Internationales Netzwerk zur vergleichenden Erforschung des Bolschewismus und des Nationalsozialismus

Internationales Netzwerk zur vergleichenden Erforschung des Bolschewismus und des Nationalsozialismus

Projektträger
Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropastudien (ZIMOS) ()
Ausrichter
Ort des Projektträgers
Eichstätt
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.01.2006 -
Von
Rybakov, Alexei

Das 20. Jahrhundert, das mit einem weltweiten Siegeszug der liberal-demokratischen Systeme endete, hatte mit einer außerordentlich tiefen Identitätskrise des Liberalismus und des Parlamentarismus, mit einer Revolte gegen pluralistisch verfaßte Gesellschaften und die von ihnen vertretenen Werte begonnen. Diese Revolte, die in ihrer Radikalität alle früheren Auflehnungen dieser Art übertraf, hatte den Charakter einer Doppelrevolution. Denn die Zerstörer der Grundlagen, auf denen die europäische Kultur basierte, verwickelten ihre Verteidiger in einen Zweifrontenkrieg. Sie wurde sowohl im Namen der Gleichheit, der sozialen Gerechtigkeit und der internationalen Solidarität wie auch im Namen des hierarchischelitären Prinzips, des unversöhnlichen nationalen Egoismus und des Rassegedankens angegriffen.

Warum fanden diese beiden zivilisationsfeindlichen Strömungen ausgerechnet in Rußland und in Deutschland ihre radikalste Ausprägung? Warum war der Widerstand der beiden Kulturnationen gegen den Weg in den Abgrund so zaghaft und so ineffektiv? Diese Fragen lassen sich trotz einer seit Jahrzehnten geführten äußerst intensiven Forschungsarbeit nicht eindeutig beantworten. Helmuth Plessner erklärt diese Entwicklung zumindest in bezug auf Deutschland unter anderem dadurch, daß es das 17. Jahrhundert „versäumt“ habe, das Jahrhundert also, in dem sich der Siegeszug der Aufklärung und des politischen Humanismus anbahnte. Nicht zuletzt dieses „versäumte“ Jahrhundert habe Deutschland in eine „verspätete Nation“, in einen ewigen Widersacher des Westens und der ihn prägenden Ideen verwandelt.

Während Deutschland „nur“ das 17. Jahrhundert „versäumte“, „versäumte“ Rußland das gesamte Mittelalter und die Frühe Neuzeit. Denn dies war die Zeit, in der sich Rußland nach ganz anderen Kriterien als der Westen entwickelte, in der es vom Abendland durch eine unsichtbare geistige Wand getrennt war. Erst die petrinischen Reformen zu Beginn des 18. Jahrhunderts begannen diese Kluft zwischen Ost und West zu überwinden. Sie riefen aber zugleich eine beispiellose Identitätskrise in Rußland hervor, die praktisch bis heute andauert. Die seit Jahrhunderten beinahe ununterbrochen geführte Kontroverse zwischen „Westlern“ und „Slavophilen“ ist ein klares Indiz hierfür.

Lassen sich Auschwitz und der Archipel Gulag darauf zurückführen, daß die für das Abendland konstitutiven Werte von Deutschland und von Rußland nicht tief genug verinnerlicht worden waren? Darauf, daß die westlichen Ideen als zum Teil fremd und sogar „zersetzend“ empfunden wurden? Handelt es sich bei Deutschland und Rußland in der Tat um „verspätete Nationen“ und bei ihrem geschichtlichen Weg um einen „Sonderweg“? Oder vielleicht haben die Kritiker dieser Theorie Recht, die meinen, daß die Geschichte kein Bahnhof sei, den man zu früh, zu spät oder rechtzeitig erreichen könne? Auch der Begriff „Sonderweg“ wird von vielen Analytikern in Frage gestellt. Sie gehen davon aus, daß jede Nationalgeschichte bestimmte Besonderheiten aufweise und entdecken auch bei den Staaten, deren geschichtliche Entwicklung als eine Art „Norm“ gilt, erhebliche Abweichungen von den angeblich normativen Kriterien. So wartet die Frage nach den Ursachen für die Entstehung der radikalsten Formen des Totalitarismus linker bzw. rechter Provenienz in Rußland und in Deutschland immer noch auf eine adäquate Antwort. Und erst seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime im europäischen Osten läßt sich diese Frage erschöpfend beantworten. Erst jetzt ist eine vergleichende Analyse der totalitären Regime rechter und linker Prägung auf einer ähnlich breiten dokumentarischen Basis möglich. Nicht zuletzt deshalb wird der Diktaturenvergleich von manchen Stiftungen und Einrichtungen als ein vorrangiges Desiderat der Forschung angesehen (Volkswagen-Stiftung, Hannah-Arendt-Institut in Dresden, Forschungsprojekt „Politische Religionen“ von Hans Maier u.a.). Die Verwirklichung dieses Vorhaben stößt aber auf außergewöhnliche Schwierigkeiten, die nicht zuletzt darauf zurückzuführen sind, daß Faschismus- und Kommunismusforschung sich etwa seit dem Beginn der 1960er Jahre - seit der Verdrängung der Totalitarismus-Theorie an die Peripherie des wissenschaftlichen Interesses - weitgehend unabhängig voneinander entwickelten. Auf den äußerst aufschlußreichen komparativen Ansatz, den die Totalitarismus-Theorie ungeachtet all ihrer Defizite zu entwickeln vermocht hatte, wurde bei der Analyse der modernen Diktaturen immer seltener zurückgegriffen. Manche Fehldeutungen des „deutschen Historikerstreits“ von 1986-88 oder der Kontroverse um das 1997 in Paris erschienene „Schwarzbuch des Kommunismus“ sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß Faschismus- und Kommunismusforschung wenig Berührungspunkte miteinander haben. Andererseits kann nur eine auf breiter dokumentarischer Basis durchgeführte vergleichende Analyse der totalitären Regime rechter und linker Prägung dazu verhelfen, das Wesen dieser Phänomene, die das 20. Jahrhundert entscheidend beeinflußten, gründlicher zu verstehen, das Besondere vom Typischen zu unterscheiden und pauschale Verallgemeinerungen zu vermeiden.

Einer solchen Analyse der modernen totalitären Diktaturen, aber auch ihrer Genese in früheren geschichtlichen Epochen soll sich das vom ZIMOS geplante „Internationale Netzwerk zu vergleichenden Erforschung des Bolschewismus und des Nationalsozialismus“ widmen.

Folgende laufende bzw. geplante Projekte sollen in das Netzwerk einbezogen werden:

1. Zur politisch-ideologischen Genese und Entwicklung des Bolschewismus und des Nationalsozialismus (Leonid Luks, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt)

2. Endkampf und Endzustand. Chiliastische Elemente in der stalinistischen und der nationalsozialistischen Ideologie und Ästhetik (Alexei Rybakov, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt)

3. Fedor Stepuns Analyse des Bolschewismus und des Nationalsozialismus (Vladimir Kantor, Institut für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau)

4. Die Rolle des Militärs im stalinistischen und im nationalsozialistischen Regime (Gytis Gudaitis, Vilnius/Eichstätt)

5. Der antitotalitäre Widerstand - das Dritte Reich und die stalinistische Sowjetunion im Vergleich (Aleksandr Vatlin, Moskauer Staatsuniversität- MGU)

6. Sowjetische Kriegsgefangene im Dritten Reich und deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion – ein Vergleich (Boris Chavkin, Moskau – Mitherausgeber der Zeitschrift „Nowaja i Nowejschaja Istorija“)

7. Zwischen Machtkalkül und Ideologie – zur Doppelgleisigkeit der sowjetischen und der nationalsozialistischen Außenpolitik (Karsten Ruppert, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt und Leonid Luks)

8. Die nationalsozialistische und die stalinistische Kriegswirtschaft (Frank Zschaler, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt und N.N. - dieses Projekt befindet sich in der Planungsphase)

9. Die Ideologie der postsowjetischen KPRF in historischer und vergleichender Perspektive (Andreas Umland, Jena / Kiev)

10. Politische Justitz unter Lenin, Stalin und Hitler. Vergleichende Untersuchungen zur Herrschafts- und Rechtspraxis in der Sowjetunion und im Dritten Reich (Jürgen Zarusky, Institut für Zeitgeschichte, München)

Das Netzwerk ist auch für andere Projekte, die sich mit der vergleichenden Erforschung der totalitären Diktaturen rechter und linker Prägung befassen, offen.

Im Rahmen des Netzwerks sollen regelmäßig Tagungen, Lehrveranstaltungen und Workshops stattfinden, um eine bessere Vernetzung einzelner Teilprojekte und einen kontinuierlichen Meinungsaustausch zu ermöglichen. Eine Kooperation mit anderen Einrichtungen, die sich mit der Erforschung des Kommunismus und des Nationalsozialismus befassen, ist ebenfalls geplant.

Das Netzwerk hat einen mehrsprachigen Charakter. Hier werden Texte in deutscher, russischer und englischer Sprache veröffentlicht.

(Leonid Luks)

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Deutsch
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