männlichen Stimmen in Bezug auf die Art von stimmlich übermittelten Informationen, wie etwa politische Nachrichten, Wetterberichte oder Sport-News? Auf welche Art und Weise werden allgemeine Merkmale von gendered-voices, wie z.B. eine behauchte Tongebung oder das Hochgehen der Intonation am Satzende bei Frauen, den Audioformaten der 1930er, 1960er und 1990er Jahre sowie den damaligen kommunikativen Bedürfnissen der Gesellschaft angepasst?

Anders als die Audiomedien setzen audiovisuelle Medien die Akusmatisierung (acousmatisation) als eine dramaturgische Strategie ein, welche die Wahl zwischen Zeigen bzw. Verstecken der Stimmquelle im Filmkader anheimstellt. Die Entfernung der Stimmquelle aus dem Filmkader trägt generell dazu bei, die Zuordnung der Stimme zur Person zu erschweren und der Imagination des Zuschauers einen freieren Lauf zu lassen. Die Auseinandersetzung mit den Synchronisierungsverfahren, die Aufschluss über das Verhältnis von Stimme und Bild geben, ist im dritten Themenblock vorgesehen. Hier wird vor allem festzustellen sein, inwiefern die Bedeutungen von visuellen Bildträgern (die an sich polysemisch sind) durch die Einschaltung von bestimmten Stimmkomponenten modifiziert bzw. gesteigert werden können. Welche kommunikativen Wirkungseffekte ermöglichen die Montage von Stimme mit aufgenommenen Geräuschen oder speziellen Soundeffekten, die in theatralischen und filmischen sound-designs sowie in Video-games angewandt werden? Wie sollen Stimme und Bild miteinander montiert werden, damit der Eindruck der Authentizität des Dargestellten gesteigert bzw. unterdrückt wird?

Nationale audio- und audiovisuelle Stimmkulturen
Den vierten Themenblock bildet die Auseinandersetzung mit Stimmstereotypen, die im Rahmen von nationalen Radio- und Filmkulturen entstanden sind. Diese Auseinandersetzung erscheint vor dem Hintergrund der zunehmenden Unifizierung relevant, denen internationale Formate von Stimmübertragung heute unterzogen werden. Nationale Stimmstereotypen, die sich in den letzten hundert Jahren unter dem Einfluss von Audiomedien herausgebildet haben, werden infolge der Unifizierung im Film bzw. im Radio immer weniger explizit zur Schau gestellt. Vielmehr verlagern sie sich ins Innere, in die inkorporierten Deutungsmuster der Akteure, und scheinen dadurch noch lange nicht überwunden zu sein. Aufgrund von öffentlichen Rezeptionen, Nachahmungen und Parodien, deren Thema Medienstimmen war, sind in jeder Kultur Identitätsbilder entstanden, in denen die Konstitution des „nationalen Charakters“ in seiner stimmlichen Verfasstheit berücksichtigt wurde. Dem Problem der Entstehung solcher Identitätsbilder widmet sich der vierte Themenblock. Hier geht es um die Feststellung kultureller Unterschiede, die sich auf die kollektive Stimmdeutung sowie auf die Art der Stimmmediation beziehen und die anhand von Einzelvorträgen zu amerikanischen, deutschen und russischen Theater-, Rundfunk- und Filmstimmen dingfest gemacht werden sollen.

Die Materialien des Projekts sollen im Band „Elektrifizierte Stimmen“ publiziert werden.